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geheure geschichtliche Bedeutung seiner Kritik und auch die Gegenwart hätte noch oft von ihr besonders von der Antinomienlehre zu lernen. Eine ganze Fülle von Scheinund Vexierproblemen ist durch sie abgetan; der,,dichtenden Vernunft" sind die Flügel beschnitten, aber dafür dem menschlichen Erkenntnistrieb ein unermeßlich weites Feld erfolgreicher und gegen jeden skeptischen Einwand gesicherter Betätigung eröffnet, ohne daß damit die letzten persönlichen Überzeugungen an die Schranken bloßer Wissenschaftlichkeit gebunden würden. Die Kritik richtet sich ja nur gegen die spekulative Metaphysik und Theologie, nicht gegen einen aus der Tiefe des menschlichen Gemütes quellenden Glauben, sofern er nur der Vernunft nicht widerstreitet. Die Wissenschaft wird vor Einbrüchen wilder Spekulation und jeder Beschränkung durch religiöse Dogmatik gesichert, aber auch der lebendige moralische Glaube vor skeptischen Angriffen der Wissenschaft. Denn mit dem positiven Dogmatismus überschwenglicher Behauptungen ist auch der negative Dogmatismus absoluter Verneinung gerichtet. So ist die Metaphysik" unter Kants Händen in der Tat das geworden, was die „Träume" von ihr verlangt hatten: eine,,Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft" 120.

VII. NATURPHILOSOPHIE

1. DIE PHILOSOPHIE DER MATERIE

Alle wirkliche Erkenntnis ist auf den Bereich des Phänomenalen eingeschränkt. Innerhalb dieser Grenzen ist aber eine zweifache Art von Wissen möglich: eine auf Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen beruhende empirische Erkenntnis der besonderen Naturgesetze und ein Wissen a priori von den allgemeinsten Bedingungen der Natur und Naturerkenntnis überhaupt. Dieses letztere ist teils Mathematik als Wissenschaft von den anschaulichen Formen alles Erfahrbaren, teils Metaphysik in der neuen Bedeutung des Wortes, nämlich als System aller apriorischen Grundlagen unseres Wissens. Dieser „,reine" Teil geht dem empirischen an Rang voraus. Denn, wie Kant meint, kann „eigentliche Wissenschaft nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit apodiktisch ist; Erkennt

nis, die bloß empirische Gewißheit enthalten kann, ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen".

Der Rang einer Wissenschaft wird sich somit danach bestimmen, ob und in welchem Umfange apriorische Elemente in ihr enthalten sind. Nun setzt alle bestimmte Naturerkenntnis die Beziehung auf reine Anschauung voraus, weshalb sich über sie aus bloßen Begriffen nichts ausmachen läßt. Daher wird in Hinsicht jeder besonderen Naturlehre ihr Gehalt an Mathematik über ihren Wissensrang entscheiden. Sofern sich also Mathematik auf sie anwenden läßt, nimmt sie auch an deren Apodiktizität teil und,,so wird Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschaft enthalten, als Mathematik in ihr angewandt werden kann". Sofern dies nicht oder noch nicht (wie in der Chemie jener Zeit) möglich ist, muß die betreffende Naturlehre sich bescheiden, bloße systematische Experimentierkunst zu bleiben und darf den Namen,,Wissenschaft" nicht für sich in Anspruch nehmen. Die Aufgabe einer Metaphysik der Natur ist hingegen eine viel allgemeinere: sie hat in den besonderen Naturlehren nichts zu suchen, sondern soll ihrerseits nur zeigen, in welchem Umfange sich Aussagen a priori über die Natur überhaupt abgeben lassen. In ihrem allgemeinsten Teil ist diese Aufgabe in den,,Grundsätzen des reinen Verstandes" bereits geleistet. Die Frage ist nun, ob sich darüber noch hinausgehen läßt. Ohne jede Anlehnung an die Empirie ist das nach den Prinzipien der Transzendentalphilosophie_offenbar unmöglich. Denn nur die Form, nicht der Inhalt der Erfahrung läßt sich a priori erkennen. Es wird aber genügen, nur den allgemeinen Begriff jenes Etwas, das in diesen Formen gegeben wird, aufzunehmen und an ihm zu zeigen, was sich auf Grund der transzendentalen Prinzipien von der Natur a priori erwarten läßt. Wir nehmen also zum Zwecke einer solchen,,rationalen Physiologie" aus der Erfahrung nichts weiter, als was nötig ist, daß unseren Sinnen überhaupt ein Objekt gegeben werde. Dieses ist in Hinsicht der äußeren Erfahrung der Begriff der Materie, in Hinsicht der inneren der Begriff eines denkenden Wesens. Nun hat sich aber gezeigt, daß alle Folgerungen aus dem letzteren nur auf Paralogismen hinauslaufen, und da auch Mathematik auf die inneren Erscheinungen nicht anwendbar ist, gibt es auch keine Metaphysik der

Psychologie: sie muß der Grundlegung durch eine apriorische Erkenntnis entbehren und kann daher auch niemals Wissenschaft im eigentlichen Sinne werden. Die Metaphysik der Natur wird daher immer nur eine Metaphysik der äußeren Natur sein können. Ihre Frage also lautet: was läßt sich von der Körperwelt a priori aussagen? Sie ist das Thema der „Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ (1786), welche so eine Erweiterung der ,,Grundsätze" durch Aufnahme des empirischen Begriffes der Materie, wenn auch in seiner abstraktesten Gestalt, darstellen 121.

Der Begriff der Materie entsteht durch Anwendung der Kategorie der Substanzialität auf die Erscheinungen des äußeren Sinnes. Materie ist die Substanz der physischen Welt und somit das, was die physikalischen Körper von den geometrischen unterscheidet. Unter Materie ist aber selbstverständlich immer nur eine ,,substantia phaenomenon" zu verstehen, nicht etwa ein den Erscheinungen zugrunde liegendes Ding an sich. Auch wenn ihr im Transzendenten ein im übrigen völlig unbestimmbares Ding an sich entsprechen sollte, so bliebe doch das, was wir Materie nennen, seiner spezifischen Beschaffenheit nach lediglich ein Gedanke in uns": ein mit Notwendigkeit sich bildender Begriff, keine metaphysische Realität. Dieser Begriff ist empirischen Ursprungs. Denn nur die Anschauungsform des Raumes ist a priori, nicht seine Erfülltheit. Selbst die Vorstellung der Bewegung, als einer Vereinigung von Raum und Zeit, setzt die Wahrnehmung eines Beweglichen im Raume voraus. Die Materie ist somit ein ,,empirisches Datum". Da es sich hier aber um apriorische Aussagen über die Materie handelt, werden wir mit einem Minimum empirischer Begriffsbestimmungen auszukommen trachten müssen. Als solches bietet sich die Definition der Materie als einer beweglichen, den Raum erfüllenden Substanz dar, wobei sich allerdings zeigen wird, daß dieser Begriff einer materiellen Substanz im Fortgange der Untersuchung durch den der Kraft fast vollständig verdrängt wird. Da nun die Naturphilosophie nichts anderes sein will als eine Anwendung der ,,Grundsätze auf diesen empirischen Begriff, so folgt die Untersuchung dem Schema der vier Kategorienklassen und zerfällt demnach in vier Hauptstücke: die Bewegung

als reines Quantum betrachtet, ergibt die Phoronomie, als zur Qualität der Materie gehörig die Dynamik, die bewegte Materie in Relation ihrer Teile untereinander die Mechanik, endlich die Bewegung bloß in bezug auf die Modalität unseres Vorstellens erörtert die Phänomenologie 122.

Die Phoronomie sieht in der Materie nur,,das Bewegliche im Raum". Da hier nur von der Bewegung als solcher die Rede ist, kann an Stelle des Körpers auch der bewegte mathematische Punkt gesetzt werden. Es ergibt sich die Einteilung der Bewegung in geradlinige und in sich zurückkehrende und der letzteren wieder in zirkulierende und oszillierende. Es wird zwischen relativem (erfülltem und deshalb wahrnehmbarem) und absolutem Raume unterschieden. Jener kann selbst bewegt gedacht werden im Verhältnis zu anderen Räumen, dieser begreift alle Räume in sich und ist daher selbst unbewegt, aber die Voraussetzung aller Bewegung. Im Verhältnis zum relativen Raum bleibt es sich gleich, ob wir einen Körper als bewegt und den Raum ruhend, oder umgekehrt den relativen Raum bewegt und den Körper ruhend denken. Die Konstruktion der Bewegungsgröße, d. h. die Zusammensetzung der Bewegung eines Punktes aus zwei oder mehreren Bewegungen bildet das weitere Thema der Phoronomie. Die Dynamik, der wichtigste Abschnitt des Ganzen, betrachtet,,das Bewegliche, sofern es einen Raum erfüllt“. Hier zeigt sich nun, daß die Materie den Raum nicht durch ihr bloßes Dasein einnimmt, sondern durch einen Antagonismus zweier Kräfte: der Attraktions- und Repulsionskraft, welche schon die Konstruktionselemente der Theorie des Himmels" gebildet hatten. Die Alleinherrschaft der Anziehungskraft müßte zuletzt die Materie im mathematischen Punkt verschwinden machen, die Alleinherrschaft der Abstoßungskraft würde sie in den unendlichen Raum zerstreuen. Im Zusammenhang damit verwirft Kant die Lehre von der atomistischen Struktur der Materie, wobei er allerdings weniger die physikalische Atomistik als die Monadologie im Auge hat, welche aus der unbegrenzten Teilbarkeit der Materie geschlossen hatte, daß sie aus absolut einfachen Teilsubstanzen zusammengesetzt sein müsse. Kant hatte bereits bewiesen, daß das Unteilbare sowenig wie der leere Raum, den diese Hypo

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these voraussetzt, Gegenstände möglicher Erfahrung sein können. Ihre Annahme erscheint aber dann unvermeidlich, wenn man in der Natur keine anderen als extensive Größen anerkennt. Nun hatten aber die ,,Antizipationen der Wahrnehmung" gezeigt, daß das Reale an der Erscheinung auch stets eine intensive Größe oder einen Grad besitze.

Aus dem Gedanken einer gradweise abgestuften Erfüllung des Raumes ergibt sich aber die Möglichkeit, eine Kontinuität der Raumerfüllung anzunehmen und an Stelle des schlechthin leeren Raumes den Begriff,,komparativ-leerer Räume" zu setzen. An die Stelle der atomistischen Theorie tritt so die Kontinuitätshypothese und eine dynamistische Theorie der Materie. Kants Anschauungen standen in diesem Punkte mit der Physik seiner Zeit in Widerspruch, lassen sich aber bei entsprechender Umbildung mit der heutigen elektro-energetischen Auffassung der Materie wohl vereinen. Im Gegensatz zu ihr steht allerdings die Annahme einer Fernwirkung (,,actio in distans“) der Anziehungskraft, an der Kant in Übereinstimmung mit der Schule Newtons festhalten zu müssen glaubte. Die Mechanik definiert die Materie als ,,das Bewegliche, sofern es, als ein solches, bewegende Kraft hat". Hier wird gezeigt, daß die Materie die einzige erkennbare Substanz ist, woraus nach der ersten,,Analogie" das Gesetz von der Erhaltung der Materie a priori folgt. Aus dem Kausalsatze folgt ferner, daß jede Zustandsänderung der Materie eine Ursache und, da alle ihre Bestimmungen räumlicher Natur sind, eine äußere Ursache haben müsse. Daher muß auch der Übergang aus Ruhe in Bewegung und umgekehrt eine äußere Ursache haben. Daraus folgt a priori das Gesetz der Trägheit: daß nämlich jeder Teil des Stoffes in seinem Bewegungszustande verharrt, sofern er darin nicht durch eine äußere Einwirkung gestört wird. Dieses Beharren darf aber nicht als ein positives Streben oder als Beharrungstrieb der Materie gedeutet werden. Nur lebende Wesen haben einen Zug zur Trägheit in diesem Sinne, weil sie eine unliebsame Veränderung ihres Zustandes in der Vorstellung voraussehen und ihre Kraft dagegen aufbieten können. Die Materie hat aber keinerlei innere Beschaffenheiten, geschweige denn sehende Triebe. Ihr solche anzudichten, führt zum Hylozoismus und dieser bedeutet den „,Tod aller Naturphilosophie". Aus dem glei

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