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schaft der Anschauungen, als sie tatsächlich bestand, denn ihre beiderseitigen Naturbegriffe waren von Grund aus verschieden.,,Ich sprach nur aus," sagte er mit Recht,,,was in mir aufgeregt war, nicht aber, was ich gelesen hatte." Auch der Kritik der praktischen Vernunft vermochte Goethe nur teilweise zuzustimmen. Er meint zwar, es sei Kants unsterbliches Verdienst, daß er die Moral „dem schwankenden Kalkül einer bloßen Glückseligkeitstheorie entgegengestellt habe; mit dem platonisierenden Wertunterschied zwischen der sinnlichen und vernünftigen Seite unseres Wesens vermochte er sich aber ebensowenig zu befreunden wie mit dem Dualismus überhaupt. Auch Kants Pflichtbegriff konnte ihm, so sehr er auch im Leben selbst eine Pflichtnatur war, nicht behagen:,,Alles Sollen ist despotisch". Gänzlich ablehnend aber verhielt er sich zu Kants Religionsphilosophie. In der Lehre vom Radikalbösen, die seiner optimistisch-,,griechischen" Lebensansicht von Grund aus widersprach, sah er nur eine beabsichtigte Anpassung an das christliche Dogma von der Erbsünde, das ihm von jeher verhaßt war. Ganz von selbst ergaben sich aber sonst manche Berührungspunkte mit Kantischen Lehren. Nicht nur, wie schon früher erwähnt, in der Begründung des Unsterblichkeitsglaubens; auch den Grundgedanken der Kritik der reinen Vernunft hat Goethe sich zu eigen gemacht, wenn er zu Eckermann einmal sagt:,,Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten." Es war vor allem die Form der Kantischen Lehre, welche Goethe ihr nicht nahekommen ließ. So blieb sein Verhältnis zu Kant im ganzen ein recht kühles und nur durch Schiller wurde es zeitweise etwas intimer, wie auch umgekehrt der Naturalismus des Freundes auf Schillers Kantauffassung nicht ohne Einfluß blieb. Goethe wieder beklagt sich, daß Kant nie von ihm „Notiz“ genommen habe, obwohl seine Metamorphose der Pflanzen ganz in Kants Sinne sei. So sind die beiden größten Geister deutscher Nation aneinander vorübergegangen, ohne sich recht zu verstehen oder auch nur recht zu kennen. Noch viel weniger vermochte Goethe zu Fichte ein Verhältnis zu finden, dessen ganze Persönlichkeit der seinen gèrade entgegengesetzt war und dessen subjektiven Idealismus er einfach nicht zu fassen vermochte. Mit Schelling hingegen verband

ihn der romantische Naturbegriff, der pantheistische Zug und die Parallelisierung des Kunst- und Naturschaffens. Vom Panlogismus Hegels fühlte er sich ebenso abgestoßen wie von Schopenhauers düsterer Weltansicht. Die Philosophie war für Goethe nur eine der vielen Gestaltungen des Lebens, die sein Interesse alle gleichmäßig fesselten. Für dieses auf der Totalität der Dinge leidenschaftslos ruhende Auge schlossen sich alle Gegensätze auch die der Weltanschauungen immer wieder zu einer Einheit zusammen. Daher sein Bestreben, jeder nach Kräften gerecht zu werden und sie als eine, wenn auch einseitige, so doch mögliche Art gelten zu lassen, in der sich das eine, unfaßbare, unendliche Ganze widerspiegelt: „,So kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige." Sehr charakteristisch für seine Geistesart ist, was er 1813 an Jacobi schreibt: „Ich für mich kann bei den mannigfaltigen Richtungen meines Wesens nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden wie das andere. Bedarf es eines Gottes für meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch, so ist auch dafür schon gesorgt. Die irdischen und himmlischen Dinge sind ein so weites Reich, daß die Organe aller Wesen zusammen es nur erfassen mögen." Der Lebenskünstler Goethe vermochte sich auch mit einer mehr als bloß zweifachen Wahrheit vortrefflich abzufinden 217.

6. KANT UND DIE SPÄTERE ZEIT

Die von Kant erschlossene Gedankenwelt war so reich an neuen Problemen und überraschenden Perspektiven, daß ihre völlige Ausschöpfung und Durchbildung die Kräfte eines einzelnen überstieg. Gewisse Unfertigkeiten und Unausgeglichenheiten hatten ja schon die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen erregt. Die Schwungkraft der einmal angeregten Ideen war aber zu groß, als daß man die Geduld gehabt hätte, bei dem Versuche des Ausbaues und der inneren Harmonisierung der ursprünglichen Lehre mit ernster Ausdauer zu verharren. Selbst Fichte, der ursprünglich gar nichts anderes sein wollte als ein getreuer Bewahrer und Ausleger der Lehre des Meisters, wurde bald, fast widerstrebend, über sie hinausgetrieben. So setzte denn in den folgenden Jahrzehnten eine beinahe sich überstürzende gei

stige Bewegung ein, in der System auf System folgte und der philosophische Gedanke in immer neuen Wendungen zu einer seltenen Vielgestaltigkeit und Lebendigkeit sich entfaltete. Es war, wie wenn der durch die Kantische Grenzbestimmung nach einer Richtung zurückgestaute Strom metaphysischer Spekulation nun, alle Dämme durchbrechend, mit erneuter Kraft in neue Betten sich ergießen wollte. Und es sind fast durchwegs auch bei Kant schon anklingende Denkmotive, welche hier mit einer Art innerer Triebkraft zum Ausdruck drängen, mag auch die Kühnheit, ja Verwogenheit, mit der sie sofort in ihre äußersten Folgerungen entwickelt werden, auf den ersten Blick wenig Ähnlichkeit mit der kritisch besonnenen Art des Kantischen Philosophierens verraten. Das gilt nicht minder von dem spekulativen Idealismus eines Fichte, Schelling und Hegel wie von der Religionsphilosophie Schleiermachers, dem pluralistischen Eleatismus Herbarts und der monistischen Willensmetaphysik Schopenhauers. Sie alle sind, wie man treffend gesagt hat, nichts als verschieden geartete Töchter der Kantischen Mutterphilosophie218. Der,,alte Kant" begann dabei nach und nach stark in den Hintergrund zu treten. Besonnene Geister ließen sich allerdings schon damals in ihrem Werturteile nicht beirren. So schrieb Grillparzer nach dem Studium von Hegels Logik in sein Tagebuch:,,Alles, was ich Philosophisches lese, vermehrt meine Achtung für Kant." Als dann aber der Rausch der Spekulation einer großen Ernüchterung Platz gemacht hatte und von der Philosophie überhaupt wieder das für seine Zeit gesprochene Wort Kants galt, daß sie, noch vor kurzem die anerkannte Königin der Wissenschaften, nun alle Verachtung zu erdulden habe, begann man sich wieder auf die schlichtere Weisheit des Königsberger Denkers zu besinnen. In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde zuerst vereinzelt, dann immer allgemeiner der Ruf:,,Zurück zu Kant!" laut, der selbst, wenn auch halb vergessen, in unantastbarer Größe diesen Wandel der Zeiten überdauert hatte. Entsprechend der vorwiegend historischen Richtung des damaligen philosophischen Interesses begann man zunächst die Kantische Lehre wiederherzustellen und dem Geiste der Zeit gemäß auszulegen. Diese Kantphilologie hatte die nicht zu unterschätzende Bedeutung, Kant dem Verständnisse der Zeitgenossen wieder näherzu

bringen. Sie kann aber doch immer nur eine Vorarbeit bedeuten. Denn nicht um eine sklavische Wiedererneuerung seiner Lehre konnte es sich handeln, sondern um eine Fruchtbarmachung ihrer Ideen, mehr noch aber um eine Erneuerung des philosophischen Denkens im Geiste seiner strengen Methodik. Diese weitherzigere Auffassung brach sich auch rasch Bahn. Die von Hans Vaihinger am hundertsten Todestage Kants i904 gegründete,,Kantgesellschaft" vereinigt Tausende von Mitgliedern, die sich um den Namen Kants scharen, ohne ihm irgendwie schulmäßig verpflichtet zu sein; die von ihr herausgegebenen,,Kant-Studien" gegenwärtig im 28. Jahrgange bilden einen Mittelpunkt aller ernsten philosophischen Bestrebungen in Deutschland. Aber trotz der ungeheuren Denkarbeit, die darauf schon verwendet wurde, ist Kants Werk noch lange nicht zu Ende geführt. Weder in der Richtung der Tiefe, noch der Breite nach ist seine Auswirkung abgeschlossen. Aus Kants kopernikanischer Umwertung sind noch nicht die letzten entscheidenden Folgerungen für unsere Weltanschauung gezogen, die kritische Geisteshaltung ist noch nicht, wie sie sollte, zur selbstverständlichen Voraussetzung aller philosophischen Bestrebungen geworden. Und so unbequem es vielen sein mag: auch heute noch steht der alte Kant als unbestechlicher und unerschütterlicher Wächter an der schmalen Grenzscheide, welche echte Philosophie von ideenlosem Naturalismus auf der einen, von trüber Schwarmgeisterei auf der anderen Seite trennt. Seine Lehre, deren Erneuerung den Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts überwand, ist auch wie keine andere berufen, als wahre medicina mentis gegen die in der Gegenwart allenthalben sich regende Neigung zu prophetischem Mystizismus und okkultistischer Scheinwissenschaft zu dienen. Mag daher die gotische Architektonik des Systems verfallen sein und vieles mit ihr der Vergangenheit angehören, was sich nur aus seiner Zeitlage und den Schranken der Individualität seines Schöpfers erklärt: Geist und Sinn der kritischen Philosophie ragen noch lebendig in die Gegenwart herein und auch die Zukunft wird immer wieder an ihnen zu lernen haben.

BIBLIOGRAPHISCHER WEGWEISER

Gesamtausgaben.

A) Ausgabe von G. Hartenstein in 10 Bänden, 1838-1839. B) Ausgabe von K. Rosenkranz und F. W. Schubert in 12 Bänden, 1838-1842.

C) Ausgabe von G. Hartenstein, chronologisch geordnet in 8 Bänden, 1867-1869.

D) Ausgabe der Philosophischen Bibliothek", ursprünglich von J. H. Kirchmann, 1868 f., jetzt vollständig neubearbeitet von K. Vorländer u. a. in 10 Bänden, 1904 f.

E) Ausgabe von K. Kehrbach, K. Schulz und Th. Fritzsch in Reclams Universalbibliothek (nur die Hauptwerke).

F) Ausgabe von E. Cassirer in 11 Bänden, 1912—1918.

G) Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, 1900 f. (1923 sind erschienen Band I-VIII und X-XVI).

H) Auswahl von H. Renner in 8 Bänden, von F. Groß (Inselverlag) in 6 Bänden.

Die philosophisch wichtigen Schriften Kants.

1. Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte. 1746. 2. Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. 1755. 3. Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio. 1755.

4. Monadologia physica. 1756.

5. Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus. 1759. 6. Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren. 1762. 7. Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. 1763.

8. Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen. 1763.

9. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. 1764. 10. Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral. 1764.

II. Träume eines Geisterschers, erläutert durch Träume der Metaphysik. 1766.

12. Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raume. 1768.

13. De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. 1770. 14. Von den verschiedenen Racen der Menschen. 1775.

15. Kritik der reinen Vernunft. 1781.

16. Prolegomena zu einer jeden künftigen Meta physik, die als Wissenschaft wird auftreten können. 1783.

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