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gen der Natur", die ganze Mannigfaltigkeit der organischen Formen durch eine lange Reihe von Generationen auf eine gemeinsame ursprüngliche Organisation zurückzuführen und sie so insgesamt als eine große Familie von Geschöpfen aufzufassen. Bei dem damaligen Stande der biologischen Wissenschaften mußte ihm ein solches Unternehmen allerdings als ein gewagtes Abenteuer der Vernunft" erscheinen. Er freut sich aber trotzdem des,,obgleich schwachen Strahles von Hoffnung", daß im Verfolg dieses Gedankenganges einst doch einmal mit dem Prinzip des Naturmechanismus etwas auszurichten sein möchte. Kant, der den Menschen ein mit Vernunftfähigkeit begabtes Tier (animal rationabile) nennt, äußert sogar gelegentlich in seiner,,Anthropologie" den Gedanken, daß ,,ein Orang-Utan oder ein Schimpanse die Organe, die zum Gehen, zum Befühlen der Gegenstände und zum Sprechen dienen, sich zum Gliederbau eines Menschen ausbildete, deren Innerstes ein Organ für den Gebrauch des Verstandes enthielte und durch gesellschaftliche Kultur sich allmählich entwickelte." Es zeigt aber auch wieder Kants ganze kritische Besonnenheit, daß er sich auch von solchen kühnen Hypothesen keine endgültige Lösung des Lebensrätsels erwartet. Denn selbst wenn die Ableitung aller organischen Formen aus einer einzigen Urform jemals gelingen sollte, wäre damit das Problem der Zweckmäßigkeit nicht gelöst, sondern nur hinausgeschoben. Es müßte dann nämlich jener Urmutter alles Lebendigen schon eine zweckmäßig gestellte Organisation beigelegt werden, um den Hervorgang lebensfähiger Pflanzen- und Tierformen aus ihr begreiflich erscheinen zu lassen. Durch die weit vorausschauende Einsicht, daß für das kausale Verständnis der organischen Welt nur von einem Gesetze der Entwicklung etwas zu hoffen sei, ist Kant mit Goethe und den Zoologen Buffon und Geoffroy Saint-Hilaire ein Bahnbrecher der Abstammungslehre und ein Vorläufer Lamarcks und Darwins geworden128.

3. DIE TELEOLOGIE DER NATUR

Aber nicht nur im Bau der einzelnen Organismen, sondern auch im Ganzen der Natur, soweit es uns als Gegenstand der Erfahrung gegeben ist, tritt uns überall ein Zusammenhang, Zusammenwirken und Zusammenstim

men ihrer Teile entgegen, welche wir uns nach der Be schaffenheit unseres Geistes nicht anders begreiflich machen können, als daß sie irgendwie durch die Idee des Ganzen bestimmt seien. In diesem Sinne hat man seit jeher von einer Weisheit, Sparsamkeit, Vorsorge oder Wohltätigkeit der,,Natur" gesprochen und hat damit ganz naiv teleologische Züge in das Naturbild hineingetragen. In der Tat kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, daß auch nach dieser Richtung hin die Verstandeserkenntnis einer Ergänzung durch die Zweckbetrachtung nicht entbehren kann. Transzendentalphilosophie und Metaphysik der Natur begründen ja nur die allgemeinsten formalen Gesetze des Naturgeschehens. Die besondere Naturgesetzlichkeit, das Ineinandergreifen dieser besonderen Gesetze und das Zusammenstimmen der einzelnen Naturvorgänge in einem solchen Systeme von Gesetzmäßigkeiten lassen sich aber a priori weder begründen noch einsehen. So hat die Transzendentalphilosophie zwar gezeigt, daß empirische Erkenntnis deshalb möglich ist, weil die Gegenstände dieser Erkenntnis - die Erscheinungen

sich nach denselben Gesetzen aufbauen, welche unsere Erkenntnis dieser Gegenstände bestimmen. Daß aber der ursprünglich chaotische Empfindungsstoff überhaupt in die Formen unseres Anschauens und Denkens eingeht, daß das schlechthin Gegebene sich den Bedingungen möglicher Erfahrung überhaupt fügt diese Affinität elementarster Art ist damit noch nicht geklärt. Daß ferner besondere Wahrnehmungen sich glücklicherweise zu empirischen Gesetzen qualifizieren und diese wiederum in einen allgemeinen Erfahrungszusammenhang sich schicken, muß vom Standpunkte rein verstandesmäßiger Beurteilung ganz zufällig erscheinen. Ein neues Rätsel geben die Naturdinge unserer Urteilskraft aber auch dadurch auf, daß sie unserem Bedürfnisse nach Ordnung, Übersicht und Systematik in merkwürdiger Weise entgegenkommen. Eine gewisse Gleichartigkeit oder Homogeneität der Naturformen ermöglicht ihre Zusammenordnung in Gattungen, ihre mannigfaltige Verschiedenheit bei alledem oder ihre Spezifikation läßt die Gattungen wieder in Arten und Unterarten gliedern, die stetigen Übergänge zwischen ihnen oder ihre Kontinuität wieder läßt den Gedanken ihrer inneren

Verwandtschaft und der Entwicklung einer aus der anderen aufkommen. Alles das sind, vom Standpunkte der Verstandeseinsicht gesehen, nur glückliche Zufälligkeiten, welche aber unwillkürlich den Eindruck einer gewissen Planmäßigkeit des Ganzen hervorrufen. Das Rationale in der Natur hat sich als Werk unseres Verstandes herausgestellt. Es beschränkt sich aber auf ihre formale Seite, welche bedingt, daß die Erscheinungen überhaupt eine „Natur“, d. i. einen gesetzmäßigen Zusammenhang ausmachen. Das Irrationale an ihr, zu dem alle ihre besonderen inhaltlichen Bestimmtheiten gehören, bedeutet eine Grenze unseres verstandesmäßigen Begreifens 129.

Dieses Irrationale und doch wieder wunderbar Harmonische in dem Zusammenwirken aller Besonderheiten der Natur läßt sich nun bloß nach teleologischen Gesichtspunkten dem Verstehen einigermaßen näher bringen. Angesichts seiner drängt sich nämlich der Gedanke auf, als wäre alles mit Plan und Absicht auf eine solche Harmonie abgestimmt, so zwar, daß jedes Einzelne die Bestimmung hätte, dem großen Zusammenklang des Ganzen zu dienen und dieses so den geheimnisvollen Endzweck aller seiner Teile bilden würde. Nun können wir uns aber eine solche Überordnung des Ganzen über seine Bestandteile auch im großen nicht anders begreiflich machen, als daß wir annehmen, daß die Idee des Ganzen seinen Teilen vorhergehe. Und das will wieder heißen: die Vorherrschaft eines Endzweckes setzt nach menschlicher Analogie voraus, daß dieser Endzweck in Form der Vorstellung antizipiert werde. Vorstellungen können wir aber nur einer Intelligenz zuschreiben. Daher nimmt jener Gedanke einer Weltharmonie unausbleiblich die Gestalt an, als ob die Natur und ihre Ordnung das Werk einer unendlich überlegenen Intelligenz wären. Sie müßte man sich als urbildlichen Verstand (,,intellectus archetypus") denken, der durch sein Denken selbst die Gegenstände hervorbrächte, die seinen Gedanken entsprechen, so daß die empirischen Dinge nichts anderes wären als die anschaulich gewordenen Gedanken jenes Weltgeistes. Wir müssen uns aber, wenn wir uns solchen Gedanken hingeben, wohl bewußt bleiben, daß es eben nur die eigentümliche Natur unseres eigenen nachbildenden, d. i. an gegebene Anschauungen gebundenen Verstandes (eines,,intellectus

ectypus") ist, welche uns hier zwingt, zu solchen Vorstellungsweisen Zuflucht zu nehmen. Daher beweist die Tatsache, daß wir hier auf teleologische Gesichtspunkte gedrängt werden, noch gar nichts dafür, daß ein intelligentes Wesen jener höchsten Art existiert, sondern eben immer nur, daß wir nicht umhin können, eine absichtlich wirkende Ursache zur Welt hinzuzudenken. Wenn wir daher in dieser Art über das Naturganze reflektieren, so ist das kein Schließen wie im physiko-theologischen Gottesbeweise, sondern nur eine subjektive Betrachtungsweise, ähnlich jener, die uns in Hinsicht der Organismen naheliegt: eine berechtigte Maxime unseres Nachdenkens über die Natur, aber keine objektive Erkenntnis oder theoretische Wahrheit. Oder kurz: diese Art Teleologie gehört in keiner Weise zur Theologie! Man soll, meint Kant einmal, den Namen Gottes nicht verschwenden; denn das, was die Menschen die Weisheit der Natur nennen, ist zumeist ihre eigene Weisheit oder in Wahrheit vielmehr nur der Mangel an verstandesmäßiger Einsicht. Daher bleibt jene Vorstellung einer höchsten Vernunft als dem Grunde der Weltharmonie gleich der Vorstellung von einer höchsten Welteinheit überhaupt nur eine Idee und ist keine Erkenntnis einer Realität. Mit diesem Vorbehalte kann man endlich auch dem Gedanken Ausdruck geben, daß in einem solchen intelligiblen Urgrunde der Natur Mechanismus und Teleologie an sich zusammenhingen, ja zuletzt identisch sein könnten, wenn sie auch für uns als Menschen immer Verschiedenes bedeuten und sich nicht vereinigen lassen wollen: denn es könnte wohl sein, daß aller Mechanismus nur dazu diente, einen zweckvollen Plan des Ganzen zu verwirklichen. An diesen von dem kritisch-besonnenen Kant nur behutsam geäußerten Gedanken eines schaffenden Weltgeistes hat späterhin Schelling in kühner Spekulation angeknüpft. Welches könnte denn nun aber jener Endzweck sein, dem alles dient und auf den alles abgestimmt ist? Offenbar nicht die Existenz der Natur selbst, in der alles und jedes wieder bedingt ist; aber auch ebensowenig der Mensch als Naturwesen. In letzterem Falle müßte die Erfahrung doch irgendwie zu erkennen geben, daß die Natur gegen ihn vorsorglicher verfahre als gegen andere Geschöpfe. Das ist aber in Hinsicht des höchsten

Gutes eines bloßen Sinnenwesens, der Glückseligkeit, in keiner Weise der Fall. Selbstzweck und darum auch Endzweck alles anderen kann nur ein Wesen sein, das sich selbst unbedingte Zwecke zu setzen weiß. Ein Wesen dieser Art ist aber unseres Wissens nur der Mensch als moralische Persönlichkeit. Der sittlich gute Wille und die sittlich gute Gesinnung sind das einzige, das seinen Wert in sich trägt. In Hinsicht eines absoluten Sollens kann nicht mehr gefragt werden, wozu es da sei: es ist selbst der letzte Wert und darum der letzte Zweck. Und daher kann auch der höchste Naturzweck, den wir Menschen anzugeben wüßten, nur der sein, die Existenz eines moralischen Wesens und ein Reich solcher vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen zu ermöglichen. Kants teleologische Naturbetrachtung mündet so zwar nicht in eine Physikotheologie, wohl aber in den Hinweis auf eine in der Selbstherrlichkeit des sittlichen Bewußtseins wurzelnde Ethikotheologie 130.

VIII. REINE ETHIK

1. DIE MORAL ALS PROBLEM

Der Mensch ist nicht bloß denkendes Wesen oder reines Erkenntnissubjekt. Als phänomenales Sinnenwesen gehört er mit seinen sinnlichen Trieben und Bedürfnissen dem allgemeinen Zusammenhange der Natur an und ist darauf angewiesen, im Lebenskampfe sein Dasein zu erhalten. Als soziales Wesen steht er überdies im Leben menschlicher Gemeinschaft, das fortgesetzt gewisse Ansprüche an ihn stellt und ihn zu praktischen Stellungnahmen zwingt. Als vernunftbegabtes Wesen hat er aber die Tendenz, sein Handeln nach klar erkannten Regeln und Maximen einzurichten, wodurch er sich von allen uns bekannten Wesen unterscheidet. Damit sieht sich der Kritizismus vor die Frage gestellt, ob es auch auf diesem praktischen Gebiete eine allgemeingültige Gesetzmäßigkeit gibt: Gesetze a priori des Wollens nach Art der Gesetze a priori des Erkennens. Oder, was dasselbe heißt: ob der Metaphysik der Natur" eine ,,Metaphysik der Sitten", dieses Wort im weitesten Sinne verstanden, an die Seite gestellt werden kann. Gesetze dieser Art können

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