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chen Grunde

also mit ganz anderer Motivierung als Goethe hatte sich Kant auch gegen die Unerkennbarkeit eines,,Inneren der Natur" gewendet:,,Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde." Aus der Anwendung des Verstandesgesetzes der Wechselwirkung ergibt sich ferner das Gesetz, daß in der Mitteilung von Bewegung Wirkung und Gegenwirkung stets einander gleich sind. Die Phänomenologie endlich betrachtet die Materie als „das Bewegliche, sofern es, als ein solches, ein Gegenstand der Erfahrung sein kann“. Es handelt sich dabei um die Frage, unter welchen Umständen Bewegung als möglich, wirklich oder notwendig erscheint: also um die Erscheinungsart der Bewegung. Hier zeigt sich, daß die geradlinige Bewegung eines materiellen Punktes in Ansehung eines empirischen Raumes ein bloß mögliches Prädikat darstellt, das ebensogut durch die Bewegung des Raumes in entgegengesetzter Richtung ersetzt werden kann, daß aber eine absolute Bewegung, also ohne Rücksicht auf ein bestimmtes Bezugssystem unmöglich ist. Hingegen ist die Kreisbewegung eine wirkliche Eigenschaft des Bewegten, weil sie als kontinuierliche Veränderung einer geradlinigen Bewegung die Einwirkung äußerer Kräfte voraussetzt. Der logische Gegensatz ist hier nicht die relative, sondern die bloß scheinbare Bewegung. So kann allerdings in Gedanken die Achsendrehung der Erde durch die Vorstellung einer entgegengesetzten Drehung des Sternenhimmels,,völlig gleichgeltend" vertreten, nicht aber in der Erfahrung real an ihre Stelle gesetzt werden. Notwendig aber ist es, daß in jeder Bewegung eines Körpers eine gleiche, aber entgegengesetzte Bewegung eines Bezugskörpers gedacht werde. Es folgt dies aus der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung, daher Kant sagen konnte, dieser Lehrsatz bestimme die Modalität der Bewegung in Ansehung der Mechanik 123.

Im ganzen ist Kants Philosophie der Materie ein an den Prinzipien Newtonischer Physik orientierter Versuch, eine allgemeine Kinematik rein begrifflich-apriorisch zu konstruieren. Insofern als seine Absicht festgehalten werden kann, zu zeigen, was an den Vorstellungsweisen der Natur

wissenschaft auf allgemeinen Denkbedingungen beruht im Gegensatz zu dem, was nur eine Zusammenfassung von Erfahrungstatsachen ist oder bloß bildhaft-symbolischen Charakter trägt und daher dem Wandel unterworfen ist, ist dieser Versuch durchaus anerkennenswert. Wenn aber nun auch Kant immer daran festgehalten hat, daß alle besonderen Naturgesetze nur auf Grund der Erfahrung gefunden werden können, greifen manche seiner metaphysischen Konstruktionen doch bedenklich auf empirisches Gebiet über, so wenn z. B. in der „,Dynamik" auch die Unterschiede fester und flüssiger Körper, Dichtigkeit, Reibung und Elastizität a priori deduziert werden. Dazu kommt, daß man vieles, was Kant für apodiktisch beweisbar hielt, heute doch nur als Hypothese gelten lassen würde. So kam es, daß die konstruktive Naturphilosophie Schellings und seiner Zeit an diese Kantische Metaphysik der Materie anzuknüpfen vermochte, wofür das Wort Hegels charakteristisch ist: Kant habe das Verdienst,,,durch seinen Versuch einer sogenannten Konstruktion der Materie .... den Anfang zu einem Begriff der Materie gemacht und mit diesem Versuche den Begriff einer Naturphilosophie wieder erweckt zu haben.“ Nun hatte Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ein,,System der reinen (spekulativen) Vernunft" unter dem Titel einer „Metaphysik der Natur" in Aussicht gestellt,,,welches bei noch nicht der Hälfte der Weitläufigkeit dennoch ungleich reicheren Inhalt haben sollte als die,Kritik"." Die,,Metaphysischen Anfangsgründe" können dafür nur als Abschlagszahlung gelten. In der Tat hatte Kant vor, seine Lebensarbeit mit einem Werke: „Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" zu schließen. Obwohl er seit 1796 daran zu arbeiten begann, sind uns nur einzelne zerstreute Entwürfe und Aufzeichnungen dazu erhalten. Es ist nun sehr interessant zu sehen, wie sich für Kant der Kreis des Apriorischen immer mehr erweitert und damit auch das Bereich einer,,reinen" Wissenschaft von der Natur. Wir finden da Spekulationen über einen allgemeinen Wärmestoff, der als eine allverbreitete, alldurchdringende, innerlich in allen ihren Teilen gleichförmig sich selbst bewegende und in dieser inneren Bewegung beharrlich begriffene Materie" bestimmt wird; über einen allgemeinen Weltäther, der an die Stelle des leeren Raumes treten soll und mit dem

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Wärmestoff bald gleichgesetzt, bald von ihm unterschieden wird, wobei die Molekularkräfte nach Möglichkeit durch Ätherkonkussionen ersetzt werden sollen; über die Aggregatzustände der Materie und ihren Übergang ineinander; über die Ursachen der Tropfengestalt, den Glanz der Metalle und die Haarröhrchenphänomene. Dabei heißt es ausdrücklich von jenem,,radikalen Weltstoff", er sei,,kein hypothetischer, sondern a priori gegebener Stoff". Ja, es wird sogar der Versuch gemacht, aus der Kategorientafel a priori die möglichen Arten von Empfindungen, bewegenden Kräften und Qualitäten körperlicher Gegenstände abzuleiten. Dazu kommen allgemeine Vermutungen über eine gemeinsame Grundlage von Wärme, Licht, Elektrizität und Magnetismus. Hier finden wir den gealterten Kant ganz auf den Wegen der spekulativen Naturphilosophie; ja, es ist wahrscheinlich, daß diese auf dem Umwege durch den von Schelling stark beeinflußten Physiker J. W. Ritter auf diesen Umschwung von Einfluß geworden war. Ein Satz wie der aus den allerletzten Aufzeichnungen stammende: daß die Transzendentalphilosophie eine Art Galvanismus sei, könnte ebensogut bei Novalis stehen. Mag man auch diese und ähnliche, zum Teil schon stark senile und überdies noch nicht zum Druck bestimmte Äußerungen des Philosophen dem allmählichen Schwinden des kritischen Geistes zugute halten, so teilen doch auch die,,Metaphysischen Anfangsgründe" das Schicksal jeder Naturphilosophie, daß sie, an einer bestimmten Phase des Naturerkennens orientiert, mit dessen Fortschreiten rascher veraltert als andere Teile des Systems124.

2. DIE PHILOSOPHIE DES ORGANISCHEN

Die,,Transzendentale Analytik" und die ,,Metaphysischen Anfangsgründe" geben eine Grundlegung der mathematischphysikalischen Naturwissenschaft. Ihre Prinzipien lassen sich aber nicht ohne weiteres auf die Biologie übertragen, denn die organischen Naturformen setzen ihrer Auflösung in bloße Bewegungsgrößen einen unüberwindlichen Widerstand entgegen. In dieser Hinsicht hatte schon die,,Naturgeschichte und Theorie des Himmels" gelehrt, daß die Mechanik am Grashalm und der Raupe scheitere. Zwar bestehen die allgemeinen Gesetze der Natur als Bedingungen der Erfahrung überhaupt selbstverständlich auch für die

organische Welt zu Recht, aber sie reichen hier zur Erklärung nicht zu, sondern bedürfen der Ergänzung durch ein Hilfsprinzip. Ein solches bietet sich dar im Begriffe der realen (objektiven) oder Naturzweckmäßigkeit. Der ,,Zweck" ist keine Kategorie des Verstandes, denn er bildet keine Voraussetzung der Möglichkeit einer Erfahrung. Er ist vielmehr nur ein Prinzip der Beurteilung gewisser Naturverhältnisse und zwar ihrer bloß reflektierenden Beurteilung, welche zu einzelnen Fällen besonderer Art erst ein allgemeines Prinzip sucht, um sie aus ihm verstehen zu können. Der Zweckbegriff nun entspringt daher, daß wir in gewissen Fällen eine Erscheinung ebensogut als Ursache wie als Wirkung aufzufassen in der Lage sind. Das ist in vorbildlicher Weise bei den Erzeugnissen menschlicher Tätigkeit der Fall. Hier ist die antizipierende Vorstellung der Wirkung dieser Tätigkeit die Ursache oder das Motiv für das Einsetzen dieser Tätigkeit. Auf den Begriff einer Zweckmäßigkeit in der Natur wird daher die Erfahrung unsere Urteilskraft dann leiten, wenn ein Kausalverhältnis von solcher Art zu beurteilen ist, daß wir es uns nur nach Analogie menschlicher Zweckhandlungen begreiflich machen können. Oder wie Kant sagt:,,wenn ein Verhältnis der Ursache zur Wirkung zu beurteilen ist, welches als gesetzlich einzusehen wir uns nur dadurch vermögend finden, daß wir die Idee der Wirkung der Kausalität der Ursache, als die dieser selbst zugrunde liegende Bedingung der Möglichkeit der ersteren unterlegen." Kurz gesagt: wenn wir das Verhältnis von Erscheinungen technisch denken müssen, um es uns begreiflich zu machen. Die Anwendung einer solchen technisch-teleologischen Betrachtungsweise wird uns besonders dort nahegelegt sein, wo wir aus irgendeinem Grunde an der Grenze unseres kausal-mechanistischen Begreifens stehen, wie das in Hinsicht der Organismen, aber auch in Hinsicht des Ganzen der Natur, das uns nur in der Idee aufgegeben ist, der Fall ist. Das Bedürfnis nach Heranziehung teleologischer Gesichtspunkte in der Naturbeurteilung macht es jedoch keineswegs notwendig, nun auch der Natur etwa nach menschlicher Art eine Absicht in der Hervorbringung gewisser Produkte zuzuschreiben; es genügt, ein analoges Verhältnis von Ursache und Wirkung zu denken, wie es bei Artefakten besteht: das, was ist,

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wird beurteilt und gemessen an dem, was es sein soll. Da nun die Erfahrung immer nur lehrt, was die Dinge sind, aber niemals, was sie sein sollen, so ist klar, daß es sich hier um Einführung eines empirisch nicht begründbaren Prinzipes der Beurteilung handelt, welche ihre Berechtigung und deren Grenzen vor dem Forum des Kritizismus wird ausweisen müssen. Dieses Problem ist in der ,,Kritik der Urteilskraft" (1790) und zwar in deren zweitem Teile:,,Kritik der teleologischen Urteilskraft“ gestellt und in einer wohl für alle Zeiten gültigen Weise gelöst. Ferner kommen dafür in Betracht der Entwurf einer Einleitung zu diesem Werke, der unter dem Titel: „Über Philosophie überhaupt" (1794) veröffentlicht wurde, und ein Aufsatz:,,Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie", der 1788 im „Teutschen Merkur" erschienen war125.

Von Naturzweckmäßigkeit kann nun im allgemeinen in zweifacher Hinsicht gesprochen werden. Eine äußere oder bloß relative Zweckmäßigkeit liegt dort vor, wo eine gegebene Wirkung als Mittel zur Verwirklichung von Zwecken, die außerhalb seiner liegen, angesehen wird. In diesem Sinne ist von der ,,Nutzbarkeit" gewisser Naturprodukte für den Menschen oder ihrer ,,Zuträglichkeit“ für andere Geschöpfe die Rede. So könnte man fragen, ob nicht die uralte Absetzung von Sandschichten bei allmählichem Zurücktreten des Meeres ein Zweck der Natur war, um das Entstehen von Fichtenwäldern, die gerade auf solchem Boden am besten gedeihen, zu begünstigen oder ob nicht das Vorkommen von Gräsern im Hinblick auf die Existenzmöglichkeit grasfressender Tiere und das Dasein dieser wieder in Rücksicht auf die Nahrung der Raubtiere als zweckmäßig beurteilt werden müsse. Das gleiche gilt in Hinsicht der Lebensbedingungen des Menschen. Es ist aber leicht einzusehen, daß teleologische Betrachtungen dieser Art, mit denen die Popularphilosophie zu Zeiten Kants reichlichen Mißbrauch trieb, nur dann sinnvoll sein würden, wenn sie zuletzt auf einen absoluten Zweck bezogen werden könnten, wenn also die Existenz dessen, wofür etwas Mittel sein soll, ein Selbstzweck der Natur sein würde. Da aber die Naturbetrachtung keinerlei Anhaltspunkt dafür gibt, daß etwa die physische Existenz des Menschengeschlechtes ein solcher absoluter Naturzweck wäre,

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