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sondern auch seiner wissenschaftlichen Entwicklung. Mit strengster Gewissenhaftigkeit hat Kant sein Lehramt bis zur Grenze der Altersschwäche versehen und hat sechsmal die Würde eines Dekans und zweimal die eines Rektors bekleidet. Nach einer längeren Pause der Produktion, in der langsam, aber mit sicheren Schritten seine gewaltige Gedankenarbeit heranreifte und über die wir nur durch seinen Briefwechsel mit dem Berliner Arzte Markus Herz einigermaßen unterrichtet sind, folgten einander verhältnismäßig rasch die kritischen Hauptwerke: 1781 erschien die „Kritik der reinen Vernunft", 1783 die „Prolegomena zu jeder künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können", 1785 die,,Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", 1786 die „Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft", 1788 die „Kritik der praktischen Vernunft", 1790 die „Kritik der Urteilskraft", 1793 die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", 1797 die „Metaphysik der Sitten"; dieses letztere Werk sowie das hinterlassene Manuskript „Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" zeigen bereits unverkennbare Spuren beginnender Senilität. Nur einmal wurde diese überreiche Wirksamkeit von außen gestört. Der Minister des reaktionären Königs Friedrich Wilhelm II., Joh. Christoph Wöllner, verbot in einem Edikt dem siebzigjährigen Philosophen, weiterhin über Religion zu schreiben oder zu lehren, und zwar wegen der ihm zur Last gelegten,,Entstellung und Herabwürdigung mehrerer Haupt- und Grundlehren der h. Schrift und des Christentums", wobei ihm,,bei fortgesetzter Renitenz“ „,unfehlbar unangenehme Verfügungen" angedroht wurden. Kant suchte sich in einem ausführlichen Antwortschreiben zu rechtfertigen, mit dem stillschweigenden Vorbehalt, durch die Wendung „als Euer Majestät getreuester Untertan" nach dem Tode des Königs von jener Schweigepflicht entbunden zu sein. In einem nachgelassenen Zettel hat Kant dieses Verhalten sehr richtig begründet:,,Widerruf seiner Überzeugung ist niederträchtig, aber Schweigen in einem Falle wie der gegenwärtige ist Untertanenpflicht; und, wenn alles, was man sagt, wahr sein muß, so ist es darum nicht auch Pflicht, alle Wahrheit öffentlich zu sagen." So berechtigt diese Scheu des großen Mannes vor dem Zugreifen einer brutalen Staatsgewalt und so einwandfrei jener Grundsatz auch war, so müssen wir doch bedauern, daß ihm zufolge Kant manches unterdrückt haben mag, was

zur genauen Kenntnis seiner wahren Ansichten in religiösen Fragen von Wichtigkeit gewesen wäre. Allmählich trat nun ein zunehmender Verfall seiner körperlichen und geistigen Kräfte ein. Am 23. Juli 1796 hielt Kant seine letzte Vorlesung. In den letzten Jahren von treuen Freunden umsorgt, aber vom geistigen Leben abgeschlossen, verschied Kant am 12. Februar 1804. Sein Ruhm war schon damals in der ganzen gebildeten Welt verbreitet.

2. KANTS PERSÖNLICHE EIGENART

Die vulgäre Meinung ist geneigt, bei aller Anerkennung von Kants intellektuellen Vorzügen das rein Menschliche an ihm zu unterschätzen. Er gilt ihr als wunderlicher Pedant von dürftigem Innenleben und seine große Leistung daher gleichsam als etwas Unpersönliches, das sozusagen nur zufällig mit seinem Namen verknüpft ist. Diese irrtümliche Auffassung bedarf um so mehr der Berichtigung, als sie geeignet ist, von vornherein auch das Werk des Philosophen in einem falschen Lichte erscheinen zu lassen. Man versteht aber sogar die „Kritik der reinen Vernunft" nicht ganz, wenn man sie bloß als Produkt abstrakten Denkens auffaßt. Nun ist nicht zu leugnen, daß Kants Lebensform, besonders in vorgerückterem Alter, Züge aufweist, welche ihr den Anschein einer gewissen Enge und Eingeschnürtheit aufprägen. Sie sind aber nicht das eigentlich Primäre an seiner Natur, sondern zum größten Teil das Werk einer jahrzehntelangen strengen Selbsterziehung. Denn in der Tiefe dieser Natur wohnte ein reiches und leicht verletzbares Gemüt, dem es oft schwer genug gefallen sein mag, die starke innere Spannung zu ertragen, welche diese Philosophie ihrem Anhänger zumutet. Ja, diesem unvergleichlich scharfen und kritischen Geist, der es einmal sein Schicksal nannte, in die Metaphysik,,verliebt“ zu sein, war sogar eine Neigung zu platonisierender Mystik keineswegs fremd; sie durchzieht, dem feineren Blick unverkennbar, als Unterstrom sein ganzes Schaffen, so wenig ihr auch strengste Geisteszucht gestattete, sich an die Oberfläche zu wagen. Man schreibt auch keine solchen gigantischen Werke, ohne im Innersten vom philosophischen Eros durchglüht zu sein! Das aber eben ist die eigentümliche Größe dieses Mannes, daß jener Eros auch eine gewaltige Willenskraft ganz in seinen Dienst stellte, so daß sich diesem Geist alles in das helle Licht der Vernunft verklärte jener Vernunft, die Kant selbst als „das

höchste Gut auf Erden" pries und deren,,Kritik" doch eben wieder sein Lebenswerk ausmachte. Wir verstehen die Eigentümlichkeiten von Kants äußerer Lebensform so am besten, wenn wir sie auf den natürlichen Schutzinstinkt des genialen Menschen zurückführen, der im Gefühl des Großen, das ihm auferlegt ist, die inneren und äußeren Hemmungen seiner Schaffenskraft auf ein Minimum zu verringern bestrebt ist. Daraus erklärt sich die Unterordnung alles Emotionalen und Impulsiven unter das Rationale bei Kant, die selbstgewollte Einförmigkeit seines Lebenslaufs wie dessen pedantische Ordnung und Maximenhaftigkeit, vermöge der sich uns Kant als ein Mann der Grundsätze darstellt, dem es nicht genügt, in dem oder jenem Falle richtig zu handeln, sondern der auch sein Handeln jederzeit vom Bewußtsein seiner Richtigkeit begleitet sehen will. Eben daraus erklärt sich auch jener Zug von zwar recht zeitgemäßer, uns aber oft übertrieben erscheinender Vorsicht, ja Ängstlichkeit im Aussprechen neuer Wahrheiten, den wir manchmal an ihm beklagen müssen. Daraus erklärt sich endlich Kants so stark ausgeprägter Sinn für äußere Unabhängigkeit: seine Sparsamkeit in der Vermeidung unnützer Auslagen, seine Ehelosigkeit, seine Seẞhaftigkeit, die ihn die weitere Umgebung seiner Vaterstadt nie verlassen ließ, seine rigorose Pünktlichkeit. Es ist die Ökonomie des Genies mit seiner Zeit und Kraft. Auch sein körperliches Wohlbefinden, das er einem schwächlichen Körperbau und einem Hange zur Hypochondrie gleichsam abtrotzen mußte, war vermöge eines Systems strengster Gesundheitsregeln, die er in der Schrift: „Von der Macht des Gemüts durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu werden" (1798) niedergelegt hat, gewissermaßen sein eigenes Werk. Als. der vollkommenste Mensch galt ihm der, welcher die vollständigste Herrschaft der Vernunft über seine Leidenschaften errungen, und einer seiner ersten Biographen, R. B. Jachmann, berichtet auch von ihm, „er habe eine unumschränkte Herrschaft über seine Neigungen und Triebe ausgeübt". Bildet so den Grundzug seines Wesens ein Zug von stillem Heroismus in der Hingabe der ganzen Persönlichkeit an eine große, früh erkannte Aufgabe, so war doch wiederum Kants Gebaren im gewöhnlichen Leben weit entfernt von jeder Pose, aber auch von jedem Wissensstolz, jeder Selbstgenügsamkeit oder gar Genialitätssucht. Strengste Gewissenhaftigkeit und Wahrhaftigkeit waren vielmehr das hervorstechendste Kennzeichen seiner

sittlichen Persönlichkeit. Die ,,wetterwendische und auf den Schein angelegte Gemütsart" war in der Tat, wie er selbst einmal sagt, dasjenige, worin zu geraten er niemals Gefahr lief 5. Im übrigen war Kant keineswegs eine ungesellige oder weltfremde Natur. Unausgesetzt bemüht, seine Welt- und Menschenkenntnis zu erweitern, wich er auch angenehmer Geselligkeit und dem Verkehr mit Menschen der verschiedensten Berufsklassen keineswegs aus. Neben großer Liebe zur Natur, die aus vielen feinen Bemerkungen in seinen Schriften hervorgeht, erfüllte ihn auch ein lebhafter Sinn für Freundschaft, wie ihn solche mit Hamann und Hippel, mit dem Kaufmanne Green, dem Bankdirektor Ruffmann und dem Oberförster Wobser verband. Es ist das Bild des echten Weisen, das uns in der Charaktergestalt des Königsberger Denkers vor Augen tritt: innere Größe bei äußerer Schlichtheit, Vorherrschaft der Reflexion, aber auf dem Grunde stärksten Erlebens, ein Heldentum der Vernunft, aber nicht bloß in der Theorie, sondern auch in der Durchdringung des ganzen Lebens mit erhabenster Reinheit und Hoheit der Gesinnung.

3. KANT ALS SCHRIFTSTELLER

Denselben Charakter wie sein Leben tragen auch Kants Schriften: sie enthalten tiefsten und reichsten Inhalt in enger, oft pedantischer Form. So wie das Programm seiner Vorlesungen zeigen auch sie eine staunenswerte Weite des geistigen Horizontes und eine Universalität des Wissens, das sich ebensowohl auf mathematisches, physikalisches, geographisches und biologisches Gebiet erstreckte wie auf theologisches und juridisches. Hingegen lag, dem unhistorischen Sinn der Aufklärungszeit entsprechend, die Geschichte weniger in seinem Gesichtskreis und selbst die Lehren früherer Philosophen beliebt er oft in recht freier Fassung wiederzugeben und sie gelegentlich dem gerade vorliegenden Interesse gemäß zurechtzubiegen. Obwohl Kants Denken nicht weniger wie z. B. das Schopenhauers in lebendiger Anschauung wurzelt, kommt dies in seinen Werken nicht recht zum Ausdruck, weil sein,,herrischer a-priori-Verstand 6" es vorzieht, seine Themen möglichst begrifflich zu fassen und ihre Darstellung einem einmal gewählten Konstruktionsschema oft gewaltsam genug anzupassen. Besonders im vorgerückteren Alter schon beim Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft" zählte Kant siebenundfünfzig Jahre — kommt diese Eigenart oft in störender

und ermüdender Weise zur Geltung. In grotesker Vergrößerung treten diese Fehler in den Fragmenten von Kants hinterlassenem Alterswerk zutage. Zwar zeigen die kleineren und besonders die früheren Schriften Kants, daß ihm auch ein anmutigerer Stil, gewürzt durch Humor und feine Ironie, zu Gebote stand, allein der wissenschaftliche Ernst und seine Gewissenhaftigkeit auch als Denker schienen ihm bei der Tiefe und Schwere der Probleme eine unvermeidliche Trockenheit und scholastische Pünktlichkeit" zu erfordern. Daher die strenge Form des ,,Systems"; denn nur das Systematische schien Kant eine Bürgschaft des Gründlichen zu sein. Dieser Hang zu einer systemisierenden Architektonik um jeden Preis, in Verbindung mit seiner Neigung zu möglichst weit getriebenen Begriffsdistinktionen und dem Bestreben, jeden Gedanken mit erschöpfender Vollständigkeit auszudrücken, verleihen seiner Darstellung oft jenen Charakter überscholastischer Schwerfälligkeit und Unübersichtlichkeit, der ihr Verständnis dem Anfänger so sehr zu erschweren pflegt. Kant selbst mußte zugeben, daß seine Werke der Durchsichtigkeit ermangeln und dadurch unrichtige Auffassungen begünstigen: „Manches Buch wäre viel deutlicher geworden, wenn es nicht gar so deutlich hätte werden sollen "". Schopenhauer vergleicht die eigentümliche Architektur Kantischer Systematik einmal mit der „gotischen Baukunst". Es ist aber auch nicht zu leugnen, daß allem guten Willen des Verfassers und dem äußeren Anschein zum Trotz gerade die kritischen Hauptwerke doch eine gewisse Unfertigkeit und Unausgereiftheit der Gedanken selbst verraten, was sie zur Quelle von manchen Unklarheiten und Widersprüchen macht und von Anfang an eine weitgehende Vielspältigkeit der Ausdeutung begünstigte. Die übergroße Fülle der neuen Ideen vermochte sich eben in einem Geiste, und wäre es der größte gewesen, nicht mit einem Male auszuleben. Zudem hat Kant nach seinem eigenen Geständnis auf die stilistische Ausarbeitung seiner Werke weniger Sorgfalt und Aufmerksamkeit verwendet als auf ihren Inhalt, was wohl auch damit zusammenhängt, daß ihm die gewaltige Gedankenarbeit in Verbindung mit seinen vielen Amtspflichten wenig Zeit dafür übrig ließ. Besonders der mehrdeutige Gebrauch wichtiger Begriffsnamen (wie z. B. Metaphysik, Erscheinung, Gegenstand usw.) bald in alter und bald in der von ihm selbst gegebenen neuen Bedeutung wirkt in dieser Hinsicht auffallend und störend. Gleichwohl entbehrt auch

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