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Anweisungen den breitesten Raum ein. Er weiß hier viel Vortreffliches zu sagen. Vor allem kommt es ihm natürlich darauf an, das Pflichtgefühl zu wecken, aber immer unter Berücksichtigung der kindlichen Natur. Der Wille des Kindes darf nicht gebrochen, sondern darf nur gelenkt, aber allerdings auch nicht durch unzeitiges Nachgeben (z. B. bei Schreien) zum Eigensinn erzogen werden. Der Anruf an das Ehrgefühl (,,Pfui, schäme dich!") sollte nur sparsam und nur bei moralischen Verfehlungen (z. B. Lügen) gebraucht werden. Erziehung zur Arbeit und geordneter Tageseinteilung sind die besten Mittel der Charakterbildung. Belohnungen taugen nichts, denn sie machen das Kind eigennützig; Strafen müssen mit Vorsicht und ohne unnötige Demütigung gegeben werden, damit das Kind nicht zur falschen Unterwürfigkeit erzogen werde. Der Kinderhimmel an sich schon eine Erfindung der Erwachsenen sollte nicht unnötig getrübt werden. Soviel als nur möglich sollten alle Kinder in Freiheit erzogen werden, denn,,das fröhliche Herz allein ist fähig, Wohlgefallen am Guten zu empfinden". Jede Religionsübung, welche das Gemüt verdüstert - hier sprechen Kants eigene Jugenderfahrungen ist falsch. Gewisse Religionsvorstellungen den Kindern beizubringen, ist allerdings unvermeidlich, damit sie, wenn sie andere beten sehen, wissen, zu wem und warum es geschieht, und nicht abergläubische Vorstellungen sich festsetzen. Immer aber sollte man ihnen einschärfen, daß man dem höchsten Wesen nicht anders gefällig werden kann als dadurch, daß man ein besserer Mensch werde165.

Kants Bemerkungen, in unfertigem Zustande überliefert, beschränken sich im allgemeinen auf das Kindes- und früheste Jünglingsalter. Mag es da manchmal komisch berühren, den alten Junggesellen ausführliche Anweisungen für das richtige Säugen, Windeln, Gehenlehren u. dgl. der Kinder entwickeln zu hören, und mag auch einzelnes, wie z. B. die von Franklin übernommene sonderbare Anleitung zum Schwimmunterricht, praktisch unanwendbar sein, so muß man doch wieder staunen, wie weit der Scharfblick des Philosophen auch in diesen Dingen seiner Zeit vorausgeeilt war und vieles vorwegnahm, was uns heute als Errungenschaft modernster Hygiene erscheinen möchte.

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Es wäre nur zu wünschen, daß auch heute noch alle Eltern Kants Ausführungen lesen würden.

X. DIE PHILOSOPHIE DES SCHÖNEN UND ERHABENEN

1. DIE GESCHMACKSURTEILE

In der ,,Kritik der reinen Vernunft" hatte Kant noch die Hoffnung des ,,vortrefflichen Analysten Baumgarten" (eines Schülers Wolffs), die Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen und sie damit zum Range einer Wissenschaft zu erheben, als verfehlt bezeichnet, weil die Subjektivität des ästhetischen Wohlgefallens nur eine empirische Behandlung dieses Themas zulasse. In diesem Sinne waren auch die,,Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" vom Jahre 1764 gehalten: als Aufzeichnung psychologisch feiner und interessanter Bemerkungen ohne systematische Absicht. Späterhin änderte Kant seine Ansicht. Der Umstand, daß auch jenes scheinbar ganz der Subjektivität anheimgegebene Spiel der Vorstellungskräfte, das wir angesichts des Schönen und Erhabenen erleben, sich in Urteilen ausdrückt und diese Urteile einen, wenn auch eingeschränkten, Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, schien ihm eine kritische Untersuchung ihres Prinzipes zu erfordern und zugleich Hoffnung zu geben, daß auch hier irgendwelche Regeln a priori zu entdecken wären. Versteht man unter Geschmack ein,,Vermögen der Beurteilung des Schönen", so bilden also die Geschmacksurteile den Gegenstand der Untersuchung. Sie wird geleistet in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft", dem ersten Teile der ,,Kritik der Urteilskraft" (1790), für welchen ursprünglich der Titel „Kritik des Geschmackes" geplant war164.

Von Erkenntnisurteilen unterscheiden sich die Geschmacksurteile sehr wesentlich dadurch, daß ihr Bestimmungsgrund ein subjektiver ist. Sie beziehen nämlich ihre Vorstellungen nicht auf ein Objekt, mit dem sie übereinzustimmen hätten, sondern vielmehr gerade auf das Subjektivste in uns, auf das Gefühl der Lust und Unlust, das niemals ein,,Erkenntnisstück" werden kann. Ihr Urteilscharakter trennt sie aber doch wiederum offensichtlich von rein subjektiven Aussagen über zuständliche Erlebnisse.

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Aus dieser eigentümlichen Doppelnatur der Geschmacksurteile erklärt sich, daß się zwar als Urteile in ge wissem Sinne Allgemeingültigkeit beanspruchen, aber doch als subjektiv bedingt nicht in dem strengen Sinne wie die Erkenntnisurteile, sondern gleichsam nur als Aufforderung an andere, sich unserem Urteile anzuschließen, wobei die Voraussetzung zugrunde liegt, daß alle unter gleichen Umständen auch eine gleiche Gefühlslage wie wir in sich erleben müßten. Sie beanspruchen somit nur eine subjektive, nicht eine objektive Allgemeinheit der Geltung. Wer etwas für schön erklärt, mutet auch anderen zu, daß sie sein Urteil teilen sollen, ohne doch zu verlangen, daß sie es teilen müßten wie im Falle eines verstandesmäßig begründeten Erkenntnisurteiles. Eine gewisse gemeinsame Grundlage der Beurteilung wird aber auch von diesem bedingten Anspruche auf Allgemeingültigkeit vorausgesetzt: eine Art ästhetischer Gemeinsinn also, welcher die Mitteilbarkeit des ästhetischen Erlebnisses ermöglicht und es über die Sphäre rein gefühlsmäßiger Subjektivität hinaushebt. Eine solche Einstimmigkeit in Fragen des Wohlgefallens oder Mißfallens setzt aber wieder voraus, daß ihr ein Prinzip a priori zugrunde liegt. Dieses kann nicht materialer, sondern nur formaler Art sein und daher überhaupt nicht in der Beschaffenheit der Dinge als solcher liegen, denn was auf Empfindung beruht, ist niemals zu einer Verallgemeinerung geeignet. Das Formale nun, was eine Gemeinsamkeit des Wohlgefallens bedingt, ist eine gewisse Angemessenheit der sinnlichen Eindrücke zu unserem Auffassungsvermögen, insofern durch sie unsere Gemütskräfte in ein wohltuendes Spiel versetzt werden. Nicht die Gegenstände, welche wir schön" oder „erhaben" nennen, sind dies eigentlich, sondern nur ihre Wirkung auf uns ist es, welche diese Namen verdient. Diese Wirkung besteht darin, daß durch gewisse Anschauungen ein lustvolles Zusammenoder Gegeneinanderwirken unserer Erkenntnisvermögen bedingt wird: im Schönen ein harmonisches Spiel von Einbildungskraft und Verstand, im Erhabenen ein aus höheren Motiven wohlgefälliger Widerstreit zwischen Sinnlichkeit und Vernunft. Die Dinge selbst können aber nur deshalb schön oder erhaben heißen, weil sie durch ihre (an sich indifferente) Beschaffenheit geeignet sind, eine solche Re

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aktion in uns auszulösen. Insofern kann von ihrer zweckvollen Abgestimmtheit auf unsere Gemütsanlage gesprochen werden. Diese Art Zweckmäßigkeit ist aber im Unterschied von der Naturteleologie eine bloß subjektive und formale. Subjektiv: weil sie nur in Hinsicht ihrer Wirkung auf die subjektive Auffassung besteht. Formal: weil es sich hier weder um eine äußere Zweckbestimmtheit handelt, noch um die Übereinstimmung der Form eines Gegenstandes mit der Möglichkeit seiner Existenz, sondern nur um die Abgestimmtheit des Formalen an ihm für eine ästhetische Anregung. Sie ist eine „Zweckmäßigkeit ohne · Zweck". Das durch sie angeregte freie Spiel der Gemütskräfte ist aber mit Lust verbunden. Diese lusterzeugende Zweckmäßigkeit ist nun der eigent liche Gegenstand der ästhetischen Beurteilung. Sie erfolgt nicht durch Einordnung der Erscheinungen unter Begriffe wie in der ,,bestimmenden“ Urteilskraft, sondern ist, ähnlich der teleologischen Naturbetrachtung, nur eine Art der Betrachtung, also Sache der,,reflektierenden" Urteilskraft. Damit rechtfertigt Kant den sonst schwer verständlichen Zusammenschluß seiner Ästhetik mit der Philosophie des Organischen zu einem Werke. Die Grundlage der ästhetischen Urteile ist somit ein a priori bestimmtes Verhältnis der Gemütskräfte, mit dem sich unmittelbar Lustgefühle verbinden. Nicht diese selbst bilden den Gegenstand der Beurteilung, sondern ihre Voraussetzung: die Angemessenheit gewisser Anschauungen für ihre Erregung. Daraus erklärt es sich, wie über ein scheinbar so ganz subjektives Phänomen, wie es der Geschmack ist, dennoch Urteile mit dem Anspruche auf (subjektive) Allgemeingültigkeit möglich sein können165.

Die ästhetischen Theorien vor Kant hatten entweder einseitig das Gefühlsmoment oder ebenso einseitig den Urteilscharakter des ästhetischen Zustandes betont. Jenes geschah durch die empiristisch-psychologische Richtung, deren Hauptvertreter Edmund Burke war. Sie führte das Schöne und das Erhabene auf spezifische Gefühlszustände zurück, ohne es jedoch von den verwandten Gefühlsweisen des Angenehmen und Guten hinreichend scharf abgrenzen zu können. Der rationalistischmetaphysischen Richtung der der Leibniz-Wolffschen Schule wiederum, deren namhaftester Vertreter Alexander

Baumgarten war, bedeutete es nur die sinnlich-verworrene Vorstufe einer Erkenntnis des Vollkommenen (perfectio phaenomenon). Kant vermittelt auch hier den Gegensatz, indem er der emotionalen und der intellektuellen Seite in gleicher Weise gerecht zu werden sucht: zugrunde liegt eine (zumeist als nur undeutlich bewußt zu denkende) Beurteilung der subjektiv-formalen Zweckmäßigkeit, an welche sich unmittelbar eine lustvolle Gefühlsreaktion anschließt; der abschließende Ausdruck des Ganzen ist dann das ausgesprochene ästhetische Urteil. So ist es wohl Kants nicht ganz deutlich hervortretende Meinung. Ein bloßes Zweckurteil vor seiner Sanktion durch das Gefühl wäre kein ästhetisches Urteil; das rein Gefühlsmäßige böte wieder keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Das Lustgefühl gibt so den Inhalt, das Urteil die Form der ästhetischen Wertung. Damit ist auch die Eingliederung des Ästhetischen in das Schema des Systems erreicht. Wie die Urteilskraft zwischen Verstand und Vernunft, so steht das Gefühlsvermögen zwischen Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen in der Mitte. Der ästhetische Zustand ist somit die Vermittlung zwischen Erkennen und Wollen und damit auch zwischen Sein und Sollen, Natur und Freiheit166.

2. DAS SCHÖNE UND DAS ERHABENE

Geschmacksurteile im engeren Sinne heißen jene ästhetischen Urteile, welche sich auf das Schöne beziehen. Das Wohlgefallen am Schönen beruht auf einem harmonischen ,,Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand“, von Anschauung und Begriff in der einheitlichen Zusammenfassung eines gegebenen Mannigfaltigen. Jener Prozeß also, der sich bei jeder Auffassung eines Gegenständlichen abspielt, verläuft hier mit besonderer und darum lustbetonter Leichtigkeit. Ein Gegenstand nun wird,,schön“ genannt, wenn er im Hinblick auf diese seine subjektive Wirkung zweckmäßig heißen kann. Eine Zweckmäßigkeit dieser Art hat mit Absicht nichts zu tun und darf mit ihr nichts zu tun haben, wenn der ästhetische Eindruck nicht darunter leiden soll. Eine Landschaft ergötzt uns, obwohl sie nicht zu diesem Zwecke hergerichtet wurde, und ein Kunstwerk wieder darf nicht eine Absicht des Gefallenwollens verraten. Das charakteristische Merkmal eines solchen Wohlgefallens ist, daß es ausschließlich an der bloßen Vor

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