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fremde Begriffe zu verbinden; der Verstand bedarf vielmehr eines realen Grundes, auf den er seine Synthese zu stützen vermag. Bei den Erfahrungsurteilen hat es damit scheinbar keine Schwierigkeit: jede neue Erfahrung bereichert eben unseren Vorstellungskreis und bedingt damit eine Erweiterung unseres Wissens. Alle Urteile a posteriori sind daher synthetischer Natur. An logischer Qualität stehen sie aber hinter den analytischen Urteilen zurück: sie erweitern unsere Erkenntnis zwar, ermangeln aber der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, welche nur den apriorischen Urteilen eignet. Die analytischen Urteile wieder gelten zwar a priori, bringen uns in der Erkenntnis aber nicht weiter. Volle Befriedigung unseres Erkenntniswillens würden nur Urteile gewähren, welche beides in sich vereinten: die also synthetisch und zugleich a priori wären. Gibt es solche synthetische Urteile a priori?

In der Tat erheben drei Gruppen von Urteilen diesen Anspruch. Die mathematischen Urteile sind durchwegs synthetisch und a priori. Das letztere beweist ihre Apodiktizität, welche niemals aus Erfahrung entspringen könnte. Daß sie synthetisch seien, widerspricht zwar weit verbreiteten Ansichten, steht aber für Kant schon seit 1763 fest: die Lehrsätze der Mathematik lassen sich nicht restlos aus Definitionen ableiten, sondern bedürfen der Konstruktion in der Anschauung. Der Satz 7+5=12 ist synthetisch, weil in der Aufforderung 7+5 zu vereinen, noch nicht ausgesprochen ist, daß sich gerade 12 als Summe ergebe. Bei großen Zahlen wird es, meint Kant, noch deutlicher, daß keine logische Zergliederung des Subjektsbegriffes hinreicht, um uns über das Ergebnis der Summierung zu belehren. Ebenso ist der geometrische Satz, daß die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten sei, synthetischer Art; denn der Begriff der „Geraden“ enthält nur ein qualitatives Merkmal, aber keinerlei Aussage über Länge oder Kürze. Synthetisch und a priori sind ferner die Sätze der reinen Naturwissenschaft, d.s. gewisse allgemeinste Prinzipien der Naturerklärung, welche allen besonderen Untersuchungen zugrunde liegen. So ist der anerkannte Grundsatz aller Forschung:,,Alles, was geschieht, hat eine Ursache" ein synthetisches Urteil. Denn aus dem Subjekt: „Alles, was geschieht" lassen sich zwar gewisse zeitliche Bestimmungen ableiten, z. B. daß etwas in der Zeit vorhergegangen sein müsse u. dergl., nicht aber die spezifisch kausale Beziehung. Derselbe Satz ist zugleich a priori, denn die Erfahrung könnte uns

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niemals belehren, daß schlechthin alles, was geschieht, eine Ursache haben müsse, sondern besten Falles nur, daß alles bisher beobachtete Geschehen eine Ursache gehabt habe. Dasselbe gilt vom Satze über die Beharrlichkeit der Substanz und ähnlichen Grundsätzen der Physik. Hingegen wäre natürlich der Satz: Jede Wirkung hat ihre Ursache", ein analytisches Urteil, weil im Begriffe einer „Wirkung" das kausale Moment schon mitgedacht ist. Endlich sind alle Urteile der Metaphysik zugleich synthetisch und a priori. Sie versprechen ja, unsere Erkenntnis über alles menschliche Maß hinaus zu erweitern und können sich unmöglich auf Erfahrung gründen, da sie ja Aussagen über schlechthin Transzendentes enthalten 38 Gegen diese Einteilung, von der Kant selbst sagt, sie sei in Ansehung der Kritik des menschlichen Verstandes unentbehrlich und verdiene daher in ihr klassisch genannt zu werden, hat man von jeher gewisse Einwände erhoben 39. Der naheliegendste ist jener der Relativität: es wäre doch ganz individuell und insofern zufällig, ob ein bestimmter Urteilssatz analytischen oder synthetischen Charakter trage je nach dem größeren oder geringeren Reichtum an Merkmalen, den der Urteilende im Subjektsbegriff vereint. Diese Relativität ist ohne weiteres zuzugeben, ja Kant selbst macht auf sie aufmerksam 40; denn wurde einmal ein bestimmtes Merkmal synthetisch mit einem Begriffe verbunden, so kann es das nächstemal analytisch von ihm ausgesagt werden. Aber abgesehen davon, daß die Kantische Unterscheidung eben trotz dieser Relativität ihren guten Sinn weiter behält, trifft dieser Einwand gar nicht ihren Kern. Sie ist ja nicht psychologisch, sondern logisch gemeint. Ein analytisches Merkmal eines Begriffes ist jenes, das zu dessen vollständiger, nicht zu enger und nicht zu weiter Definition gehört — zu jenem Minimum an Begriffsinhalt also, ohne das der Subjektsbegriff überhaupt nicht bestehen könnte. Der zweite Einwand geht dahin, daß es synthetische Urteile überhaupt nur der Form nach gebe, daß aber jedes richtige Urteil in Wahrheit ein analytisches, ja identisches sein müsse. Den Satz: 7+5=12, dürfe man doch nur dann aussprechen, wenn man von der Identität des Subjekts und Prädikats schon überzeugt ist; er sei daher tatsächlich ein identisches Urteil, das seiner Form nach nur so gebaut ist, daß es die Zwölf einmal als Summe zweier anderer Größen, das anderemal als ein durch die betreffende Ordnungszahl bestimmtes Glied der einfachen Zahlenreihe enthält. Ebenso sei in dem geometrischen

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Beispiel das Subjekt nicht eine beliebige Gerade, sondern eben schon eine Gerade zwischen zwei Punkten, die eben dadurch schon als die kürzeste bestimmt ist. Auch in dem empirischen Urteil: „Einige Menschen sind schwarz", meine man doch nicht einige beliebige Menschen, sondern eben die Neger; in dem Urteil: „Die Neger sind schwarz", komme aber der analytische Charakter des Ganzen sofort zum Vorschein. Dieser Einwand, der seinem Kerne nach bis auf Hobbes zurückgeht, verwechselt die Form des Aussagesatzes mit der eigentlichen Urteilsfunktion. Der Aussagesatz schafft ja natürlich nicht die fragliche Verbindung der Begriffe, sondern spricht sie nur aus, daher sie schon vorher im Bewußtsein des Sprechenden vollzogen sein muß. Aber eben in der dem Aussprechen des Satzes vorausgehenden Denkoperation liegt die von Kant geforderte Synthese. So wie im Beispiel der „Neger" die eigentliche Synthese bereits in der Beobachtung schwarzer Menschen enthalten ist, so liegt auch im Falle des 7+5=12 die Synthese nicht in der Benennung der Summe mit dem Zahlwort „zwölf“, sondern in dem tatsächlichen Vollzug der Summierung von sieben und fünf beschlossen. Kant faßt die Sache so auf, daß das Subjekt nur die gestellte Aufgabe der Summierung ausdrückt, deren Lösung dann das Prädikat bringt; die Gegner wenden ein, daß man jene Aufgabe schon gelöst haben müsse, bevor man sie in Form eines Urteils ausspricht. Vollzogen muß aber doch die Synthese auf jeden Fall werden und nur darauf kommt es in der Kantischen Unterscheidung an, daß hier überhaupt eine Synthese vorliegt. Gegen Kant läßt sich so allerdings in gewissem Sinne behaupten, daß alle mathematischen „,Urteile" analytisch sind; in Übereinstimmung mit Kant muß aber hinzugefügt werden, daß jede solche Analyse eine ursprüngliche Synthese voraussetzt.

Die scharfe Trennung analytischer und synthetischer Urteile bedeutet letzten Grundes nichts anderes als die abschließende Formel für die Einsicht, daß alle eigentlich so zu nennende Erkenntnis überhaupt synthetischer Natur ist und daher einer kritischen Untersuchung ihres Prinzipes bedarf. Sie bedeutet so vor allem die Absage an allen Ontologismus und zieht damit nur die letzte Folgerung aus Kants philosophischer Entwicklung. Durch die Einsicht in den synthetischen Charakter aller echten Erkenntnis wird der Kritizismus vor eine ganz universelle Aufgabe gestellt: kein einziger Fall wirklicher oder vermeintlicher Erkenntnis ist selbstgewiß; vielmehr bedarf es

überall der Aufdeckung, Untersuchung und Prüfung eines außerhalb der formalen Logik stehenden Prinzipes ihrer Gültigkeit.

4. DIE PROBLEMSTELLUNG IN DER KRITIK DER
REINEN VERNUNFT

Synthetische Urteile mit dem Anspruche auf apriorische Geltung sind also in unserem Erkenntnisbewußtsein der Menschheit zweifellos vorhanden. Mit ihrer Möglichkeit steht und fällt der rationalistische Erkenntnisanspruch auf absolutes Wissen von inhaltlicher Bedeutung. Ihre Untersuchung bildet daher den ersten und vornehmsten Gegenstand der kritischen Untersuchung. Hume hatte behauptet, sie wären unmöglich, während es Kant nicht über sich bringt, die Urteile der ersten und zweiten Gruppe, in denen er die Grundlage exakter Naturwissenschaft erblickt, im Ernste zu bezweifeln. Gleichwohl bedürfen auch sie einer Prüfung ihrer erkenntnistheoretischen Grundlage. Denn im Gegensatze zu den analytischen Urteilen (Satz des Widerspruchs) und den synthetischen Urteilen a posteriori (Erfahrung) tragen sie das Prinzip ihrer logischen Berechtigung keineswegs offen zur Schau. Und nur wenn es gelingt, dieses aufzuzeigen, sind sie gegen die Angriffe des Skeptizismus fürderhin gesichert. Daher lautet die Grundfrage der „Kritik der reinen Vernunft": Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Diese Frage gliedert sich gemäß den drei Gruppen solcher Urteile in drei Teilfragen: Erstens: Wie sind die synthetischen Urteile a priori der Mathematik möglich? Zweitens: Wie sind die synthetischen Urteile der reinen Naturwissenschaft möglich? Drittens: Wie sind die synthetischen Urteile a priori der Metaphysik möglich? Da die Unmöglichkeit der letzteren in ihrer historischen Gegebenheit für Kant schon feststand, als er an seine kritische Aufgabe herantrat, so spaltet sich ihm die Frage nach ihrer Möglichkeit von vornherein in zwei Teilfragen: Erstens: Welches ist die Grundlage jenes metaphysischen Bautriebes der Menschheit, welcher immer wieder zum Entwurf solcher Systeme verführt trotz der offenkundigen Aussichtslosigkeit, in ihnen zu allgemeiner Übereinstimmung zu gelangen? Oder kurz: Wie ist Metaphysik als Naturanlage möglich? Zweitens aber: Welche Möglichkeit besteht, an Stelle dieser hoffnungslosen Bemühungen eine Wissenschaft zu setzen, welche dem unausrottbaren Bedürfnis nach Aufschluß über die letzten Fragen genügt, ohne in die Fehler der Vergangenheit zu verfallen?

Oder kurz: Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? Die Antwort auf diese letzte Frage, nämlich: sie ist nur als Transzendental philosophie möglich, ist schon mit dem allgemeinen Programm der Vernunftkritik gegeben.

Diese Fragestellung ist insofern grundlegend, als ihrem Leitfaden die kritische Untersuchung äußerlich folgt. Sie ist aber insofern unvollständig, als die Transzendentalphilosophie noch um ein anderes Grundproblem sich dreht: das Problem der Erfahrung. Die Analysis einer Erfahrung überhaupt und die Prinzipien der Möglichkeit der letzteren" hat Kant selbst als „das schwerste von der ganzen Kritik" bezeichnet. Warum hat er diese Frage nicht ausdrücklich gestellt? Abgesehen von Kants historisch bedingter Einstellung gegen Humes ,,Skeptizismus" liegt der Grund einfach darin, daß in der Tat die Urteile a posteriori für ihn kein Problem bedeuteten, wohl aber ihr Prinzip, die Erfahrung selbst, durch den Fortgang der kritischen Untersuchung zu einem solchen werden mußte. Die Prüfung der synthetischen Urteile a priori zeigt eben, daß ihre Gültigkeit sich allein dadurch erweist, daß sie eine notwendige Beziehung zur empirischen Wirklichkeit besitzen, welche eigentümliche Zusammenstimmung von Rationalem und Empirischem sich wieder nur dadurch erklärt, daß in den Erfahrungsurteilen selbst schon etwas Apriorisches enthalten ist. So verschiebt sich das eigentliche Problem allmählich aus dem Apriori in das Aposteriori: die Erfahrung selbst wird immer rätselhafter, je mehr sich das Dunkel, das ursprünglich über der reinen Vernunfterkenntnis lagert, aufhellt. So wird endlich die Frage: „Wie ist Erfahrung selbst möglich?« zum „höchsten Punkt, den transzendentale Philosophie nur immer berühren mag, und zu welchem sie auch, als ihrer Grenze und Vollendung, geführt werden muß". In ihr liegt der Höhepunkt der Kantischen Gedankenentwicklung und ihre wertvollsten und dauerndsten Ergebnisse treten gerade in ihrer Beantwortung zutage. Es ist aber durchaus natürlich, daß sie erst im Fortgang der Untersuchung ausdrücklich aufgeworfen werden konnte, wie denn auch ihre ganze Bedeutung erst im Zusammenhang mit dem transzendentalen Idealismus klar werden kann43.

Allgemein vorgestellt lautet die Kantische Ausgangsfrage: Wie sind Aussagen über die Wirklichkeit möglich, welche qualitativ (nach ihrem Gewißheitsgrad) und quantitativ (nach dem Umfange ihrer Geltung) mehr enthalten, als die Summe aller möglichen Einzelerfahrungen jemals enthält und

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