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verständnisses nennt ihn z. B. Nietzsche einen ,,hinterlistigen Christen" und Häckel spricht von den ,,drei Hauptgespenstern", die Kant nachträglich wieder eingeführt habe. Angriffe dieser Art stützen sich mit Vorliebe auf Kants Ausspruch:,,Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen197." Nur Unverstand oder Böswilligkeit kann diese Worte so deuten, als wenn er damit einer Einschränkung der freien Wissenschaft zugunsten des dogmatischen Kirchenglaubens das Wort habe reden wollen. Unter dem Wissen verstand er ja (wie es an derselben Stelle ausdrücklich heißt) den,,Dogmatismus der Metaphysik“, jener Metaphysik also, welche durch Jahrhunderte als,,ancilla theologiae" dem Dogmenglauben gedient hatte. Der praktische Vernunftglaube Kants kennt aber keine Dogmen und keine Glaubenspflicht, sondern ist und bleibt Privatsache jedes einzelnen. Kant hatte eben einen aufgeklärteren Begriff von „,Aufklärung" als seine heutigen Gegner. Er verstand darunter nicht blinde Verwerfung und Ironisierung des von andern für heilig Gehaltenen, sondern die Beförderung selbständigen Denkens und die Durchdringung der Überlieferung mit Vernunft unter gleichzeitiger Bewahrung ihres ethischen Gehaltes. Auf diesem Wege muß ja von den religiösen Vorstellungen allmählich ganz von selbst wegfallen, was für eine bestimmte Zeit an ihnen überflüssig geworden ist. Höchstens den einen Vorwurf könnte man Kant machen, daß es etwas voreilig war, gerade die drei Glaubensartikel des Deismus für Postulate der Vernunft selbst auszugeben. Die ausschließliche Betonung ihrer rein praktischen Bedeutung gibt aber in Wahrheit auch hier dem Individuellen den weitesten Spielraum. Es muß daher auch jedem freistehen, sich andere, für ihn anziehendere Symbole des Unerkennbaren zu schaffen oder auch ganz auf solche zu verzichten. Auch die,,wahre Kirche" bedeutet ja nicht einen neuen Zwangsverband bestimmter Religionsgesinnung, sondern vielmehr die Loslösung von jedem Glaubenszwange: die unbedingte Religionsfreiheit.

3. DIE GRUNDGEDANKEN DES SYSTEMS

Losgelöst aus den Klammern des Systems und auf ihren einfachsten Ausdruck gebracht, lassen sich die Grundgedanken von Kants Weltanschauung in drei Gruppen zusammenfassen:

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1. Zunächst und unmittelbar hat es jeder nur mit den Inhalten seines eigenen Bewußtseins zu tun (Zuordnung aller Vorstellungen zum empirischen Ich des inneren Sinnes). Unter ihnen scheiden sich aber Elemente, welche im strengsten Sinne subjektiv und individuell variabel sind (Empfindungen und Gefühle), von solchen, die notwendig allen Bewußtseinseinheiten gemeinsam sein müssen, weil sie die Bedingungen darstellen, unter denen überhaupt Bewußtsein (menschlicher Art) möglich ist: Raum, Zeit und Kategorien. Die Gesetze des reinen Anschauens und Denkens gelten daher überindividuell und ermöglichen so eine Gemeinsamkeit von Erfahrung und Wissenschaft. Das Produkt jener beiden Faktoren sind die,,Erscheinungen". Sie gestatten ihre Erfassung in objektiv gültigen Erfahrungsurteilen und legen dadurch die Annahme nahe, daß in ihrem Aufbaue aus Empfindungen schon dieselben Gesetze unseres Geistes wirksam waren, welche auch unsere Erkenntnis von ihnen bestimmen (transzendentale Synthesis). Die Gesamtheit der kategorial bestimmten Erscheinungen heißt,,Natur“. Diese verdankt somit ihre Ordnung und Gesetzmäßigkeit nur den überindividuellen Bewußtseinsformen, welche ihr als Bedingungen ihrer Möglichkeit zugrunde liegen, und ist daher auch ihrem allgemeinsten Gefüge nach a priori erkennbar (Metaphysik im neuen Sinne des Wortes).

2. In der sinnlichen Sphäre findet sich unser Denken durch den Zwang der Empfindung und die Gesetze der reinen Anschauung gebunden. Dem Übersinnlichen gegenüber fehlt diese Bindung. Hier sind unsere Gedanken frei, aber sie bewegen sich eben deshalb in bloßen Denkmöglichkeiten. Daher gibt es ein Wissen nur von Erscheinungen, aber keine Erkenntnis von Dingen an sich und daher auch keine Metaphysik als Wissenschaft vom Transzendenten. Was über jenes empirisch gebundene Denken hinausgeht, wie die teleologische Naturbetrachtung oder der Zug unseres Geistes nach absoluter Einheit und Vollendung seines Wissens, hat seinen Wert nicht in sich, sondern nur in seiner Dienstbarkeit für die empirische Erkenntnis.

3. Innerhalb der Erscheinungswelt herrscht die strenge Notwendigkeit apriorischer Gesetzmäßigkeit. Ihr ist auch der Mensch als Naturwesen unterworfen. In seinem sittlichen Bewußtsein aber stellt sich dem naturbedingten Müssen ein unbedingtes Sollen entgegen: der kategorische

Imperativ. Er ist nicht auf die Verwirklichung bestimmter Zwecke gerichtet, sondern fordert nur die formale Einstellung unserer Gesinnung auf das Gute um seiner selbst willen. Da es in der Sinnenwelt nichts gibt, was eine solche allgemeinverbindliche Verpflichtung rechtfertigen könnte, kann es nur der eigene Vernunftwille sein, welcher hier den geschlossenen Zusammenhang des Phänomenalen durchbricht und sich selbst das Gesetz gibt (Autonomie der praktischen Vernunft). Damit ragt der Mensch als Vernunftwesen in eine metaphänomenale Ordnung der Dinge hinauf, er weiß sich letzten Grundes frei vom Naturmechanismus, seinem tiefsten Wesen nach unvergänglich und einer moralischen Weltordnung unterworfen. Dieser Widerstreit zwischen Natur und Freiheit läßt sich durch verstandesmäßige Einsicht nicht beseitigen. Aber hier, wo unser Erkennen versagt, entscheidet der Wille durch die Tat (Primat der praktischen Vernunft). Denn höher als alles Wissen steht die moralische Bestimmung des Menschen, welche seinem Leben und seinen Kulturschöpfungen erst Sinn, Selbstzweck und Würde verleiht.

Kant hat seine Lehre von der Naturgesetzgebung des Verstandes der Tat des Kopernikus verglichen, weil sie eine vollständige Umkehrung der bisherigen Ansicht über das Verhältnis von Denken und Sein bedinge. Auch seine Auffassung von dem Verhältnisse zwischen Moral und Gottesglauben bedeutet eine solche Umkehrung, ja in allen wichtigen Fragen überhaupt verlangt seine Lehre einen Bruch mit festgewurzelten Denkgewohnheiten. In noch umfassenderem Sinne gilt das aber von dem Ganzen seines Denkstandpunktes. Seit dem Niederbruche des Aristotelischmittelalterlichen Weltbildes vor dem Siegeszuge der neuen Naturauffassung eines Kopernikus, Bruno, Descartes, Galilei und Newton ging ein tiefer Riß durch die Seele des europäischen Menschen. Bedeutete die ungeheure Erweiterung seines geistigen Horizontes auch den Stolz seines theoretischen Bewußtseins, so schien doch in gleichem Maße seine Innerlichkeit, sein Freiheitsverlangen, ja der ganze Sinn seines Lebens vor der Macht dieses übergewaltigen Naturmechanismus in nichts dahinschwinden zu müssen. diesem entgötterten Kosmos war die Seele heimatlos geworden. Nur ein so stolzer und entschlossener Denker wie Spinoza vermochte daraus nicht nur die letzten Folgerungen

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zu ziehen, sondern diese auch zu ertragen. Allüberall sonst sehen wir den Versuch, der Naturnotwendigkeit etwas abzuringen, selbst um den Preis innerer Unwahrheit sich mit ihr abzufinden und für die Seele zu retten, was noch zu retten war. Erst Kant hat hier das wahrhaft erlösende Wort gesprochen. Kein Denker vor ihm hat die strengste Gesetzmäßigkeit innerhalb der Natur rückhaltsloser anerkannt als er. Aber was dem Menschen bisher als fremde, drohende Macht erscheinen mußte, erkennt er als ein Erzeugnis unseres Geistes, als ein Werk der Spontaneität unserer Vernunft und damit der Freiheit. In der Natur herrscht so lehrt dieser Kopernikus der Philosophie eine eherne Notwendigkeit, aber diese Notwendigkeit ist eine Kate gorie unseres Verstandes. Die Ordnung der Natur ist dadurch fester gegründet als ehedem, denn sie ist jedem Wandel der Auffassung entzogen, weil sie sich aus den ersten Grundbedingungen unserer Erkenntnis ableitet.

Sie ist aber eben darum nicht das Letzte und Höchste. Einer Welt gegenüber, die in ihrem tiefsten Grunde unser eigenes Werk ist, braucht auch unser Freiheitsbewußtsein nicht zu verstummen. Die Selbstherrlichkeit der sittlichen Persönlichkeit muß dem Naturmechanismus nicht geopfert werden, wenn jener kosmische Körper, in dem unser physisches Dasein wurzelt, nur eine Vorstellung unseres Geistes ist. Daraus vermag aber auch die Überzeugung zu erwachsen, daß unsere höchste Bestimmung in eine andere Sphäre hinaufreicht, als jene ist, in der die naturalistische Betrachtungsweise heimisch und auch allein berechtigt ist. Die praktische Vernunft behauptet so ihren Primat vor der theoretischen, oder Platonisch gesprochen - die Idee des Guten, und das will heißen die Idee des Wertes, ist der des Seins übergeordnet. Erst vor dem Forum des Kritizismus wird so der alte Streit zwischen Naturalismus und Idealismus, Natur und Geist, Notwendigkeit und Freiheit, Mechanismus und Teleologie, Physik und Metaphysik, Demokrit und Platon wirklich geschlichtet. Es ist eine weltgeschichtliche Wendung des Gedankens, die sich hier vollzieht und die in ihren letzten Tiefen noch lange nicht zu Ende gedacht ist. Dieser Kampf wurde zu allererst in der Seele des Philosophen selbst ausgefochten. Denn Kant, von dem intellektuellen Zauber der klassischen Mechanik bis zum Dog

matismus gefangen genommen, aus eigenster Neigung der Naturerforschung zugewandt und auch seiner Gemütsseite nach in hohem Grade für die Erhabenheit des physischen Universums empfänglich, war zugleich auf das tiefste von der Achtung für die alles Naturhafte weit hinter sich lassende Hoheit und Würde der moralischen Bestimmung des Menschen erfüllt. Der Physik und der Metaphysik von Jugend an in gleicher Weise zugetan, durfte er in seiner Lehre keine der beiden Geistesmächte in ihrem Rechte verkürzen, wenn er nicht eine Seite seines eigenen Wesens verleugnen wollte. Und nicht nur seines eigenen Wesens, sondern des edelsten Bewußtseins der Menschheit. Denn zwei Dinge so heißt es in den Schlußworten der Kritik der praktischen Vernunft,,erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir".

XIII. KANTS ANHÄNGER UND GEGNER

1. ERSTE WIRKUNG

Als 1781 die Kritik der reinen Vernunft erschienen war, erregte sie bald das größte Aufsehen, zumeist aber auch Befremden, Bestürzung und erbitterte Gegnerschaft. „Noch nie sagt Reinhold in der Vorrede zu seinem Hauptwerke ist wohl ein Buch, ein einziges ausgenommen, so angestaunt, bewundert, gehaßt, getadelt, verketzert und

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mißverstanden worden." Der transzendentale Idealismus und die Zerstörung der alten Metaphysik zogen zuerst die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen auf sich. Mit jenem wußte man nichts Rechtes anzufangen, die letztere schien alle bisherigen Grundlagen der Moral und Religion zu untergraben. Wie das bei jeder Neuerscheinung zu gehen pflegt, suchte man des unbequemen Buches zunächst dadurch ledig zu werden, daß man es in eine der geläufigen Systemgruppen einreihte. Die Wolffianer stellten Kant zu den Empiristen, weil er die Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung eingeschränkt habe. Ihre ersten Angriffe gingen von Halle, diesem Hauptsitze der Wolffischen Schule, aus. Hier gründete August Eberhard

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