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schen Anschauung auf einer „Affektion" unserer Sinne beruhen und daß Dinge an sich die hervorbringende Ursache dieser Affektion sind. Damit werden die beiden Sinne zu Aufnahmsorganen für auf sie einwirkende Reize, was in der Begriffsbestimmung der Sinnlichkeit als einer „Rezeptivität" zum Ausdrucke gelangt. Immerhin besteht hier zwischen äußerem und innerem Sinn ein bemerkenswerter Unterschied. Beim inneren Sinn wissen wir, daß das „Gemüt“ es ist, das sich selbst affiziert. Soweit Kants wenig durchgebildete Theorie des inneren Sinnes eine sichere Auslegung gestattet, sind es hier die Spontaneität unseres Denkens und Wollens und die emotionalen Seelenvorgänge, welche sich auf dem Umwege durch den inneren Sinn zu einer Art Selbstanschauung gestalten 78. Es setzt das allerdings voraus, daß wir uns hier des Affizierenden auch noch auf andere, unmittelbarere Weise bewußt werden, also durch ein nicht vorstellungsmäßiges Erleben, andernfalls jede Aussage darüber unmöglich sein würde, Beim inneren Sinn ist also das Affizierende zwar vielleicht seinem Wesen nach unerkennbar, aber doch von vornherein nicht unbekannt. Anders liegt die Sache beim äußeren Sinn. Wenn hier die Frage nach der Herkunft der Empfindungen oder vielmehr der sie hervorrufenden Reize aufgeworfen wird, so kann die Antwort nur lauten, daß sie „anders woher" stammen müssen, da wir uns hier im Gegensatz zum inneren Sinn des Affizierenden nicht unmittelbar bewußt sind. Wenn Kant dann weiterhin diesem „,anderswoher" eine Affektion durch Dinge an sich unterlegt, so ist auch damit, wenn an deren Unerkennbarkeit festgehalten wird, im Grunde nicht mehr gesagt, als daß eben die Ursache der Affektion selbst unerkannt bleibt. Immerhin ist damit die Existenz von Dingen an sich, also eines unerkennbaren Etwas hinter den Erscheinungen vorausgesetzt 79. Da eine solche Affektion durch Dinge an sich niemals ins Bewußtsein fallen kann, so muß sie eine transzendentale Affektion sein und das will, richtig (auch terminologisch richtig) verstanden, nichts anderes heißen, als daß sie eine Konstruktion der Transzendentalphilosophie ist, um sich die ursprünglich und schlechthin a posteriori gegebene Komponente der empirischen Anschauung irgendwie verständlich zu machen. Zu diesem transzendentalen Aposteriori wären auch die Besonderheiten räumlicher und zeitlicher Gestaltung zu rechnen gewesen (worüber sich Kant nicht ausspricht),

welche in den apriorischen Anschauungsformen als solchen keine Erklärung finden. Aber auch der äußere und innere Sinn sind nur eine solche Konstruktion und nicht minder auch die noch ungeformten Empfindungen, mit welchen sie auf jene Einwirkung reagieren. Empfindungen ohne jede räumliche und zeitliche Bestimmtheit tragen, vom Standpunkte des Bewußtseins gesehen, durchaus den Charakter von Fiktionen. Sie lassen sich auch nicht in Raum und Zeit lokalisieren. Sie dürfen daher keinesfalls mit den psycho-physiologischen Empfindungen (einfachsten Wahrnehmungen) gleichgesetzt werden. Die letzteren sind an die Funktion von Sinnesorganen gebunden, die selbst schon Erscheinungen sind und daher ihrerseits bereits die transzendentale Affektion voraussetzen. Die letzte Grundlage aller Erfahrung kann nicht selbst wieder durch Erfahrung gegeben sein. Jene transzendentale Konstruktion ergibt somit folgendes Bild: Ein unbekanntes X (Ding an sich) affiziert die rezeptive Seite eines ebenso unbekannten Y (Ich an sich), und dieses antwortet darauf mit den (transzendentalen) Empfindungen, die ihm aber nur nach ihrer bereits vollzogenen Formung in Raum und Zeit als empirische Anschauungen zum Bewußtsein kommen; außerdem erleidet das Ich an sich auch durch seine eigenen Tätigkeiten und Zustände eine solche Affektion und gestaltet daraus seine Selbstanschauung, die ihm in der Form einer unaufhörlichen Sukzession innerer Wahrnehmungen bewußt wird. Das Ganze ist natürlich nicht als ein zeitlicher Prozeß mit einem Früher und Später zu denken, sondern als schematische Darstellung eines zeitlosen Verhältnisses, das wir, an die Zeitform alles Vorstellens gebunden, eben nicht anders als metaphorisch auszudrücken vermögen. Daneben hat Kant gelegentlich auch eine empirische Affektion gelehrt, die aber mit der transzendentalen nicht vermengt werden darf. Sie ist ein intraphänomenaler Vorgang, der sich zwischen unserem Leibe und anderen Körpern abspielt und nicht in die Transzendentalphilosophie, sondern in die Anthropologie gehört, wo Kant auch am ausführlichsten davon handelt 80. Zu ganz eindeutigen Bestimmungen ist übrigens Kant hier nirgends vorgedrungen, so daß gerade die Lehre von der „Affektion" zu einem Hauptangriffspunkt seiner ersten Gegner werden konnte.

Die in ihr bemerkbare Unausgeglichenheit der Gesichtspunkte tritt auch deutlich zutage, wenn die Frage nach dem

Verhältnis von Ding an sich und Erscheinung aufgeworfen wird. Der Unfaßbarkeit jeder nicht-sinnlichen Existenz entsprechend, könnte das Reich der Dinge an sich (mundus intelligibilis) dem Reich der Erscheinungen (mundus phaenomenon) nur ganz allgemein und unter Enthaltung von jeder positiven oder negativen Aussage über ihr gegenseitiges Verhältnis entgegengesetzt werden 81. Im Zusammenhang mit der Lehre von der transzendentalen Affektion werden aber die Dinge an sich aus einem unbestimmbaren metaphysischen Hintergrunde der Erscheinungswelt überhaupt zu ihrer hervorbringenden Ursache und so mittelbar zu einem übersinnlichen Substrat jeder einzelnen Erscheinung, so daß jeder solchen auch ein Ding an sich entspricht, das in ihr ,,erscheint". In diesem Sinne konnte Kant geradezu das,, Objekt an sich selbst" als eine (nämlich als die von uns abgekehrte) „Seite" an der Erscheinung bezeichnen 82. Sofern wir also die Erscheinungen erkennen, erkennen wir gewissermaßen in ihnen und durch sie auch die ihnen zugrunde liegenden Dinge an sich, wenngleich nicht in ihrer wahren Gestalt, sondern nur in der Art, wie sie auf uns wirken. Das „,transzendentale" (richtiger: transzendente) Objekt wird so zu einem Gegenstande mittelbarer Erkenntnis und spielt als solcher auch in der Erfahrungstheorie nicht zum Vorteile der Deutlichkeit - eine gewisse Rolle.

Kant hat wiederholt versucht, seinen transzendentalen oder, wie er ihn später lieber genannt wissen wollte, „kritischen“ Idealismus gegen verwandte Standpunkte abzugrenzen. Kant war der (nur ungenau zutreffenden) Meinung, das Wesen des ,,echten" Idealismus bestünde darin, die Körperwelt in bloßen Schein zu verwandeln und alle Wahrheit nur in die Ideen der reinen Vernunft zu setzen. Dieses Bild des Idealismus, das sich ihm aus Zügen von Platon, Descartes, Berkeley und Leibniz zusammensetzte, ließ ihn befürchten, es möchte infolge der Gemeinsamkeit des Namens auch auf seine Lehre etwas von einer illusionistischen Herabwürdigung der empirischen Erkenntnis überstrahlen. Der Aufklärung über diesen Punkt hat Kant nicht nur eine mehrfache,,Widerlegung des Idealismus" gewidmet, sondern er hat auch, gereizt durch die ungeschickte Bemerkung eines Beurteilers, seine Lehre sei eine Art,,höherer" Idealismus, deren idealistischen Charakter in der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" mehr in den Hintergrund treten lassen. Die nachgelassenen Notizen

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zeigen allerdings, daß Kant späterhin vielleicht schon unter dem Einflusse Fichtes - wieder zu einer sehr radikal idealistischen Auffassung zurückgekehrt ist 83. Das gemeinsame Ziel der „Widerlegungen" ist der Nachweis, daß der kritische Idealismus die Realität der Körperwelt nicht aufhebt, sondern begründet. So nachdrücklich Kant hier seinen Standpunkt zu behaupten sucht, so wenig scharf und glücklich ist die Formulierung der Beweisgründe. Sie lassen sich, soweit sie das Beweisziel nicht gänzlich aus den Augen verlieren, auf zwei zurückführen: 1. Der echte Idealismus behauptet die Priorität der inneren vor der äußeren Erfahrung, die Transzendentalphilosophie hingegen ihre erkenntnistheoretische Parität: die äußeren Erscheinungen sind nicht minder unmittelbar gegeben wie die inneren und brauchen daher so wenig erschlossen zu werden wie diese. 2. Die Kritik anerkennt Dinge an sich, welche den äußeren Erscheinungen zugrunde liegen, und unterscheidet sie dadurch von bloßem Schein. Beides ist richtig, trifft aber nicht den Kernpunkt des Unterschiedes. Das erste beweist zu wenig, insofern auch nach Kant die äußeren Erscheinungen dem inneren Sinn zugeordnet sind und erst durch Denkprozesse von ihm losgelöst werden müssen; das zweite beweist zu viel, insofern Dinge an sich ganz außerhalb unseres Erfahrungskreises liegen, während es sich hier doch um die empirische Körperwelt handelt. Dasjenige, was Kant eigentlich meint, aber vergebens klar auszudrücken sich bemüht, ist, daß nach dem bisherigen Idealismus der Raum unserer Erfahrung ein bloß imaginärer Raum ist und daher die in ihm vorgestellten Körper auch eine bloß imaginäre Ausgedehntheit besitzen, während nach ihm kein Unterschied zwischen Vorstellungsraum und realem Raum besteht, daher die „Vorstellungen" äußerer Dinge auch selbst real ausgedehnt sind und mit den physischen Körpern zusammenfallen. Die Idealität des Raumes gestattet so, gewissen,,Vorstellungen" reale Körperhaftigkeit zuzuschreiben, während die Voraussetzung seiner transzendenten Realität dies verbietet und die „Körper" unserer Erfahrung zu „bloßen" Vorstellungen verflüchtigt. Kants Lehre ist so durch die Idealisierung auch der Ausdehnung in der Tat idealistischer als die aller seiner Vorgänger. Dafür ist sie aber nicht ein subjektiver, sondern ein objektiver Idealismus, insofern sie die äußeren Erscheinungen aus der raumlosen Enge seelischer Innerlichkeit befreit

und dem empirischen Ich als selbständige Realität gegenüberstellt. Das empirische Ich, das selbst nur Erscheinung ist, wäre eben gar nicht geeignet, als „Träger" der Raumwelt zu dienen, wie dies der subjektive Idealismus behauptet. Die letzte Charakteristik des Kantischen Idealismus läßt sich auch so aussprechen, daß Kant den Gegensatz des Physischen und Psychischen in das Bewußtsein verlegt, innerhalb seiner aber strenge aufrecht erhält. Dadurch erhält er die Möglichkeit, eine Realität ohne Transzendenz zu begründen: was vom Standpunkte der Transzendentalphilosophie,,ideal" heißen muß, kann für den empirischen Menschen, der selbst nur ein Glied der Erscheinungswelt ist, objektive Wirklichkeit bedeuten. Das Ich und seine Umwelt sind beide gleich real und gleich ideal: jenes vom Standpunkte des empirischen Bewußtseins, dieses vom Standpunkte der Transzendentalphilosophie. Der kritische Idealismus macht es so auch begreiflich, daß jeder seine Umwelt als real und von sich verschieden erlebt und an diese ihre Wirklichkeit unentwegt glaubt, ohne sich durch den philosophischen Phänomenalismus, mögen seine Beweise noch so unwiderleglich sein, darin stören zu lassen. Sie ist eben für ihn real, und wenn man ihre Phänomenalität behauptet, muß man sie für seine eigene Existenz mitbehaupten. Für die immanente Realitätsbewertung von seiten des empirischen Ichs ändert sich damit die Sachlage nicht.

V. DIE THEORIE DER ERFAHRUNG

1. DIE ERFAHRUNG ALS PROBLEM

Das Problem der Erfahrung entspringt aus dem transzendentalen Idealismus. Ihm zufolge haben wir es immer und überall nur mit Erscheinungen zu tun; diese Erscheinungswelt im Raume steht aber dem erkennenden Geiste in der Form empirischer Anschauungen doch wieder als reale Gegebenheit gegenüber, die sich weiterhin auch in hohem Maße einer theoretischen und praktischen Beherrschung fähig erweist. Der empirische Realismus beschreibt damit nur eine Tatsache des Bewußtseins. Diese Tatsache ist aber keineswegs selbstverständlich. Denn eben dieselben Erfahrungsbestandteile, welche sich gleichsam vor unseren Augen zu einem festgefügten, auch wissenschaftlicher Erkenntnis zugäng

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