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ihrem Wesen nach jemals enthalten kann? Oder anders ausgedrückt: Wie sind Aussagen möglich, die für alle Erfahrung gelten sollen und doch nicht allein aus Erfahrung entspringen können, auch durch keine noch so weit getriebene Erfahrung jemals bewiesen werden können? Daß in Mathematik und reiner Naturwissenschaft Erkenntnisse dieser Art „wirklich" seien, stand für Kant wohl von vornherein fest. Sie aus dem skeptischen Strudel zu retten, der mit der Metaphysik jede apriorische Wissenschaft überhaupt zu verschlingen drohte, ist seine unverkennbare Absicht. Gleichwohl kann man nicht sagen, daß ihr Bestand nun etwa den Stützpunkt und letzten Beweisgrund der Transzendentalphilosophie abgegeben hätte. Denn nicht nur, daß ein wichtiger Teil dieser Art Urteile die metaphysischen - in ihrer Möglichkeit verneint werden, empfangen auch die anderen eine von der gewöhnlichen Auffassung wesentlich abweichende Deutung und erkenntnistheoretische Wertung. Auch sie stehen daher in ihrer Geltung zunächst in Frage und haben ihre Bestätigung erst aus dem Ergebnisse der kritischen Untersuchung zu erwarten, zuletzt von der Analyse der Erfahrung. Eben das Zusammentreffen eines ganz oder bis zu gewissem Grade selbständig arbeitenden Denkens mit der empirischen Wirklichkeit dieses Zusammenstimmen von Vernunft und Erfahrung, das weder Rationalismus noch Empirismus bisher zu erklären vermochten, bildet das eigentlich transzendentalphilosophische Problem, für das die Frage der synthetischen Ürteile a priori nur die Eingangspforte darstellt44.

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Die,,Kritik der reinen Vernunft" zerfällt (wie alle kritischen Hauptwerke) in eine Elementar- und eine Methodenlehre, welch letztere nach Inhalt und Umfang nur als ein Anhang zu jener sich darstellt. Die Elementarlehre gliedert sich wieder in die transzendentale Ästhetik und in die transzendentale Logik. Erstere enthält (hier noch der Wortbedeutung nach) die Lehre von der sinnlichen Anschauung, von Raum und Zeit und die Grundlegung des transzendentalen Idealismus. Die Logik zerfällt wieder in die transzendentale Analytik, welche die Begründung möglichen Wissens, und in die transzendentale Dialektik, welche die Zerstörung des metaphysischen Scheinwissens enthält. Jene ist (in z. T. recht künstlicher Weise) mit den formal-logischen Lehren vom Begriff und Urteil, diese mit der von den Schlüssen in Verbindung gebracht. Die nachfolgende Darstellung bindet sich im einzelnen nicht an die Kantische Systematik.

IV. DER TRANSZENDENTALE IDEALISMUS

1. DIE EMPIRISCHE ANSCHAUUNG

,,Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel." Jedes Erkennen das wollen diese Anfangsworte der Kritik der reinen Vernunft besagen setzt voraus, daß etwas gegeben sei, das erkannt werden soll. ,,Gegeben" wird uns aber ein Erkenntnisgegenstand nur in jener passiven oder rezeptiven Art und Weise, die wir eben im weitesten Sinne des Wortes „Erfahrung" nennen: „Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an." Diese Erfahrung, die am Anfange alles Erkennens steht, ohne selbst schon Erkenntnis zu sein, ist die rein sinnliche Erfahrung oder die Abfolge empirischer Anschauungen im individuellen Bewußtsein. Unter empirischer Anschauung ist hier jede räumlich und zeitlich ausgebreitete Empfindungsmannigfaltigkeit zu verstehen und zwar unter vorläufiger Ausschaltung alles dessen, was sich etwa unvermerkt an Denkbestimmungen in sie einmengen möchte. Es handelt sich also hier schon bis zu einem gewissen Grade um eine erkenntnistheoretische Abstraktion: nicht um das tatsächlich Vorgefundene, sondern um das rein und bloß Vorfindbare nach Abzug alles vom erkennenden Geiste Hineingelegten. Die empirische Anschauung oder sinnliche „Erscheinung" bildet den Stoff für das formende, verknüpfende und trennende Denken. Die weiter vordringende Analyse läßt aber an der empirischen Anschauung selbst wieder ein materiales und formales Element unterscheiden: die qualitativen Empfindungsinhalte und die räumlich-zeitlichen Relationen, in denen sie auftreten. Das Unterscheidungsmerkmal ist die relative Konstanz des formalen gegenüber dem materialen Faktor. Die Sinnesempfindungen wechseln, ihre Ordnungsformen und deren Gesetzmäßigkeiten bleiben. Die Änderung der ersteren ändert nichts an diesen; ein Kreis z. B. wird dadurch kein anderer, daß er einmal grün und einmal gelb gefärbt ist, wohl aber ändert sich die Zahl und Anordnung der Farbpunkte, wenn an die Stelle des Kreises ein Quadrat tritt. Es ist auch ganz gut möglich, Raum und Zeit gleichsam auszufegen, d. h. alle Gegenstände aus dem Raume und alle Geschehnisse aus der Zeit wegzudenken; als unmöglich aber erweist es sich, sinnliche Qualitäten ohne räumliche und zeitliche Bestimmungen vorzustellen. In dieser Weise hatte schon

die Dissertation von 1770 Raum und Zeit als die Formen der sinnlichen Erfahrung von den Empfindungsqualitäten als deren Stoff unterschieden.

Es ist aber hier ein bemerkenswerter Unterschied festzustellen. Alles, dessen wir uns überhaupt bewußt werden, werden wir uns sukzessiv, also in der Zeit bewußt, mag es sich dabei um Sinnesempfindungen handeln oder um Selbstwahrnehmungen der Zustände und Tätigkeiten unserer Seele. Aber während Jenen außerdem das Merkmal der Ausgedehntheit anhaftet, ist den letzteren eine räumliche Beziehung an und für sich fremd. Alle Empfindungen ordnen sich somit in der Zeit, aber nicht alle im Raume. Darauf beruht die Unterscheidung eines äußeren und inneren Sinnes, welche in Lockes Unterscheidung von ,,sensation“ und „reflection" ihr geschichtliches Vorbild besitzt. Sieht man von der Herkunft des stofflichen Faktors einstweilen ab, so ergibt sich die Auffassung der Sinnlichkeit als eine zweifache Art sinnlicher Anschauungsweise, je nachdem diese nur an die Form der Zeit oder außerdem an jene des Raumes gebunden ist. Auf dem äußeren Sinn beruht die sinnliche Vorstellung der empirischen Außenwelt, auf dem inneren Sinn die unserer empirischen Innenwelt. Da aber alle Vorstellungen als solche unserem empirischen Selbstbewußtsein zugeordnet sind, überträgt sich dessen Form auch auf die empirischen Anschauungen der räumlichen Umwelt, welche uns so gleichfalls nur in zeitlicher Folge zu Bewußtsein kommen. Der Raum ist so die Form des äußeren Sinnes, die Zeit unmittelbar die Form des inneren und mittelbar auch die des äußeren Sinnes45

2. RAUM UND ZEIT

So wie die Unterscheidung von „Stoff" und-,,Form" zuletzt auf Aristoteles zurückweist, hat sie auch mit dessen Lehre gemeinsam, daß sie nur eine ideelle Trennung beider bei realer Untrennbarkeit behauptet. Nur in erkenntnistheoretischer Abstraktion lassen sich beide strenge auseinanderhalten; aber weder sind uns jemals raum- und zeitlose Empfindungen wirklich gegeben, noch sind Raum und Zeit ohne jede Erfüllung (und wäre es etwa beim Raume nur die einer ganz neutralen Färbung) tatsächlich vorstellbar. Das für die Reflexion Gegebene ist und bleibt die gegenseitige Durchdringung beider in der empirischen Anschauung. Setzt man aber deren

Zerlegung in Gedanken fort, und nennt man dasjenige, „was von allem Fremdartigen abgesondert ist", in seiner Art,,rein46", so ergeben sich auf der einen Seite die reinen Empfindungen, also eine noch ungeformte Mannigfaltigkeit sinnlicher Qualitäten, und auf der anderen Seite die reinen Formen: Raum und Zeit. Auf Grund eines solchen Abstraktionsprozesses entsteht so die Vorstellung des leeren, einigen, homogenen und unendlichen Raumes und einer ebensolchen Zeit: eines Raumes, in dem nichts mehr ist, und einer Zeit, in der nichts geschieht; welche sich in allen ihren Teilen unterschiedslos gleichen, und denen keine Grenze gesetzt werden kann, weil diese ja selbst wieder nur in Raum und Zeit bestimmbar sein würde. Raum und Zeit in diesem Sinne sind nicht geben, sondern werden nur gedacht und müssen daher insofern,,Begriffe" heißen. Es könnte so der Anschein entstehen, als wären Raum und Zeit überhaupt nichts anderes als Kunstprodukte der Abstraktion; logische Gattungsbegriffe also, auf empirischer Grundlage dadurch gebildet, daß das Denken gewisse Gemeinsamkeiten der empirischen Anschauungen zusammenfaßt. Dem widerspricht aber eine einfache Überlegung, welche zeigt, daß Raum und Zeit weder sinnlichen Ursprungs sein können noch die Struktur logischer Begriffe aufweisen. Kant nennt diese Überlegung die (im neuen Sinne des Wortes) ,,metaphysische Erörterung" dieser Begriffe.

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Raum und Zeit beruhen ihrem Ursprunge nach nicht auf Empfindung. Die naheliegende Vermutung, daß die Erscheinungen selbst durch ihr Nebeneinander den Raum und durch ihr Nacheinander die Zeit hervorbrächten, widerlegt sich durch die Erwägung, daß die Empfindungen an und für sich rein qualitative Bewußtseinsvorgänge sind, welche sich vermöge ihrer eigenen Natur höchstens in einer intensiv abgestuften Reihe zu ordnen vermöchten. Ihre räumliche und zeitliche Ordnung ist etwas, das zu ihnen hinzukommt, ohne in ihrem Wesen enthalten zu sein. Sie setzt die Ordnungsformen Raum und Zeit bereits voraus und wäre ohne sie gar nicht möglich. Die letzteren können daher auch nicht aus ihr entspringen, sondern gehen ihr dem erkenntnistheoretischen Range nach voraus. Es ist eben kein Nebeneinander denkbar als im Raume und kein Nacheinander als in der Zeit; daher lassen sich Raum und Zeit auch nicht aus den Verhältnissen der Wahrnehmung ableiten, welche selbst erst durch sie geschaffen werden. Es zeigt sich dies auch darin, daß man zwar alle Erscheinungen

aus dem Raume und der Zeit fortdenken kann, diese selbst aber damit nicht aufgehoben, ja durch diese Ausleerung in ihrem Wesen gar nicht berührt werden17. Raum und Zeit gehen also in erkenntnistheoretischem Sinne der sinnlichen Erfahrung voraus; sie sind von ihr unabhängig oder a priori, mögen wir ihre Vorstellung in psychologischem Sinne auch nur durch Zerlegung der empirischen Anschauung gewonnen haben.

Wenn so Raum und Zeit sich von sinnlichen Wahrnehmungen deutlich unterscheiden und insofern begrifflichen Charakter aufweisen, so sind sie doch auch wieder nicht Begriffe logischer Art. Zu deren Wesen gehört es ja, daß sie einen Umfang besitzen, indem sie viele einzelne Exemplare unter sich fassen. Einzelne Räume und Zeiten sind aber immer nur Einschränkungen des einzigen unendlichen Raumes und der einzigen unendlichen Zeit. Eine Vorstellung aber, der nur ein einziges Objekt entspricht, ist eben kein Gattungsbegriff, sondern eine Anschauung. Dazu kommt, daß das Verhältnis der einzelnen Räume und Zeiten zum Raum und zur Zeit überhaupt ein ganz anderes ist als bei Begriffen. Die einzelnen Räume und Zeiten sind realiter Teile des einen Raumes und der einen Zeit. Nun ist zwar auch jeder Begriff in einer Menge von Einzelvorstellungen enthalten, aber doch nur in logischem Sinne, nämlich als ihr gemeinsames Merkmal; niemals ist aber bei Begriffen die Sache so, daß die einzelnen Vorstellungen, die in seinen Umfang fallen, seine realen Teile sein würden. Allen menschlichen Individuen sind gewisse Eigenschaften gemeinsam, die im Begriffe ,,Menschheit" vereinigt gedacht werden; die einzelnen Menschen sind aber deshalb nicht Bestandteile dieses Begriffes in der Art, wie jeder beliebig groß vorgestellte Raum doch wieder nur ein Ausschnitt des allgemeinen Raumes ist. Wären Raum und Zeit Begriffe, so müßten sich auch überdies ihr Wesen und ihre Unterschiedenheiten durch andere Begriffe deutlich machen, d. h. definieren lassen. Vergeblich würden wir aber versuchen, so geläufige Tatsachen, wie daß der rechte Handschuh nicht auf die linke Hand paßt, durch Definitionen festzulegen, während der einfachste Hinweis auf die Anschauung zu ihrer Verdeutlichung genügt. Dieser Hinweis auf mangelnde Kongruenz krummer Flächen trotz bestehender Symmetrie hatte schon früher Kants Interesse gefesselt und wird jetzt zu einem Hilfsbeweis für die anschauliche Natur

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