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I. DIE PERSÖNLICHKEIT

1. KANTS LEBENSLAUF

Immanuel Kant ist am 22. April 1724 als das vierte Kind unter neun Geschwistern geboren. Sein Vater, Johann Georg Kant, war ein ehrenfester Riemermeister und auch seine Mutter entstammte einer Sattlersfamilie. Kants eigene Meinung, daß seine Vorfahren aus Schottland eingewandert seien, hat sich als irrtümlich herausgestellt. Es ist aktenmäßig nachgewiesen, daß schon sein Urgroßvater, Richard Kant, 1667 in vorgerückten Jahren als Wirt in Werden gelebt hat. Noch größeren Einfluß als der Vater, ein Mann von aufrechtem Charakter und offenem Verstande, übte auf das Gemüt des Knaben die fromme Mutter, nach Kants eigenen Worten „eine Frau von großem natürlichen Verstande, einem edlen Herzen und einer echten, durchaus nicht schwärmerischen Religiosität". Er preist die von ihr im streng pietistischen Geiste erhaltene Erziehung als „eine Schutzwehr für Herz und Sitten gegen lasterhafte Eindrücke". Die strenge, aber doch verinnerlichte Art religiösen Lebens, unter deren Eindruck seine erste Jugend verlief, hat unverkennbar bis in seine spätesten Jahre nachgewirkt. Auf Rat des Pfarrers und Theologieprofessors Albert Schultz, der die Begabung des Knaben bald erkannte, wurde er in das Collegium Fridericianum gegeben, eine gymnasiale Lehranstalt, die im Geiste jener Zeit nur gründlichen Lateinunterricht vermittelte, dafür aber das Hauptgewicht auf eine extrem pietistische Erziehung legte. Der unausgesetzte Zwang zu geistlichen Übungen in Verbindung mit einer „,fanatischen Disziplin" bildete für Kant zeitlebens eine unangenehme Jugenderinnerung. Wenn er später den Wert des Gebetes schroff verneinte und in seinen Vorlesungen über Pädagogik betonte, man müsse die Kinder in Freiheit erziehen und sie müßten fröhlichen Herzens und,,heiter in ihren Blicken wie die Sonne" sein, so kann man unschwer die Reaktion gegen seine persönlichen Erfahrungen in diesem Punkte erkennen. Im Herbst 1740 bezog er als Sechzehnjähriger die Universität, wo er Philosophie, Mathematik, Physik und ,,aus Wißbegierde" gelegentlich bei Schultz auch Theologie hörte. Von seinen aka

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Das Original befindet sich im Besitz der Buchhandlung Gräfe & Unzer in Königsberg

demischen Lehrern war nur der Extraordinarius Martin Knutzen auf ihn von nennenswertem Einfluß3. Dieser, einer der selbständigsten Anhänger Wolffs und durch Aufnahme empiristischer Elemente einer der ersten Umbildner seiner Lehre zum Eklektizismus, war es, der in Kant den Umschwung des Interesses von den humanistischen Studien zur Philosophie und den Naturwissenschaften auslöste. Nach fünf akademischen Lehrjahren brachte ihn der Tod des Vaters in arge ökonomische Bedrängnis. Die schon fertiggestellte erste wissenschaftliche Arbeit konnte nur unter Beihilfe eines Verwandten zum Druck befördert werden. Es waren die ,,Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte" (erschienen erst 1749). Kant wollte darin „eine der größten Spaltungen, die jetzo unter den Geometern von Europa herrscht", beilegen. Es handelte sich dabei um die Entscheidung der zwischen den Kartesianern und Leibnizianern schwebenden physikalischen i Streitfrage, ob das Maß der Kraft eines bewegten Körpers mit mv oder mit my2 zu bestimmen sei. Kants Lösungsversuch war unzureichend: Er meinte, es gäbe zwei Arten von Bewegung: eine, die sich selbst erhält und fortdauert, solange sie auf kein Hindernis stößt (die also nach dem Gesetze der Trägheit verläuft), und eine andere, die mit der bewegenden Kraft erlischt (also nach dem früher geltenden Satze: cessante causa cessat effectus). Für den ersten Fall wäre Descartes, für den zweiten Leibniz im Recht. Daß d'Alembert in seinem „,Traité de dynamique“ bereits 1743 diese Frage richtig (m3) gelöst hatte, war Kant entgangen. Überhaupt trägt diese Schrift Züge der Jugendlichkeit des Verfassers deutlich an sich. Aber gleichsam prophetisch klingen die Worte jugendlichen Selbstgefühls: „Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern ihn fortzusetzen 4". Die ökonomischen Verhältnisse zwangen ihn nun, durch neun Jahre in der weiteren Umgebung Königsbergs den Hauslehrerberuf auszuüben, ein Durchgangsstadium, das fast alle bedeutenden Männer jener Zeit durchmachen mußten. Kant selbst meinte später, er habe besser die Theorie als die Kunst der Erziehung verstanden, und bei richtigen Grundsätzen habe es kaum einen schlechteren Erzieher gegeben als ihn, wogegen spricht, daß die betreffenden Familien ihm andauernd Hochachtung und Freundschaft bewahrten. In der Muße dieses Landaufenthaltes vermochte sich Kant

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aber nicht nur die ihm stets nachgerühmten Formen der guten Gesellschaft anzueignen, sie war auch von großer Bedeutung für das langsame Heranreifen seiner Gedanken und für die Ansammlung eines staunenswerten Wissensschatzes. Nebst einigen kleineren physikalischen Abhandlungen erschien 1755 zuerst anonym seine berühmte „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels", welche zeigt, daß Kant sich bereits in den Gedankenkreis der Newtonischen Physik, die mit ihrer strengen Gesetzlichkeit und überzeugenden Sicherheit einem wesentlichen Bedürfnisse seines Geistes entgegenkam, ganz eingelebt hatte. Auf Grund der Dissertation: „De igne" wurde dann Kant 1755 promoviert, und noch in demselben Jahre erfolgte auf Grund der Schrift: „Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio" seine Habilitation an der philosophischen Fakultät. Als akademischer Lehrer entfaltete Kant eine überaus reiche Wirksamkeit. Er las gewöhnlich von 7-9 Uhr früh, oft mehr als zwanzig Stunden wöchentlich. Seine Vorlesungen umfaßten Logik, Metaphysik, Moralphilosophie, Naturrecht, natürliche Theologie und Anthropologie, erstreckten sich aber auch auf Mathematik, Physik, physische Geographie, ja sogar einmal auf Mineralogie. Sein Vortrag war nie dogmatisch lehrhaft, sondern zu eigenem Nachdenken anregend und besonders in jüngeren Jahren sehr lebhaft und anziehend. Zwar mußte auch er den damaligen Vorschriften entsprechend seinen Vorlesungen einen ,,Autor" zugrunde legen, wozu er meist die Lehrbücher der Wolffianer Meier und Baumgarten oder des Eklektikers Feder wählte; er hielt sich aber keineswegs strenge an den Text, sondern gestaltete seinen Vortrag nach freiem Belieben. Durch fünfzehn Jahre war Kant Privatdozent. Erst 1766 wurde,,dem geschickten und durch seine gelehrten Schriften berühmt gewordenen Magister Kant" die Stelle eines,,Subbibliothekars" mit dem Jahresgehalte von 62 Talern verliehen. Nachdem er die ihm angebotene Professur der „Dichtkunst" abgelehnt sowie Berufungen nach Erlangen, Jena und später auch nach Halle ausgeschlagen hatte, erhielt er 1770 ein Ordinariat für Logik und Metaphysik. Er trat es mit der Inauguraldissertation:,,De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis" an, der ersten Schrift, welche bereits deutlich den Durchbruch des kritischen Geistes erkennen läßt. So bedeutet das Jahr 1770 nicht nur einen Wendepunkt seiner äußeren Lebensstellung und seiner materiellen Lage,

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