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symbolische Auslegung der Dogmen diesen bleibenden Wert des Christentums herauszuarbeiten und ihn durch Befreiung vom Buchstabenglauben in höherem Maße als bisher für die Stärkung des sittlichen Bewußtseins fruchtbar zu machen, ist seine Absicht. Die pragmatische Bewährung ist so der Leitgedanke auch dieses Teiles seiner Religionsphilosophie. Sie nach Kräften zu fördern, hielt er für seine Pflicht.

XII. ZUR WÜRDIGUNG KANTS

1. DIE THEORETISCHE PHILOSOPHIE

Daß die Kritik der reinen Vernunft ein in mancher Hinsicht widerspruchsvolles Werk ist, hat man schon frühe erkannt. Die Frage kann nur sein, ob ihre Aporien von der grundsätzlichen Stellung des Kritizismus unzertrennlich sind oder ob sie bloß der noch unvollkommenen Durchführung anhängen, welche sie bei Kant gefunden hat. Pflicht jeder ehrlichen Darstellung wird es sein, sie anzuerkennen; Sache einer fruchtbaren Auslegung aber, sie im Rahmen des Systems nach Möglichkeit zu beheben. Nur so weit, als es zur Klärung des Gesamtbildes nötig erscheint, soll hier von ihnen gesprochen werden.

Die Grundlage des ganzen Systems bildet der transzendentale Idealismus. Gerade er bot aber frühzeitig Anlaß zu ernsten Bedenken. In der Darstellung Kants ist der Begriff des Dinges an sich von dem der Erscheinung unabtrennbar und es kann sich nur darum handeln, welche Fassung ihm gegeben werden muß, damit er nicht mit dem Fortgange der Kritik in Widerspruch gerate. Die strenge Immanenz des Verstandesgebrauches schließt es aus, auf Dinge an sich die Kategorien des Seins, der Wirklichkeit, der Vielheit oder wenn sie als Ursache der transzendentalen Affektion gelten sollen die Kategorie der Kausalität anzuwenden. Auf diese Unzulässigkeit stützten sich die Angriffe der ersten Gegner. Nun hat Kant selbst die von seinem Standpunkte aus allein mögliche Auffassung dieses Begriffes gelehrt und damit die vermutlich aus der ,,Dissertation" von 1770 unbesehen herübergenommene Darstellung der ,,Transzendentalen Ästhetik" berichtigt: Dinge an sich, nur als Grenzbegriffe

des Erkennens gedacht, als bloße,,Gedankendinge" also, unterliegen keinem kritischen Einwande. Wollte man aber schon die Frage nach ihrer transzendenten Realität aufwerfen, so müßte sie ähnlich beantwortet werden wie die nach der Existenz Gottes: ihre Bejahung wie ihre Verneinung liegt gleichermaßen jenseits der Grenzen unserer Vernunfteinsicht. Nur als „,Idee" könnten sie zugelassen werden. Damit steht aber nun allerdings die Rolle in Widerspruch, welche dieser Begriff in Kants praktischer Philosophie zu spielen berufen ist. Der Mensch als ,,Vernunftwesen" ist ohne Zweifel als reales Ding an sich zu denken. Die reale Existenz einer noumenalen Welt von monadischer Struktur bildet in der Tat die unumgängliche Voraussetzung der transzendentalen und intelligiblen Freiheit, aber auch der Postulate der Unsterblichkeit und des höchsten Gutes. Auch ist wiederholt von Gott als dem,,Urheber aller Dinge" die Rede, womit doch nur Dinge an sich und nicht Erscheinungen gemeint sein können, welche ja als ein Werk von Bewußtseinsfunktionen erkannt wurden. Aber noch mehr: die,,Allgemeingültigkeit", welche in Erkenntnistheorie und Ethik als Kriterium der Apriorität auftritt, setzt gleichfalls eine Vielheit nicht bloß phänomenaler Bewußtseinszentren voraus, so daß für Kant das Du-Problem als gelöst gilt, ohne überhaupt gestellt worden zu sein. Es ist also nicht zu leugnen, daß eine von Leibniz nicht allzuweit sich entfernende Metaphysik den stillschweigend anerkannten und nicht weiter analysierten Hintergrund wichtiger Lehren Kants bildet, während seine Kritik doch gerade sie in ihrer Wurzel zu treffen meinte. Nur als Sache eines vernünftigen Glaubens aber hätte sie sich ohne Widerspruch dem System einfügen lassen. Daß Kant sich über diesen Punkt nicht deutlich ausgesprochen hat, bedeutet eine fühlbare Lücke seiner Philosophie186.

Den Zeitgenossen Kants hingegen, welche sich über diesen metaphysischen Hintergrund des Systems keine Rechenschaft gaben, erschien seine Lehre von der Einschränkung aller echten Erkenntnis auf das phänomenale Gebiet als blanker Skeptizismus. In der Tat könnte es scheinen, als wenn unser Erkenntniswille, der doch ursprünglich auf Erfassung einer transmentalen Realität gerichtet ist, durch die in ganz verändertem Sinne beibehaltenen Ausdrücke ,,Metaphysik" und Objektivität des Erkennens" gleich

sam hintergangen und über die Aussichtslosigkeit seiner wahren Ziele hinweggetäuscht werden sollte. Unsere Wißbegierde wäre ja gerade auf die Beschaffenheit an sich der Dinge gerichtet, und nun wird uns gesagt, daß sie uns für immer unzugänglich bleibt und wir uns mit einem Wissen von unseren eigenen,,Vorstellungen" begnügen sollen. Die erreichbare Erkenntnisdignität steht dabei in gerade umgekehrtem Verhältnisse zu unseren Wünschen: Erkenntnis höchsten Ranges gibt es streng genommen nur von der formalen Struktur unseres Bewußtseins, welche nicht das ist, was uns zunächst interessiert; in dem aber, woran uns am meisten liegt, werden wir auf bloßen Glauben verwiesen. Der letzte Sinn der Vernunftkritik scheint so eine docta ignorantia, eine Wissenschaft vom Nicht-Wissen zu sein. Gegen eine allzu subjektivistische Deutung seines Idealismus, die ja auch Kant wiederholt und auf das entschiedenste abgelehnt hat, könnte nun allerdings schon die Erwägung schützen, daß nach ihm gar kein „Subjekt" vorhanden ist, das als Träger der Erscheinungswelt und der apriorischen Gesetze gelten könnte: das Ich des inneren Sinnes ist selbst Erscheinung, das reine Ich der transzendentalen Apperzeption ist nur die selbst inhaltsleere Form der Bewußtheit überhaupt, die Existenz einer substanziellen Seele ist nicht erweisbar. Der eigentliche Schlüssel zur Behebung jener Bedenken läge aber in dem, was Kant den,,empirischen Realismus" genannt, aber selbst nicht in seiner ganzen Tiefe erfaßt hat. Er besagt bekanntlich, daß Ich und Welt, Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt relativ zueinander auf gleicher Realitätsstufe stehen. Daraus folgt, daß für das selbst empirische Erkenntnisindividuum das Wissen um seine Erfahrungswelt gerade das ist, was sein Erkenntniswille eigentlich verlangt und in befriedigender Weise auch erreicht. Daß für den Menschen als empirisches Individuum der kategorial bestimmte Erfahrungsgegenstand im Unterschiede von den subjektiven Wahrnehmungen ein relatives Ding an sich bedeutet, hat Kant ja wiederholt betont. Was die Transzendentalphilosophie darüber zu sagen weiß, daß nämlich jener Gegenstand selbst wieder das Produkt mentaler Funktionen ist, fällt ebensowenig in das empirische Bewußtsein wie seine Überhöhung durch den Begriff transzendenter Dinge an sich. Nur in der Bewußtseinslage des

transzendentalen Idealisten, nicht aber in der des empirischen Realisten kann sich daher jene Unzufriedenheit mit dem Erreichbaren einstellen. Zwischen beiden Einstellungen besteht aber psychologisch ein sehr wesentlicher Unterschied. Der Realismus ist die natürliche Lebensform des Menschen und beruht auf einem emotional bedingten und daher jeder Reflexion standhaltenden Glauben, der im außermoralischen Sinne,,praktisch" genannt werden kann, weil er die biologisch notwendige Voraussetzung jedes handelnden Eingreifens in die Umwelt bildet. Dem gegenüber ist der Idealismus nur ein Denkstandpunkt, der zwar im Vergleich mit jenem instinktiven Fürwahrhalten eine höhere Reflexionsstufe darstellt, aber nicht im unmittelbaren Daseinserlebnis des Denkenden wurzelt und daher praktisch ohne Wirkung bleibt. In diesem Sinne hatte auch Hume den Glauben an die Realität der Außenwelt und ihrer Zusammenhänge auf einen biologischen Instinkt zurückgeführt, der sich, weil er in einer tieferen Schicht der menschlichen Psyche wurzelt, jedem theoretischen Skeptizismus überlegen erweist. Eben deshalb konnte auch Kant sagen, es bleibe in Ansehung aller nur möglichen Erfahrung alles ebenso, als wenn er diesen Abfall von der gemeinen Meinung gar nicht unternommen hätte. Daher besteht jener erkenntnistheoretische Pessimismus auch gar nicht für den empirischen Forscher, sondern nur für den metaphysisch gerichteten Denker. Aber auch für diesen ist nach Kant wieder durch den moralischen Glauben gesorgt, insofern jeder, der an gewissen metaphysischen Vorstellungen ein starkes Gemütsinteresse nimmt, auf sie ebenso zu reagieren pflegt wie auf seine Erfahrungen: für ihn werden auch bloße Ideen ganz von selbst zu Wahrheiten. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß sich unter bestimmten psychologischen Voraussetzungen mit dem Idealismus nicht auch eine echte Stimmung schmerzlichen Verzichts auf absolute Erkenntnis verbinden könne. Es soll nur darauf hingewiesen werden, daß in der Kantischen Darstellung infolge der nur unvollkommenen Berücksichtigung der psychologischen Momente die negative Seite des Ergebnisses der Vernunftkritik unverhältnismäßig stark in den Vordergrund tritt. Ihr positives Ergebnis ist nach der Meinung ihres Urhebers vor allem die Neubegründung der Erfahrungserkenntnis auf apriorischer Grundlage,

die systematische Herausarbeitung dieser Grundlage selbst (die neue,,Metaphysik") und die sichere Grenzbestimmung zwischen Wissen und Glauben, mit der auch den letzten, nicht mehr beweisbaren Überzeugungen ihr Recht gegeben wird. Daß man sich damit genügen lassen kann, beweist das Beispiel Kants selbst, der, weit entfernt von einer resignierten Stimmung, vielmehr von einer felsen festen Zuversicht auf den endlichen Sieg der Vernunft in allen menschlichen Dingen beseelt war187.

Wertvoller als die Besonderheiten des Kantischen Apriorismus wird uns heute die kritische Theorie der Erfahrung gelten, welche noch eine Fülle unausgeschöpfter Probleme in sich birgt. An der strengen,,Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit" unseres Wissens liegt uns nicht mehr so viel wie Kant, desto mehr aber an einem Verstehen seiner Grundlagen. Auch Kants Theorie der Erfahrung ist aber nur richtig zu würdigen, wenn man sich des realistischen Zuges im transzendentalen Idealismus bewußt bleibt. Er ist aber nicht in der problematischen Annahme von Dingen an sich zu suchen, sondern in der erkenntnistheoretischen Spannung, die zwischen dem empirischen Erkenntnissubjekt und seinem Gegenstande besteht. Für die menschliche Erkenntnislage ist es eben gar nicht so, daß das Denken erst im Prozeß des Erkennens seine Objekte zu erzeugen hätte. Es findet sie vielmehr vor oder ist wenigstens überzeugt, daß sie unabhängig von ihm bestehen und nur von ihm erfaßt werden wollen. Die tiefste Frage der Transzendental philosophie: wie ist Erfahrung selbst möglich? bezieht sich daher allererst auf die Möglichkeit geordneter und zusammenhängender Außenwelts wahrnehmungen und erst in zweiter Linie auf die der Erfahrungswissenschaft. Wäre die theoretische Philosophie Kants nur auf die Grundlegung der Geometrie Euklids und der Physik Newtons gerichtet, so wäre sie auch mit deren Schicksalen unzertrennlich verknüpft. Dadurch aber, daß sie die Grundlage jedes Wissens, das empirische Bewußtsein selbst sich zum Problem macht, sind die von ihr angeregten Fragen dem Wandel der Zeit entzogen, mag man ihre von Kant gegebenen Lösungen im einzelnen gutheißen oder nicht. Denn gerade die gewöhnliche Erfahrung ist das Fundamentale und Bleibende in allem Wechsel der Theorien. Die Sonne Homers scheinet auch uns, aber die theoretischen Ansichten über die Natur

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