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werden sollte; sie selbst als Ganzes gehört aber noch keineswegs dem engeren Kreis der kritischen Schriften an, sondern zeigt vielmehr eine deutliche Rückbiegung zum Dogmatismus. Dem Kant der „Träume" gegenüber ist der Kant von 1770 ihm selbst vielleicht unvermerkt - wieder zum rationalistischen Dogmatiker geworden.

Der eigentliche Durchbruch zum Kritizismus erfolgte vielmehr von ganz anderer Seite her und offenbar erst innerhalb jener elf Jahre, welche noch bis zum Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft" verstreichen sollten und über deren innere Entwicklung wir nur spärlich durch Kants Briefwechsel mit seinem früheren Hörer und späteren Freunde, dem Berliner Arzte Markus Herz, unterrichtet sind. Es war, wie Kant 1783 schrieb, die „Erinnerung des David Hume", welche ihm vor Jahren den viel berufenen „dogmatischen Schlummer" unterbrach und seinen „,Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab25". Mit dieser Erweckung konnte nicht die Wendung zum Empirismus gemeint sein, welche durch die Dissertation von 1770 bereits überholt war, noch auch das „große Licht" von 1769 selbst, denn die Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit steht mit der ausdrücklich erwähnten Humeschen Kausalkritik in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Gefährdet war durch diese nun allerdings das an Leibniz neu erwachsene Vertrauen in die Möglichkeit reiner Vernunfterkenntnis des Übersinnlichen. Wenn es richtig ist, daß der Begriff von Ursache und Wirkung weder in der Vernunft noch in der Erfahrung eine zureichende Grundlage besitzt, sondern allein auf gewohnheitsmäßiger Erwartung beruht, und wenn sich Ähnliches auch von den anderen Verstandesbegriffen vermuten läßt, dann ist allerdings Metaphysik als Wissenschaft unmöglich. Kants neuer Versuch, zur intelligiblen Welt einen Zugang zu finden, läßt sich dann nicht halten und muß zugunsten des skeptischen Standpunktes der,,Träume" wieder aufgegeben werden. Diesen Schritt zurück zu tun, konnte Kant nicht allzu schwer fallen; in der Tat blieb er in der Verwerfung der Metaphysik als Wissenschaft mit Hume forthin durchaus einig. Ungleich empfindlicher für ihn war aber, daß ein folgerichtiges Durchdenken der Humeschen Kritik auch die Möglichkeit der exakten Physik in Frage stellen mußte. Und in der Tat: Hume mußte ja von seinem Standpunkte aus nicht nur die Metaphysik, sondern auch die ätiologische Naturwissenschaft verwerfen. Für ihn gibt es keine unverbrüch

lichen,,Naturgesetze", sondern nur empirische Regeln des Vorstellungsablaufs; keine Notwendigkeit im Naturgeschehen, sondern nur Tatsächlichkeit; keine Gewißheit, sondern nur Grade der Wahrscheinlichkeit; und daher auch keine „Erklärung“, sondern nur eine schlichte Beschreibung der Phänomene 26. Wenn Hume die Mathematik selbst davon ausgenommen hatte, weil er sie für bloße Begriffsanalyse hielt, so müßte zuletzt, wie Kant meint, die folgerichtige Durchführung des Empirismus auch ihre Apodiktizität in Frage stellen. Die Überzeugung von dem unangreifbaren Erkenntniswert der mathematischen Physik war aber für Kant in allem Wechsel philosophischer Richtungen unwandelbar festgestanden. Sie bedeutete für ihn, dem sich lebenslänglich in dem Namen Newton sozusagen die Wissenschaft selbst personifizierte, den stärksten theoretischen Halt seines Innern, den Stolz des menschlichen Geistes und - bisher wenigstens den unverrückbaren Felsen, an dem sich jeder Skeptizismus brechen, vor dem aber auch jeder Mystizismus zurückweichen mußte. In diesem, allerdings nur in diesem Punkte war Kant immer aus tiefster Überzeugung Dogmatiker gewesen und ist es im Grunde auch immer geblieben 27. An der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Mathematik und reinen Naturwissenschaft hat er niemals gezweifelt. Nun schien aber im Gefolge des Empirismus der ,,härteste Skeptizismus selbst in Ansehung der ganzen Naturwissenschaft" und damit ein „schrecklicher Umsturz" aller Wissenschaften zu drohen. Dabei schienen Humes Argumente keineswegs leicht von der Hand zu weisen, sondern im Gegenteil der ernstesten Überlegung wert zu sein. Kein Wunder, daß Kants Denken von dieser Seite her nun seinen mächtigsten Anstoß erhielt! Ob dabei ein nochmaliges Studium Humescher Werke eine Rolle gespielt hat oder ob schon früher aus ihnen aufgenommene und bisher gleichsam latent gebliebene Denkmotive nun erst wahrhaft wirksam wurden, ist nebensächlich. Sicher ist, daß Kant sich dadurch veranlaßt sah, zu einer erneuten Überprüfung seines zuletzt eingenommenen Standpunktes und weiterhin der gesamten Grundlagen unseres Wissens zu schreiten. Es galt nun für ihn, das Richtige, ja Unabweisliche der Humeschen Kritik mit der Erfüllbarkeit des Postulats notwendiger und allgemeingültiger Naturerkenntnis in Einklang zu bringen. Das ist zwar nicht die einzige und nicht die höchste, aber die nächste Aufgabe, welche durch den Kritizismus gelöst werden soll. Mag

man an diesem Hängen am rationalistischen Wissensideal mit Recht eine innere Schranke des Kantischen Geistes erblicken, so war doch die an sich ganz unbegründete Besorgnis, daß mit seinem Sturz alle echte Wissenschaft verloren ginge 28, der mächtigste Hebel in Kants weiterer Entwicklung. Denn war auch der unmittelbare Anlaß zum Weiterschreiten nur die Abwehr der empiristischen Skepsis, so erweiterte sich diese apologetische Aufgabe für Kant alsbald zu der umfassenden Frage nach der Möglichkeit objektiver Erkenntnis überhaupt. Der wichtige Brief an M. Herz vom 21. Februar 1772, den man nicht mit Unrecht als die Geburtsstunde der „Kritik der reinen Vernunft" bezeichnet hat, läßt deutlich diesen großen Schritt erkennen. Nimmt man noch dazu, daß die neue kritische Untersuchung bereits die seit 1770 feststehende Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit voraussetzen durfte, so hat man die Prämissen der Vernunftkritik unmittelbar und vollständig in der Hand.

III. PROBLEM UND METHODE DES KRITIZISMUS

1. BEGRIFF UND AUFGABE DER KRITISCHEN PHILOSOPHIE Auf theoretischem Gebiet waren die beiden Denkmotive, welche Kant aus seiner vorkritischen Zeit mit herübernahm, die Überzeugung von der Unhaltbarkeit der rationalistischen Metaphysik und die Überzeugung von der Unzulänglichkeit der empiristischen Erkenntnis theorie. Der Rationalismus vermag seine eigenen hochfliegenden Erkenntnisansprüche nicht zu begründen, der Empirismus wieder nicht einmal den berechtigten Ansprüchen der Erfahrungswissenschaften gerecht zu werden. Wenn in Hinsicht der Metaphysik der Empirismus gegenüber dem Rationalismus offenbar im Recht ist, so bedarf er in Hinsicht der erkenntnistheoretischen Aufgabe einer notwendigen Ergänzung, die wieder nur durch Aufnahme rationalistischer Elemente erfolgen kann. Aus dem Antagonismus rationalistischer und empiristischer Gesichtspunkte entspringt so das kritische Problem einer gegenseitigen Abgrenzung ihrer Ansprüche bei gleichzeitiger Anerkennung ihrer relativen Berechtigung. Rationalismus und Empirismus, das bedeutet aus dem Historischen ins Systematische übersetzt: Sinnlichkeit und Vernunft, deren wesentliche Verschiedenheit bereits die Disser

tation von 1770 herausgestellt hatte. Daher sollte auch der Titel des geplanten kritischen Hauptwerkes ursprünglich lauten: „Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft 29". Es erschien 1781 als „Kritik der reinen Vernunft", nur dem Namen, nicht der gestellten Aufgabe nach vereinfacht. Aus einem ganz ähnlichen Antagonismus der Gesichtspunkte entspringt aber auch das Problem der kritischen Moralphilosophie. Die absoluten Imperative der theologischen Moral sind an gewisse keineswegs unbestrittene metaphysische Voraussetzungen geknüpft und halten daher der Kritik nicht stand, welche die empiristischen Moralphilosophen an ihnen üben, indem sie die moralischen Schätzungen auf Naturtriebe, Mechanik der Affekte, einen angeborenen moralischen Sinn, sympathetische Gefühle oder endlich auf Erwägungen über den Nutzen des Einzelnen oder der Gesamtheit zurückzuführen suchen. Hat diese empiristische Ethik den Vorzug größerer Lebensnähe und psychologischer Begründung für sich, so fehlt es ihr doch wieder gänzlich an einem sicheren Kriterium, um die ethischen Werte von anderen bloß relativen Werten (wie den hedonistischen und utilitaristischen) zu unterscheiden. Das unbedingt Verpflichtende des Sittengesetzes, seine Würde und Allgemeingültigkeit gehen hier verloren oder werden wohl gar geleugnet. Der Glaube an sie war aber in Kant nicht minder mächtig als der an die Geltung und Würde der Wissenschaft. Daher entsprang hier für ihn ein analoges Problem wie in der theoretischen Philosophie: wie läßt sich die Absolutheit des Sittengesetzes begründen ohne Anlehnung an bestimmte metaphysische und religiöse Vorstellungsweisen? Auch hier wird die Aufgabe vor allem in einer kritischen Abgrenzung rationaler und empirischer Gesichtspunkte in der Ethik bestehen. Ihr ist die „Kritik der praktischen Vernunft", 1788, gewidmet (d. i. Kritik der das Begehrungsvermögen bestimmenden Vernunft oder des Vernunftwillens). Ein ähnlicher Gegensatz wie in der Ethik bestand endlich auch in der Ästhetik jener Zeit zwischen der rationalistischen und der empiristischen Deutung des Schönen. Die Rationalisten, welche das Wesen der Schönheit in einer sinnlich-unvollkommenen Erkenntnis des Vollkommenen erblickten, vermochten dem eigentümlichen Stimmungscharakter des Schönen und Erhabenen nicht gerecht zu werden. Die Empiristen, welche beides ausschließlich auf Gefühle gründen wollten, ließen wieder die Grenzen des ästhetisch Wohlgefälligen, des sinnlich Angenehmen und des sittlich Guten ineinanderfließen. Auch hier bedurfte

es einer kritischen Untersuchung der in unseren Geschmacksurteilen wirksamen Faktoren und ihres Anteils an der ästhetischen Betrachtungsweise der Phänomene. Diese Aufgabe hat Kant 1790 mit seiner „Kritik der (ästhetischen) Urteilskraft" geleistet, nachdem er die lange gehegten Bedenken gegen die Möglichkeit einer,,Kritik des Geschmackes" als Wissenschaft endlich überwunden hatte 30.

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Die Begriffsnamen ,,Sinnlichkeit",,,Vernunft", „Urteilskraft", zu denen sich noch „Verstand" und „Einbildungskraft", sämtliche wieder mit mehreren Unterarten, gesellen, könnten von vornherein das Bedenken erregen, als würde das kritische Systemgebäude auf dem hinfälligen Grunde einer längst (besonders seit Herbart) überwundenen Vermögenspsychologie errichtet, mit deren Wegfall es auch selbst ins Wanken geraten müßte. In diesem Sinne spottet Nietzsche einmal: Kant erkläre alles,,vermöge eines Vermögens31". Nun stammen jene Ausdrücke ja in der Tat aus der Wolffischen Psychologie mit ihrer Unterscheidung eines höheren und niederen Erkenntnis- bzw. Begehrungsvermögens. Sie verlieren aber bei Kant ihre ursprüngliche Bedeutung als „Kräfte" (die Kantische Philosophie kennt gar keine „Seele", deren Vermögen sie sein könnten), und werden zur konventionellen Bezeichnung für ebensoviele Erkenntnisarten. Ihre Auseinanderhaltung besitzt vor allem methodische Bedeutung: es soll gezeigt werden, aus welchen verschiedenen Faktoren oder Komponenten sich jede einzelne Erkenntnistatsache zusammensetzt. Der Anteil des Empirischen und des Rationalen an ihnen soll herausgestellt und jeder für sich und dann wieder beide in ihrem Zusammenwirken betrachtet werden. Der Fixierung des Ergebnisses einer solchen Analyse dienen jene Namen, hinter denen somit nicht eine Antwort, sondern eine Frage steckt: welchen Anteil hat der empirische und der rationale Faktor an dieser oder jener Erkenntnis? Anschließend sei auch bemerkt, daß, wenn Kant von „Handlungen" des Gemütes oder „Funktionen“ des Verstandes und der Einbildungskraft spricht, damit nicht psychologische, in der Zeit verlaufende Prozesse, sondern zeitlose Verhältnisse gemeint sind, welche nur durch den Zwang bildhafter Ausdrucksweise so dargestellt werden, als würde es sich um reale Vorgänge handeln.

Was soll nun durch den Kritizismus (seiner Wortbedeutung nach),,entschieden“, „,beurteilt“ und „gerichtet werden? Nicht Bücher oder Systeme, wie Kant ausdrücklich bemerkt,

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