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gibt es Genies. In der Wissenschaft unterscheiden sich die großen Geister nur dem Grade, nicht der Art nach von den Lehrlingen und Nachahmern. Was ein Newton in seinen,,Prinzipien der Naturphilosophie" vorgetragen hat, kann man, so groß seine Leistung war, durch Lernen sich aneignen. Niemand kann aber, auch nach der besten Vorschrift, geistreich dichten lernen. Der Grund dafür liegt darin, daß Newton alle Schritte, die zu seinem unsterblichen Werke führten, anderen anschaulich vorzuführen vermag. Ein Homer oder ein Wieland vermöchten es nicht, weil sie ja selbst nicht wissen, wie die phantasiereichen Ideen in ihren Köpfen sich zusammenfanden. Vergebens ist es daher, wenn seichte Geister sich zu Genies dadurch aufzublähen suchen, daß sie alle Regeln verachten und glauben,,,man paradiere besser auf einem kollrigen Pferde als auf einem Schulpferde". Noch weniger hatte Kant für das Genialitätsgebaren in der Wissenschaft übrig. Man wisse nicht, meint er, ob man mehr über den Gaukler dieser Art selbst lachen solle oder über das Publikum, welches sich treuherzig einbilde, daß sein Unvermögen zu verstehen von der ihm zugeworfenen Gedankenfülle herrühre. Der Gedanke, daß im genialen Künstler eine schöpferische Naturkraft wirke, welcher wieder den weiteren Gedanken nahelegt, daß auch umgekehrt im Leben und Weben der Natur ein unbewußt künstlerisches Schaffen am Werke sei, hat in Goethe stärksten Widerhall gefunden und hat besonders auf Schellings Denken befruchtend eingewirkt172.

,,Kunst" im allgemeinen kann nur eine Hervorbringung durch Freiheit heißen, also durch eine von Vernunft geleitete Willkür. Nur in übertragenem Sinne kann daher von einer Kunst der Tiere, z. B. der Bienen, die Rede sein. Sie ist mechanische Kunst, wenn sie bloß die Hervorbringung eines zweckmäßigen Gegenstandes für den Gebrauch bezweckt; sie ist ästhetische Kunst, wenn ihr um die Erregung von Lustgefühlen zu tun ist. Die letztere scheidet sich wieder in angenehme und in schöne Kunst, je nachdem sie bloß lustvolle Empfindungen zu erregen oder lustbetonte Beurteilungen zu veranlassen bestrebt ist. Beispiele der ersten Art sind die Kunst der geselligen Unterhaltung, Tafelschmuck, Spiele zum bloßen Zeitvertreib. Die schönen Künste teilt Kant nach den

menschlichen Ausdrucksmitteln in solche des Wortes, der Gebärden und der Töne (der äußeren Sinneseindrücke überhaupt). Demnach gibt es drei Arten schöner Künste: redende (Beredsamkeit und Dichtkunst), bildende (Plastik, Malerei und schöne Gartenkunst) und solche des schönen Spiels der Empfindungen (reine Farbenkunst und Musik). Über die einzelnen Künste finden sich manche feine Bemerkungen, welche besonders durch die damit verknüpften Werturteile interessante Einblicke in das Gemüts- und Geistesleben des Philosophen eröffnen. Am stärksten war in Kant der Sinn für Naturschönheit entwickelt, so wenig Nahrung ihm auch die einförmige ostpreußische Landschaft zu geben vermochte. Seine einsamen Spaziergänge erlangten eine gewisse Berühmtheit. Und wenn er das Bergsteigen im ,,Eisgebirge" nur gelten lassen wollte, sofern es nicht aus bloßer,,Liebhaberei". sondern zu Forschungszwecken (wie bei Saussure) geschehe, so wird man das seiner Unbekanntschaft mit dessen Reizen hatte er doch niemals im Leben einen wirklichen Berg gesehen — zugute halten müssen. Vieles mochte ihm seine bewunderungswürdige innere Anschauungs- und Vorstellungskraft ersetzen, von der sein Biograph Jachmann staunend berichtet. So gab er einmal in Gegenwart eines gebürtigen Londoners eine so genaue und zutreffende Schilderung der Westminsterbrücke, daß dieser ihn fragte, wie lange er in London geweilt und ob er sich besonders der Architektur gewidmet habe? Auch von der italienischen Landschaft soll er einmal in Gesellschaft mit gleichem Erfolge ein Bild von lebendigster Anschaulichkeit entworfen haben. Zur Kunst aber hat Kant vielleicht zum Teil aus Mangel an Anregung, vielleicht aber auch gerade wegen seiner lebhaften, der Nachhilfe wenig bedürftigen Phantasie niemals ein rechtes Verhältnis gefunden. Am meisten war er noch der Poesie geneigt. Seine mehr verstandesmäßige Naturanlage und die Schlichtheit seiner Lebensauffassung machten ihm manche Erzeugnisse der zeitgenössischen Literatur von vornherein verhaßt. Alles Weichliche, Sentimentale, Schwärmerische, empfindsame Romane und weinerliche Trauerspiele waren ihm in der Seele zuwider. Am meisten Geschmack fand er an humoristischen und satirischen Werken. Unter den Alten waren Horaz und Juvenal, unter den Neueren Cervantes, Swift, Mon

taigne und besonders Lichtenberg seine Lieblingsschriftsteller. Außerdem hat er sicher Haller, Pope, Wieland und Bürger gekannt und gelesen. Zu Goethe und Schiller kam er in kein inneres Verhältnis mehr. Den Namen Goethes suchen wir vergebens in seinen Schriften. Gleichwohl lag seine eigene Ästhetik ganz in der Richtung jener Erneuerung der deutschen Literatur, wie sie von Lessing, Bodmer und den Engländern ausgegangen war, und stand im schärfsten Gegensatze zum Wolffschen Rationalismus und der Nachahmungsästhetik eines Gottsched. Für Gemälde und Kupferstiche soll ihm, wie ein anderer Biograph (Borowski) berichtet, überhaupt jeder Sinn gefehlt haben. Nur ein Bildnis Rousseaus schmückte die kahlen Wände seines Zimmers. Am allerwenigsten aber hatte er für die Musik übrig. Hier fehlte ihm vor allem die persönliche Empfänglichkeit, daher er Konzerten äußerst selten beiwohnte und am ehesten noch Militärmusik leiden mochte. Aber auch aus prinzipiellen Gründen verhielt er sich ablehnend. Obgleich er ihre Kraft, das Gemüt lebhafter und inniglicher als alle anderen Künste zu bewegen, anerkannte, stellt er sie doch an die letzte Stelle unter den schönen Künsten,,,weil sie bloß mit Empfindungen spielt". Jener Umstand nämlich, daß sie eine Sprache der Affekte" ist, begründet den allgemeinen Beifall, den sie findet. Als ,.regelmäßiges Spiel von Empfindungen des Gehörs" rechnet sie aber nur deshalb nicht zu den bloß angenehmen Künsten, weil sie geeignet ist, der Poesie zum,,Vehikel“ zu dienen. Auch meinte Kant, es gäbe unter den Poeten nicht so viele seichte Köpfe als unter den Tonkünstlern, weil jene doch auch zum Verstande, diese aber bloß zu den Sinnen zu reden pflegen. Selbst oft durch Musik in seiner Nachbarschaft im Denken gestört, meinte er nicht ganz mit Unrecht, es hänge ihr ein,,gewisser Mangel an Urbanität“ an, indem sie,,ihren Einfluß weiter, als man ihn verlangt, ausbreitet und so sich gleichsam aufdrängt, mithin der Freiheit anderer, außer der musikalischen Gesellschaft, Abbruch tut". Er vergleicht sie in dieser Hinsicht mit einem parfümierten Taschentuche. Trotz mancher Eigenheiten erscheint jedoch Kants Ästhetik um so bewunderungswürdiger, als ihm selbst jede lebendige Berührung mit der Kunst fehlte und auch seine Naturanschauung sehr beschränkt war. Man hat wiederholt und mit Recht be

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merkt, daß Kant durch die genial-intuitive Art, mit der er trotzdem das Wesen des Ästhetischen in einer bis dahin ungeahnten Weise aufhellte, seinen eigenen Satz, daß das Genie auf die Kunst allein beschränkt sei und in der Wissenschaft kein Heimatrecht besitze, widerlegt habe173

XI. RELIGIONSPHILOSOPHIE.

1. DIE RELIGION ALS PROBLEM

Alle Philosophie ist ursprünglich Streben nach Weisheit. Nur im Dienste dieses Ideals wurde sie zur Wissenschaft. Nicht immer blieb sie jenes erhabenen Zieles eingedenk, sondern verfolgte vielfach ihre spekulativen Interessen, als wenn diese Selbstzweck wären, während sie doch nur in ihrer Beziehung auf jenen höheren Zweck ihre letzte Rechtfertigung finden. Höher als die rein wissenschaftliche Aufgabe der Philosophie steht daher ihre allgemein menschliche Bestimmung. Oder wie Kant dies ausdrückt: ihr ,,Schulbegriff“ ist ihrem,,Weltbegriff" untergeordnet. Ihrem Schulbegriffe nach ist sie das logisch einheitliche System aller philosophischen Erkenntnisse. Ihrem Weltbegriffe nach aber ist sie die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft. Erst dieser hohe Begriff gibt der Philosophie Würde und damit absoluten Wert. Der Philosoph in diesem Sinne ist nicht mehr bloßer,,Vernunftkünstler", sondern ein Lehrer im Ideal, der alles menschliche Denken und Forschen nur als Werkzeug benutzt, um die letzten Absichten der Vernunft zu fördern, und ihm erst dadurch die höchste Weihe und wahren Sinn verleiht. Seine vollendete Erscheinung wäre das Ideal des Weisen, welcher durch Lehre und Beispiel als Gesetzgeber der Menschheit wirkt, welchem nur in der Idee existierenden Urbilde zu gleichen sich aber niemand anmaßen darf. Jene wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft lassen sich nun in Gestalt dreier Fragen darstellen:

1. Was kann ich wissen?

2. Was soll ich tun?
3. Was darf ich hoffen?

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Auf die erste Frage antwortet die Transzendentalphilosophie und die Metaphysik der Natur in der neuen Bedeutung des Wortes; auf die zweite die Moralphilosophie oder die Metaphysik der Sitten; eine Antwort auf die dritte verspricht uns die Religion. Eine allfällige vierte Frage: Was ist der Mensch ?" fällt der Anthropologie anheim. Von ihnen ist die zweite die bei weitem wichtigste. Denn der höchste unter jenen wesentlichen Zwecken ist die Bestimmung des Menschen, worüber uns nur die Moral aufzuklären vermag. Versteht man unter einem „Primat“ den Vorzug eines Interesses über alle anderen, so besitzt darum die praktische Vernunft den Primat über die theoretische, weil unser höchstes Interesse ein praktisches ist, dem gegenüber mit Rücksicht auf die Frage nach der letzten Bestimmung des Menschen alle spekulativen Interessen untergeordnet erscheinen 174.

Kant hat es daher seit den „,Träumen“ immer wiederholt und mit gleichem Nachdrucke eingeschärft, daß unsere Pflichten ganz unabhängig sind von unseren Hoffnungen auf ein jenseitiges Leben und daß daher auch die Moral ganz unabhängig ist von der Religion. Die moralischen Gesetze gebieten schlechthin und ,,alle Menschen könnten hieran auch genug haben, wenn sie (wie sie sollten) sich bloß an die Vorschrift der reinen Vernunft im Gesetze hielten. Was brauchen sie den Ausgang ihres moralischen Tuns und Lassens zu wissen, den der Weltlauf herbeiführen wird? Für sie ist's genug, daß sie ihre Pflicht tun; es mag nun auch mit dem irdischen Leben alles aus sein und wohl gar in diesem Glückseligkeit und Würdigkeit niemals zusammentreffen". Obzwar so die Moral an und für sich keinerlei Zweckvorstellung als Bestimmungsgrundes bedarf, so wohnt dem Menschen dennoch ein von der Vernunft selbst gestütztes Bedürfnis inne, nach dem Erfolge seines pflichtgemäßen Tuns zu fragen und sich so einen Endzweck seines moralischen Strebens zu erdenken. Seine emotionale Verstärkung findet dieser Finalgedanke dann insbesondere durch das Glückseligkeitsstreben des Menschen, das ihm als Sinnenwesen von Natur aus innewohnt und das, so wenig es in der Entscheidung sittlicher Fragen mitzureden hat, sich um so vernehmlicher zum Worte meldet, wo es sich um den Enderfolg eines im Dienste der Pflicht verbrachten Lebens handelt. Daher pflegt das moralische

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