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Kants Stil für den, der sich einmal in ihn eingelesen, nicht einer eigentümlichen spröden, aber majestätischen Schönheit und die strenge, jeden Schmuck verschmähende Sachlichkeit der Darstellung wird selten zwar, dann aber um so eindrucksvoller von Stellen pathetischen Schwungs und ergreifender Enthüllung des im Innern lodernden Feuers durchbrochen. In Kants Gedankengänge einzudringen, bedarf eines ernsten Willens, dem dafür aber reichster Lohn winkt.

II. DIE VORKRITISCHE ZEIT

1. KANTS PHILOSOPHISCHE ENTWICKLUNG

Kant hat den ihm eigentümlichen kritischen Standpunkt nicht in einem raschen Aufschwunge kühner Genialität erobert, sondern erst in langer, mühevoller Gedankenarbeit sich zu ihm durchgerungen. Er mußte sich durch die vorgefundenen, in Ansehung und Geltung stehenden Richtungen erst hindurcharbeiten, bevor er das große Neue an ihre Stelle zu setzen vermochte. So ist seine philosophische Entwicklung nacheinander unter dem Zeichen Leibnizens, Wolffs, Newtons, Lockes, Humes und wieder Leibnizens gestanden und hat auch durch Crusius und Lambert gewisse Einflüsse erfahren. Kant hat im Geiste aller dieser Standpunkte auch selbst literarisch gearbeitet und sie, auch hierin den selbständigen Denker nicht verleugnend, in seiner Art gefördert. Man darf annehmen, daß diese Entwicklung nicht ohne starke innere Kämpfe vor sich gegangen ist. Denn Kant, der Sache nach der größte Neuerer, ja ein Geist von geradezu revolutionärer Kraft, war für seine Person von vorschneller Neuerungssucht weit entfernt. Dagegen spricht neben seiner Gewissenhaftigkeit als Denker, welche ihm gründliche Prüfung vor jeder Entscheidung zur Pflicht machte, auch die starke Entwicklung der Achtungsgefühle, welche zu Kants Eigenart gehört. In der Tat hat Kant die Spuren seines geistigen Werdeganges niemals ganz abgestreift, und die Folge davon ist, daß auch das ausgereifte Werk Züge derselben an sich trägt und nach Form und Inhalt manche Bürden der Vergangenheit mitschleppt. Kant selbst hat später über seine vorkritischen Schriften ziemlich geringschätzig geurteilt und wollte sie in die Sammlung seiner Werke nicht mehr aufgenommen wissen. Es gibt aber in der Tat keine bessere Einleitung in den Kritizismus als dessen Ent

wicklungsgeschichte im Geiste seines Urhebers. Denn das philosophisch Bedeutsame an dieser ist, daß sie gleichsam ontogenetisch dieselben Stufen durchläuft, welche die Philosophie selbst gleichsam phylogenetisch hatte durchlaufen müssen, um für ihre Neugestaltung durch den Kritizismus reif zu werden. In vollkommener Deutlichkeit scheidet sich mit dem Jahre 1769 die vorkritische Periode in Kants Denken von der kritischen. Innerhalb der ersteren kann man wieder eine Zeit unterscheiden, in der Kant etwa bis zu Anfang der sechziger Jahre noch im Banne eines dogmatischen Rationalismus stand. Newtons Physik und die LeibnizWolffische Metaphysik boten hier die Richtlinien seines Forschens und Denkens. Dann aber machte sich ein Einfluß Lockes, Humes und Rousseaus geltend, der in einer kritischempiristischen Geisteshaltung dieser Zeit seinen Niederschlag fand. Ein nochmaliges Zurückgreifen auf Leibniz bei bald nachher einsetzender energischer Abwendung von Hume auf Grund eines tieferen Verständnisses der skeptischen Folgerungen des reinen Empirismus bereitet die Wendung zum Kritizismus vor. Hume hat so zweimal auf Kants Entwicklungsgang Einfluß genommen: genommen: einmal in positiver und das andermal in vorwiegend negativer Art. Auf die subtile Untersuchung dieser Einflüsse hat man viel Mühe verwendet. Sie wären aber alle zusammen bei einem Geiste von solcher Selbständigkeit kaum in dem Maße wirksam geworden, um wirkliche „Umkippungen" (Kants eigener Ausdruck) jener Art zu veranlassen, wenn ihnen nicht seine innere Gedankenentwicklung schon gleichsam entgegengekommen wäre. In der Tat trug jeder der früheren Standpunkte Kants, der sich ja nie sklavisch an das Vorgefundene band, durch die Eigenart seiner Stellungnahme schon den Keim seiner Überwindung in sich, so daß die einzelnen Perioden gewissermaßen von selbst ineinander überführen. Gänzlich abgerissen ist der Zusammenhang mit dem Früheren an keiner Stelle, auch nicht in seinen kritischen Hauptwerken.

2. DIE RATIONALISTISCHE PERIODE

Das Interesse des jungen Kant war, nachdem sein Lehrer M. Knutzen ihm diesen Weg gewiesen, vorwiegend auf die Naturwissenschaft gerichtet, ja es hatte den Anschein, als wollte seine Tätigkeit ganz darin aufgehen. So widmete er anläßlich der Katastrophe, welche 1755 die Stadt Lissabon heimgesucht

hatte, zwei Schriften der Untersuchung über Erdbeben, worin er in heute allgemein anerkannter Weise die weite Ausbreitung dieser Erderschütterung auf ihre Fortpflanzung im Meere zurückführte. Seine Promotionsschrift,,De igne" verteidigte die Auffassung der Wärme als Bewegungsvorgang, während er merkwürdigerweise in seinem Nachlaßwerk wieder der Annahme eines Wärmestoffes zuneigte. Eine Abhandlung über die „Theorie der Winde" (1756) enthält die Entdeckung des Drehungsgesetzes der Winde. Dieses naturwissenschaftliche Interesse blieb in Kant zeitlebens rege. Bis ins hohe Alter suchte er die Fortschritte der Naturwissenschaft zu verfolgen und beteiligte sich auch selbst an der Erörterung ihrer Probleme. Physikalische, geographische und biologische Fragen haben ihn immer beschäftigt. Kants Untersuchungen entbehren zwar der mathematischen Exaktheit im heutigen Sinne, stehen aber in ihrer begrifflichen Strenge durchwegs auf der Höhe ihrer Zeit. Sie haben vermöge ihres Ideenreichtums und ihres spekulativen Schwunges manchen Entdeckungen und Hypothesen der späteren Zeit den Weg bereitet.

Weitaus an Bedeutung überragt alle anderen Schriften dieser Art Kants,,Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels", die 1755 anonym erschien und Friedrich II. gewidmet war, infolge des finanziellen Zusammenbruchs ihres Verlegers aber verspätet in den Buchhandel kam. Sie führt den Untertitel:,,Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonschen Grundsätzen abgehandelt" und enthält nicht weniger als die Begründung der modernen Kosmogonie. Vierzig Jahre später griff der Mathematiker und Astronom Simon Laplace in seiner ,,Exposition du système du monde" (1796) wie es scheint ohne Kenntnis der lange unbeachtet gebliebenen Kantischen Abhandlung denselben Grundgedanken auf und gab ihm eine exaktere Grundlage. Man spricht daher nach dem Vorgange von Helmholtz zusammenfassend von einer,,Kant-Laplaceschen Hypothese" der Weltenbildung. Auf eine flüchtige Anregung hin 10 erfaßte Kant den Gedanken eines einheitlichen Bauplanes des ganzen Fixstern himmels sogleich in seiner ganzen Tiefe und Tragweite und schöpfte aus ihm die Hoffnung, nun auch die Verfassung des Weltbaues aus dem einfachsten Zustande der Natur bloß durch mechanische Gesetze zu entwickeln", wobei ihm die Entstehung unseres Sonnensystems als Musterbeispiel dienen sollte. Kant knüpft hier unmittelbar

دو

an Newton an, dessen Gravitationstheorie gleichsam nach rückwärts ergänzend. Newton hatte zwar die Bewegungen der Himmelskörper mechanistisch erklärt, den ersten Anstoß dieser Bewegung aber für unbegreiflich gehalten und ihn demgemäß auf ein unmittelbares Eingreifen der „Hand Gottes“ zurückgeführt. Ebenso hatte Newton die Größen- und Dichtigkeitsverhältnisse der Planeten und ihre ungefähre Anordnung in der Äquatorialfläche der Sonne nur in einer unerforschlichen ,,Wahl Gottes", also überhaupt nicht zu begründen gewußt. Kants Hypothese ist nun der großartige Versuch, die mechanistische Betrachtungsweise auch auf die erste Entstehung der Sonnensysteme und ihrer Bewegungsverhältnisse auszudehnen. ,,Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen! das ist: gebet mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll11". Kants Hypothese, am Beispiel unseres Sonnensystems erläutert, ist in Kürze folgende: Als fiktiven Anfangszustand des Weltalls den einfachsten,,,der auf das Nichts folgen kann" nimmt Kant den einer chaotischen Zerstreuung der Materie an; also eine vollkommene Disgregation des Stoffes in kosmischen Staub. Vorausgesetzt werden nur gewisse Dichtigkeitsunterschiede in der Verteilung der Materie gemäß der Verschiedenheit der Elemente, in die sie aufgelöst gedacht wird, und die Wirksamkeit zweier Kräfte: der Attraktion (Gravitationskraft) und der Repulsion (wie sie in den Erscheinungen der Elastizität und der Ausbreitung der Gase zu beobachten ist). In jenem ursprünglichen Gasball von der ungefähren Größe des heutigen Sonnensystems bewirkt nun die Anziehungskraft Ballungen der Materie um Stellen größerer Dichte. Die Abstoßungskraft hingegen bewirkt, daß die dorthin stürzenden Stoffteile vermöge gegenseitiger Störung von der geraden Fallinie abgelenkt werden. Durch diesen Antagonismus der beiden Kräfte werden so die vertikalen Bewegungen in drehende und wirbelnde verwandelt. Es entstehen große Wirbel um dichtere Kerne als ihren Mittelpunkt. Dieser Kern wird dadurch zu einem Zentralkörper, der durch die Wirbelbewegung in Rotation und durch die beständig einstürzenden Massen in Gluthitze versetzt wird. Innerhalb jener Rotationssphären wiederholt sich der gleiche Vorgang: es bilden sich Gravitationszentren zweiter Ordnung, die dann als Planeten unter Beibehaltung der ursprünglichen Umdrehungsrichtung den Zentralkörper, und Monde, welche wieder die Planeten

umkreisen 12. In den Ringen des Saturn, als einem Reste der den Planeten umschwebenden Dunstmassen, erblickt Kant gleichsam ein Denkmal aus der Urgeschichte der Weltkörper überhaupt. Dem Gravitationsgesetze nach werden nun jene sekundären Ballungen umso näher an den Zentralkörper herangezogen werden, je mehr Masse sie enthalten. Daher kommt es, daß die Planeten an Dichtigkeit ab-, an Volumen aber in gleichem Maße zunehmen, je weiter sie von der Sonne entfernt sind. Ihre Dichtigkeit verhält sich also umgekehrt proportional zu ihrem Volumen und ihrer Entfernung von der Sonne. Was nun von unserem Sonnensystem gilt, das wird auch von allen Fixsternsystemen gelten und ebenso von der Milchstraße und den in unausdenkbarer Ferne beobachtbaren elliptischen Nebeln, welche Kant als perspektivisch wahrgenommene Fixsternsysteme auffaßt. Jeder Weltkörper ist so Glied eines Sonnensystems, das in ein System höherer Ordnung eingeschlossen ist, das sich wieder einer noch umfassenderen Einheit eingliedert. So eröffnet sich der erhabene Ausblick in eine wahre Unermeßlichkeit von Welten, deren jede wieder im Gedanken der Unendlichkeit des Universums zu einem verschwindenden Punkt zusammenschrumpft. Wie die einzelnen Welten in der Zeit entstanden sind, so werden sie einst auch wieder in der Zeit vergehen. Das Weltall selbst aber ist unvergänglich und erzeugt an anderen Orten immer wieder neue Bildungen. Es ist der wahre „Phönix der Natur, der sich nur darum verbrennt, um aus seiner Asche wiederum verjüngt aufzuleben 13. So erklärt sich auch jener chaotische Anfangszustand, mit dem Kant die Weltbildung beginnen läßt, als das Ergebnis des Zusammensturzes vorher bestandener Welten. Kosmos und Chaos lösen nach unveränderlichen Gesetzen beständig einander ab, so daß ein ewiger Kreislauf von Weltenbildung und Weltenzerstörung sich ergibt. Diese Kantische Nebularhypothese steht ungeachtet mancher Einschränkungen, Korrekturen und Versuche zu ihrer Umbildung, welche sie sich gefallen lassen mußte, auch heute noch ihrem Grundgedanken nach in Geltung. Wenn man auch Bedenken dagegen erhoben hat, daß die Kreisbewegung einer anfänglich ruhenden Masse allein durch den Antagonismus der beiden Urkräfte entstehen könne (daher Laplace schon den Urnebel um eine zentrale Achse rotieren ließ), so findet doch ihre Grundanschauung in der Spektralanalyse, welche das Vorkommen derselben Elemente im ganzen Himmelsraum nach

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