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Es ergibt sich so, daß im sittlichen Bewußtsein zwei verschiedene Gesetzmäßigkeiten sich kreuzen: das Sittengesetz, das nur für die intelligible, und das Naturgesetz, das nur für die phänomenale Welt gilt. Dort gibt es nur ein freies Wollen, mit dem mangels eines Widerstandes die Ausführung unmittelbar gegeben wäre; hier gibt es nur ein Müssen; wenn beide sich begegnen, entsteht das Sollen. Als homo noumenon ragt so der Mensch in eine höhere Welt hinauf, als homo phaenomenon ist er fest verwurzelt in der Notwendigkeit seiner Natur. Daher die Zwiespältigkeit seines Wesens, auf dessen Schauplatz zwei Gewalten um die Herrschaft ringen: die Vernunft sucht ihn emporzuziehen, die Sinnlichkeit ihn festzuhalten. Sein eigentliches Selbst die,,bessere Person" in ihm ist aber doch die Vernunft, ja diese ist selbst der homo noumenon. Durch sie gehört er dem Übersinnlichen an, jenem,,herrlichen Ideal eines allgemeinen Reichs der Zwecke an sich selbst (vernünftiger Wesen)“, an dem er aber doch wieder nur soweit wahren Anteil hat, als er das Sittengesetz im Kampfe mit seiner sinnlichen Natur schon im Leben zu behaupten weiß. Es ist Platons Geist, der hier aus dem kritischen Philosophen spricht.

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Kant weiß aber gleichwohl seine kritische Haltung zu wahren, indem er Gedanken dieser Art ihren richtigen erkenntnistheoretischen Ort anweist. Es darf nämlich nicht vergessen werden, daß nur die ,,Natur" ein Verstandesbegriff ist, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung jederzeit zu beweisen vermag, daß aber die transzendentale Freiheit und alles, was mit ihr zusammenhängt, keine Erfahrungsgrundlage besitzt und daher nur als Idee der Vernunft gewertet werden darf, deren objektive Realität durchaus problematisch bleiben muß. Daher ist auch jene dualistische Spaltung des menschlichen Wesens nur ein,,Standpunkt“, den einzunehmen wir uns genötigt fühlen, wenn wir uns die Tatsache autonomer Selbstgesetzgebung denkbar und verständlich machen wollen: eine ,,notwendige Voraussetzung der Vernunft", aber doch nur ein,,negativer Gedanke" als Grenzabsteckung gegenüber der Sinnenwelt und ihres Einflusses auf unseren Willen. Wir haben es in erkenntnistheoretischer Bewertung — in gleichem Sinne mit einer Konstruktion der Ethik zu tun wie in der Lehre von der transzendentalen Synthesis

mit einer Konstruktion der theoretischen Philosophie. Hier wie dort soll damit eine Tatsache in ihrer Möglichkeit begriffen werden: dort die Tatsache empirischer Erkenntnis, hier die Tatsache eines autonomen sittlichen Bewußtseins. Die Frage, wie ein kategorischer Imperativ möglich sei, ist damit aber auch bis zu ihrer äußersten Grenze geführt. Sie weist zuletzt in das Transzendente hinüber, wo alles Wissen und Begreifen ein Ende hat. Damit sind noch lange nicht alle Probleme erledigt, welche sich in Hinsicht des sittlichen Lebens aufdrängen. Unbeantwortet ist vor allem die wichtigste und naheliegendste Frage,,,wie reine Vernunft praktisch sein könne", oder anders ausgedrückt: wie denn nun ein Sollen in einem Reich des Müssens überhaupt zur Geltung kommen könne und, wenn sich dies als unausdenkbar herausstellen sollte, worauf denn dann unser Verantwortlichkeitsgefühl, die strenge Stimme des Gewissens und die moralische Zurechnung eigentlich beruhen? Zu ihrer Beantwortung reicht unser verstandesmäßiges Begreifen nicht mehr aus und wenn Kant gleichwohl in wiederholtem Bemühen darauf eine Antwort zu geben versucht hat, so verliert sich diese doch in eine Region der Unbegreiflichkeit, indem nur mehr ein subjektiver Glaube religiöser Art Überzeugungen schaffen kann. Vom Standpunkte der Ethik aus ist die Erörterung des Freiheitsproblems abgeschlossen:,,Und so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Prinzipien strebt, gefordert werden kann 147.“

IX. ANGEWANDTE ETHIK

1. TUGENDLEHRE

Die reine Ethik sagt uns in ihrer formalen Strenge nicht, was wir tun sollen, sondern nur, wie wir handeln sollen; welche Gesinnung also die unumgängliche Voraussetzung moralischen Wertes ist. Der kategorische Imperativ erwartet so seine Anwendung und Erfüllung in einem bestimmten Falle vom moralischen Bewußtsein jedes Ein

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zelnen. Im Begriffe der Pflicht und der Menschenwürde hatte er allerdings auch schon bei Kant eine etwas konkretere Färbung angenommen. Immerhin war aber die reine Ethik bemüht, das Sittengesetz nur in der ganzen Würde seiner Apriorität zu entwickeln, ohne auf die besondere Natur des Menschen, wie sie durch Erfahrung erkannt wird, weiter Rücksicht zu nehmen. Sie ist ihrem Wesen nach eine Wissenschaft von den Prinzipien der Moral, nicht eine Morallehre, welche uns sagt, was wir tun und lassen sollen. Eine solche gibt Kant in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre" (1797), welche später mit den etwas früher im gleichen Jahre erschienenen,,Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre zur,,Metaphysik der Sitten" vereint wurden. Durch die Aufnahme eines empirischen Elementes, nämlich der Rücksicht auf die Natur des Menschen, wird dieses Werk zu einem,,Gegenstück" der,,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" und verhält sich zur ,,Kritik der praktischen Vernunft" ebenso, wie jene sich zur ,,Kritik der reinen Vernunft" verhalten. Seine Ergänzung würde eine ,,moralische Anthropologie" bilden, welche die subjektiven Bedingungen der Ausführung des Gesetzes zum Gegenstande hätte. Dem ethischen Grundprinzip entsprechend ist die Metaphysik der Sitten eine Lehre von den Pflichten. Hat man dabei nur die Legalität, also die äußere Übereinstimmung unserer Handlungen mit dem Gesetz im Auge, so ergeben sich die juridischen Pflichten. Richtet man aber die Aufmerksamkeit auf die Triebfedern der Gesetzeserfüllung, also auf die pflichtgemäße Gesinnung, so ergeben sich die ethischen Pflichten. Der charakteristische Unterschied beider ist, daß die Erfüllung der Rechtspflichten durch äußere Nötigung erzwungen werden kann, jene der ethischen Pflichten aber dem freien Willen des Einzelnen überlassen bleibt. Dasjenige nun, wozu uns die letzteren verbinden, ohne uns dazu zwingen zu können, ist die pflichtgemäße Gesinnung. Die im Kampfe gegen Versuchungen bewährte Gesinnungsfestigkeit aber heißt Tugend: Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht." Nennt man den entschlossenen Widerstand einem starken Gegner gegenüber ,,Tapferkeit", so ist Tugend sittliche Tapferkeit und bedeutet als solche,,die größte und einzige wahre

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Kriegsehre des Menschen". Die wahre Tugend ist daher nur eine, und wenn wir von einer Mehrheit von Tugenden sprechen, so meinen wir damit nur die Anwendung der einen Tugend auf verschiedene Gegenstände. Pflichtenlehre unter dem Gesichtspunkte der Gesinnungstüchtigkeit ist also Tugendlehre. Der in der reinen Ethik begründete, übrigens schon bei den Stoikern vorgebildete Gegensatz von Legalität und Moralität scheidet somit die ,,Rechtslehre" von der ,,Tugendlehre" 148.

Als das einzige uns bekannte Subjekt sittlichen Handelns ist der Mensch auch dessen eigentlich einziges Objekt. Die Frage ist nun, welcher Art die Verpflichtungen gegenüber der Menschheit sind, welche uns das Sittengesetz auferlegt. Historisch bieten sich da wieder die zwei bekannten Typen von Moralsetzung dar: der ethische Empirismus nennt die Glückseligkeit des Menschen, der Rationalismus dessen Vollkommenheit als moralischen Zweck. Im ersten Fall fehlt eine deutliche Abgrenzung des eigenen Wohls vom Wohle der Gesamtheit:,,Alle Eudaimonisten sagt Kant einmal sind praktische Egoisten." Im zweiten Fall tritt das soziale Moment in der Berücksichtigung der anderen von vornherein ungebührlich zurück. Kant vollzieht auch hier eine kritische Synthese: als Zwecke, die zugleich Pflichten sind, können nur die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit gelten. Nicht die eigene Glückseligkeit: denn diese strebt jeder von selbst an. Nicht fremde Vollkommenheit: denn diese, welche in der rechten Gesinnung besteht, kann jeder nur sich selbst geben. Demgemäß teilen sich die Pflichten in Pflichten gegen sich selbst und in Pflichten gegen andere. Gemeinsam ist beiden als oberste Instanz und ,,innerer Gerichtshof" das Gewissen: ein unfehlbarer, aber auch ein unbestechlicher Richter, der nie irrt, nie ungerecht und nie weitherzig ist. Es kann vorkommen, daß man in einem bestimmten Falle etwas für Pflicht hält, was nicht Pflicht war. Ein solcher Irrtum fällt aber dem Urteile zur Last, nicht der Gesinnung, und hebt daher deren moralischen Wert nicht auf. Das Gewissen sagt mir aber mit unbeirrbarer Strenge, ob in diesem Falle meine Absicht rein war. Darauf allein aber kommt es an und darüber gibt es keinen Irrtum. Daher ist das erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst die Schärfung

der Aufmerksamkeit auf die Stimme des Gewissens. Das Mittel dazu ist sorgsame Selbstprüfung, welche so den Anfang aller menschlichen Weisheit bildet: „Nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis bahnt den Weg zur Vergötterung“ 149.

Die Pflichten gegen sich selbst heißen vollkommene Pflichten, soweit sie als negative Verbote besagen, was unter allen Umständen unterlassen werden soll. Insofern sie den Menschen als animalisches Wesen betreffen, gebieten sie die physische Selbsterhaltung, untersagen also den Selbstmord, aber auch die Selbstschändung im unmäßigen Genuß. In Hinsicht des Menschen als moralischen Wesens sind ihnen vor allem Lüge, Geiz und falsche Demut entgegengesetzt. Die Lüge, sei sie nun äußere oder innere Unwahrhaftigkeit, ist Wegwerfung der Menschenwürde, die den Lügner in seinen eigenen Augen verächtlich machen muß. Sie ist nach Kant die Wurzel alles Bösen, wie denn auch die Bibel den Urheber alles Bösen den Vater der Lügen nennt. Der Geiz im Sinne von Knickerei ist von Habsucht wohl zu unterscheiden: diese sucht Güter zum Zwecke des Genusses anzuhäufen, jener aber nur um des Besitzes willen. Insofern der Geizige sich selbst die Mittel zu einem wohlanständigen Leben verweigert, verstößt er gegen die Pflicht der Selbsterhaltung sowohl als gegen die der Wahrung eigener Würde. Demut gebührt nur vor der Majestät des Sittengesetzes, aber nicht in der Vergleichung mit anderen Menschen, in welchem Falle sie entweder Selbstwegwerfung oder versteckter Hochmut ist. Daher ist jede Form von Servilität, Heuchelei und Schmeichelei vom Übel, aber auch alles, was dazu zwingen kann, wie Annahme entbehrlicher Wohltaten, Schmarotzen, Betteln und leichtsinniges Schuldenmachen, eben darum zu vermeiden. Werdet nicht der Menschen Knechte! Lasset euer Recht nicht ungeahndet mit Füßen treten! Seid wirtschaftlich, damit ihr nicht bettelarm werdet! Sogar die übertriebenen Achtungsbezeigungen, Verbeugungen und höfischen Phrasen_im_gewöhnlichen Verkehr sind besser zu unterlassen: ,,das Ew. Wohledlen, Hochedlen, Hochedelgeboren, Wohlgeboren in der Anrede, als in welcher Pedanterei die Deutschen unter allen Völkern der Erde (die indischen Kasten vielleicht ausgenommen) es am weitesten gebracht haben", sind ebenso

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