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sondern das „Vernunftvermögen" selbst. Das will heißen: die verschiedenartigen Ansprüche des menschlichen Geistes auf unbedingte Gültigkeit seiner Urteile, seien dies nun solche der gewöhnlichen Erfahrung oder der Erfahrungswissenschaft, der Mathematik oder der Metaphysik, Urteile der Billigung oder Mißbilligung menschlicher Handlungen und Gesinnungen oder endlich Urteile des Gefallens oder Mißfallens in der ästhetischen Betrachtung der Dinge. Über diese vielfach einander widerstreitenden Ansprüche eine wissenschaftlich begründete Entscheidung zu gewinnen, ist die universelle Aufgabe des Kritizismus. Man kann sich ohne vorherige Prüfung seiner letzten Grundlagen für einen dieser Ansprüche entscheiden: dann verhält man sich dogmatisch. Man kann sie alle (etwa um ihres Widerstreites willen) von vornherein ablehnen: dann verhält man sich als Skeptiker. Man kann aber auch sein Urteil über sie so lange zurückhalten, bis man durch gewissenhafte Prüfung der Grundlagen eine Einsicht in ihre Berechtigung oder Nichtberechtigung gewonnen hat: dann verhält man sich kritisch. Der Kritizismus ist somit eine Wertwissenschaft, d. i. ein System von begründeten Werturteilen über die Leistungsfähigkeit des menschlichen Geistes in allen seinen Lebensäußerungen. Da es sich dabei zunächst um die Absteckung der natürlichen Grenzen dieser Leistungsfähigkeit handelt, wird die Philosophie hiermit in der Tat zu dem, was ihr Kant in den „Träumen“ als neue Aufgabe gesetzt hatte: „eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft".

2. DIE TRANSZENDENTALE METHODE

,,Methodus antevertit omnem scientiam", hieß es schon in der Dissertation von 1770 und von der „Kritik der reinen Vernunft" sagt Kant in der Vorrede, sie sei ein,,Traktat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst. In der Tat liegt der Schlüssel zur Lösung der kritischen Aufgabe in der Ausfindung einer hierzu geeigneten Methode. Denn wenn das Erkennen über seine eigenen Ansprüche urteilen, die Vernunft über sich selbst und ihr Können zu Gericht sitzen soll, so bedarf es offenbar einer ganz besonderen Richtung oder Einstellung des Denkens, sozusagen eines eigenen Kunstgriffes, um sich selbst objektiv zu werden. Ansätze zu kritischen Untersuchungen, besonders erkenntnistheoretischer Art, hat es ja schon vor Kant gegeben. Insbesondere J. Locke kann hier als sein Vorläufer genannt werden 33. Nirgends aber war der

kritische Gesichtspunkt völlig rein zur Geltung gekommen, insofern er überall mit anderen, teils (wie bei den Rationalisten) metaphysischen, teils (wie bei den Empiristen) psychologischen und biologischen Gesichtspunkten vermengt auftrat. So suchte man dem erkenntniskritischen Problem zumeist durch die genetische Ableitung der Erkenntnis, sei es aus eingeborenen Begriffen, sei es aus Sinneswahrnehmungen beizukommen. Diese entwicklungsgeschichtliche (oder wie Kant sie nennt: „physiologische") Methode kann uns wichtige Aufklärungen über den Ursprung des Wissens geben, sie kann den tatsächlichen Bestand an wirklicher oder vermeintlicher Erkenntnis aufhellen: aber sie kann nichts endgültig entscheiden über dessen Wert und Geltung, weil sie z.T. mit denselben Voraussetzungen arbeiten muß, die sie erst prüfen soll (z. B. Realität der Zeit, Kausalzusammenhang, Existenz des Ichs oder der Außenwelt usf.). Das entscheidend Neue bei Kant ist, daß er die Unzulänglichkeit der psychogenetischen Methode für die Behandlung des kritischen Fundamentalproblems deutlich erkannte, also die Frage nach Wesen und Geltungsanspruch der gegebenen (logischen, ethischen, ästhetischen) Werte grundsätzlich unterschied von der Frage nach dem Ursprung dieser Wertungen: die quaestio juris von der quaestio facti 34.

Kant nannte seine eigene Methode „transzendental", daher seine Philosophie auch,,Transzendentalphilosophie" heißt. Der von ihm neu eingeführte, aber leider nicht immer eindeutig festgehaltene Begriff ,,transzendental" läßt sich am raschesten erläutern durch seinen Vergleich mit den ihm verwandten, aber doch wieder wesentlich von ihm verschiedenen Begriffen „immanent“ und „transzendent“. „Immanent" heißt jede Vorstellungsweise, jeder Begriff oder Lehrsatz, jede Theorie oder Hypothese, die sich innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung halten; zu diesem Gebiet des Erfahrbaren gehört so nicht nur das unmittelbar und tatsächlich Wahrgenommene, sondern auch alles, was mit der wirklichen Erfahrung nach allgemeinen Regeln so zusammenhängt, daß es unter gewissen (wenn auch vielleicht nie realisierbaren) Bedingungen Gegenstand einer Erfahrung sein könnte; z. B. die Entstehung unseres Planetensystems, die Rückseite des Mondes oder allenfalls auf ihm vorausgesetzte Bewohner und dergl.,,Transzendent" hingegen ist alles, was die Grenzen möglicher Erfahrung seinem Wesen nach überschreitet, also jede Aussage über das schlechthin Übersinnliche, wie z. B. über das Schicksal der Seele nach dem

sagt

Tode, die Existenz und die Eigenschaften Gottes und dergl. Naturwissenschaft ist nach Kant niemals, Metaphysik immer transzendent. Das „Transzendentale" hat mit dem Immanenten gemein, daß es den Erfahrungskreis grundsätzlich nicht übersteigt; mit dem Transzendenten, daß es nicht selbst erfahrbar ist, sondern sich über jede psychologisch-wirkliche Erfahrung erhebt" oder sie „übersteigt". „Ich nenne“ Kant,,alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt 35" Läßt man die Einschränkung auf das ,,a priori", welche weniger mit dem Begriff des Transzendentalen als mit seiner bestimmten Anwendung im Rahmen des Kantischen Systems zusammenhängt, einstweilen beiseite, so ergibt sich als der Sinn der transzendentalen Methode die Denkeinstellung auf das Wesen und die Eigenart des Erkennens selbst. Im allgemeinsten Sinne meint so Kant mit „,transzendental" nichts anderes als die Erhebung des Erkenntnisbewußtseins über sich selbst vermöge einer Reflexion über sein eigenes Tun. Die Transzendentalphilosophie ist somit jene philosophische Wissenschaft, welche zwar nicht die Grenzen möglicher Erfahrung überschreitet, aber diese Erfahrung selbst und mit ihr alle menschliche Erkenntnis überhaupt zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht. Sie ist so zwar nicht transzendent, sondern immanent, aber doch nicht selbst empirisch, sondern ihrer Methode nach gleichsam metaempirisch, insofern sie einen Standpunkt außerhalb des menschlichen Erkenntnisbewußtseins zu gewinnen bestrebt ist, von dem aus eine objektive Beurteilung seiner Leistungen möglich wird. Die Fackel der Kritik der reinen Vernunft beleuchtet nicht,,die uns unbekannten Gegenden jenseits der Sinnenwelt, sondern den dunklen Raum unseres eigenen Verstandes 36". „Transzendental" ist daher niemals ein Name für bestimmte Gegenstände (wie manchmal immanent und transzendent), auch nicht für eine bestimmte Erkenntnisart der Gegenstände, sondern immer nur für eine bestimmte Betrachtungsweise unserer Erkenntnis von Gegenständen.

Der Grundgedanke dieser transzendentalen Methode ist, daß die Frage nach dem Wert einer Erkenntnis nur aus der Reflexion auf ihre Bedingungen beantwortet werden kann. Es gibt im Bewußtsein gewisse Sätze (,,Urteile"), die mit dem Anspruche auftreten, wahr", also Erkenntnisse zu sein. Um

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diesen Anspruch auf seine Berechtigung zu prüfen, bedient sich der Kritizismus der transzendentalen Methode, indem er die Frage aufwirft: welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit dieser Anspruch zu Recht bestehe? Daher ist die immer sich wiederholende typische Fragestellung der Transzendental philosophie die nach der Möglichkeit gewisser Erkenntnisse, deren Bestand vorläufig hypothetisch angenommen wird. Läßt sich diese Möglichkeit begreifen, dann ist jener Anspruch gerechtfertigt; anderen Falles muß er verneint werden. Möglich wird aber eine Erkenntnis dann sein, wenn sie mit den ersten Grundlagen des Erkennens überhaupt zusammenstimmt. Diese ersten Grundlagen sind aber einmal die Grundgesetze der Logik und dann die Tatsachen der primären Erfahrung. Neben der inneren Widerspruchslosigkeit wird daher die Zusammenstimmung mit der Möglichkeit der Erfahrung selbst der Maßstab sein, an dem die Möglichkeit jeder anderen Art von Erkenntnis gemessen werden kann. Die Transzendentalphilosophie sucht daher die Bedingungen einer fraglichen Erkenntnisart zurück zu verfolgen bis zu den ersten Grundlagen unseres Denkens und Erfahrens. Stehen sie mit diesen in notwendigem Zusammenhang, so sind sie selbst und durch ihre Erfüllung auch die auf ihnen sich aufbauende Erkenntnis gerechtfertigt. Die transzendentale Methode ist so der Weg zur Erfüllung der kritischen Aufgabe: sie ermöglicht die Entscheidung über Wert oder Unwert gegebener Erkenntnisse durch die Einsicht in ihre Bedingungen und deren Zusammenhang mit den ersten Voraussetzungen des Erkennens überhaupt.

3 ANALYTISCHE UND SYNTHETISCHE URTEILE

Welches ist nun der vorliegende Bestand an zu prüfenden Erkenntnissen? Alle Erkenntnis drückt sich in Urteilen aus oder läßt sich wenigstens nachträglich in der Form eines Urteiles mit Subjekt und Prädikat aussprechen. Hier sind nun zwei Fälle möglich: entweder ist das Prädikat im Subjektsbegriff, wenn auch versteckterweise, bereits enthalten, oder Subjekt und Prädikat sind ursprünglich einander fremd und werden erst durch das Urteil zueinander in Beziehung gesetzt. Im ersten Fall ist das Wesen des Urteils nur die Auflösung oder Analyse des Subjektsbegriffs in seine Merkmale, indem explizite im Prädikat ausgesprochen wird, was implizite im Subjekt bereits mitgedacht wurde. Im zweiten Fall enthält das

Urteil mehr als die beiden Begriffe zusammen, nämlich die Aussage über ihre Zusammengehörigkeit oder ihre Synthese. Ein Beispiel der ersten Art wäre: „Alle Körper sind ausgedehnt", ein solches der zweiten: „Alle Körper sind schwer". Die Schwere setzt gewisse Erfahrungen (z. B. Druckempfindungen) voraus und kommt dem einzelnen Körper schon deshalb nicht notwendig zu, weil sie nur in den physikalischen Beziehungen zweier Körper begründet ist. Einen Körper aber, selbst einen bloß geometrischen, ohne das Merkmal der Ausgedehntheit zu denken, ist unmöglich. Die analytischen Urteile bieten nichts Neues, sondern dienen nur der Verdeutlichung oder Auffrischung eines bereits Bekannten, vergleichbar der,,bloßen Illumination einer Karte", durch welche zum Kartenbild ja auch nichts Neues hinzugefügt wird. Sie dienen daher zumeist nur praktischen, besonders didaktischen Zwecken und können Erläuterungsurteile genannt werden. Eine Erweiterung unseres Wissens ist nur von den synthetischen Urteilen zu erwarten, die darum auch Erweiterungsurteile heißen.

Mit dieser Unterscheidung kreuzt sich ein zweiter Einteilungsgrund, nämlich der in Urteile a priori und in Urteile a posteriori. Es handelt sich dabei nicht um die Frage des Ursprungs, sondern ausschließlich um die Art der Geltung eines Urteils. A priori oder „von vornherein" gelten solche Urteile, welche von Erfahrung unabhängig sind und sich nur auf reine Vernunft stützen. Dazu gehören z. B. die Sätze der elementaren Mathematik, welche immer und überall gelten, gleichgültig ob sie aus angeborenen Zahlbegriffen stammen oder durch Abzählen an den Fingern der Hand mühsam erlernt wurden, und die weder einer Bestätigung durch Erfahrung bedürfen noch jemals durch neue Erfahrungen widerlegt werden können. Diese in den Urteilen selbst gelegene Notwendigkeit und ihre Allgemeingültigkeit sind die Kennzeichen der apriorischen Urteile. Urteile a posteriori sind empirische Urteile. Sie beruhen auf Erfahrung und gelten daher nur so weit, als die Erfahrung reicht, auf Grund deren sie gefällt wurden. Die analytischen Urteile sind stets zugleich Urteile a priori. Sie tragen im Subjektsbegriff ihren logischen Urteilsgrund in sich und erfolgen allein nach dem Satze des Widerspruchs, gegen den es verstoßen würde, ein im Subjektsbegriff mitgedachtes Merkmal durch das Urteil von ihm ausschließen zu wollen. Anders bei den synthetischen Urteilen. Hier genügt nicht ein formal-logisches Prinzip, um zwei bisher einander

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