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wir aber niemals sagen können, daß sie vollendet und abgeschlossen sei. Wenn so die Welt gar nicht unabhängig von der Reihe meiner Vorstellungen existiert, so besteht sie auch weder als endliches noch als unendliches Ganzes. Jede Behauptung dieser Art wird sinnlos und entpuppt sich als dialektischer Schein. So betrachtet stellen sich in den beiden ersten (,,mathematischen") Antinomien Thesen und Antithesen als gleich falsch heraus. Wenn die Welt nur so weit reicht als unsere Erfahrung, dann kann sie weder nach oben noch nach unten endlich heißen, weil auch unsere Erfahrung nie vollendet ist; aber auch nicht im positiven Sinne unendlich, weil das auch unsere Erfahrung niemals werden kann. Mag es in der Mathematik einen progressus in infinitum geben, für die Transzendentalphilosophie kann man nur einen progressus in indefinitum gelten lassen. Damit ist allen berechtigten Forderungen der empirischen Forschung Genüge getan. Ob ich sage: ich könne im Fortgange der Erfahrung auf Sterne treffen, die hundertmal weiter entfernt sind als die äußersten, welche bis jetzt beobachtet wurden; oder ob ich sage, es sind vielleicht solche im Weltraum vorhanden, wenn sie gleich niemals ein Mensch wahrgenommen hat oder wahrnehmen wird, kommt praktisch auf dasselbe hinaus. Denn würden sie nur als Dinge an sich und ohne jede Beziehung auf meine Vorstellung am Himmel stehen, so würden sie eben für mich gar nicht existieren. Insofern ich sie aber im Anschlusse an frühere Erfahrungen dort oben vorstelle, sind sie bereits zu Bestandteilen der phänomenalen Welt geworden und die Frage nach ihrer Wirklichkeit" schränkt sich darauf ein, ob ich an die prinzipielle Möglichkeit glaube, daß solche Sterne unter gewissen Voraussetzungen dort beobachtet werden könnten oder nicht. Mag die Vermutung der Astronomen oder auch die physikalische Hypothesenbildung in noch so weite Fernen greifen -Raum und Zeit werden ihnen nie ausgehen, denn sie erzeugen sich als Anschauungsformen unserer Sinnlichkeit immerfort von neuem. Ebensowenig steht etwas prinzipiell im Wege, die Teilung der Materie, sei es experimentell, sei es in Gedanken, unbegrenzt weit fortzusetzen: niemals werden wir darin aufgehalten werden, niemals aber auch ein Recht haben, von der Substanz zu sagen, sie bestehe aus endlich oder unendlich vielen Teilen. Die letz9 Kant

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teren existieren eben nur in der vorgestellten Teilung und diese geht so weit, als es die Bedürfnisse der Wissenschaft erfordern. Solange wir uns also innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung halten, ist alles in bester Ordnung und wir kommen nie in Verlegenheit: die phänomenale Welt ist jederzeit so groß oder so klein, als wir sie eben brauchen, um Erfahrungen machen und Erfahrungen ordnen zu können. Die Verlegenheit beginnt erst, wenn wir uns verleiten lassen, Raum und Zeit und mit ihnen die Sinnenwelt absolut zu denken. Dann entsteht jener transzendente Begriff eines vollendet existierenden Weltganzen, über den nur widersprechende Aussagen möglich sind. Die Welt als unbedingte Totalität ist aber niemals ein Gegenstand möglicher Erfahrung und darum auch keine Tatsache und kein Objekt unserer Erkenntnis. So werden diese Antinomien zu einer indirekten Widerlegung des transzendentalen Realismus auch in jener gemäßigten Auffassung, der zufolge Raum und Zeit zwar Formen unserer Sinnlichkeit, zugleich aber auch und in Übereinstimmung mit ihnen metaphysische Realitäten sein sollen: denn jeder Versuch, sie als solche widerspruchslos zu denken, hat sich als vergeblich herausgestellt117.

Anders wieder steht die Sache mit den beiden letzten („,dynamischen") Antinomien. Hier ist von vornherein kein Zweifel, daß für die phänomenale Welt nur die Grundsätze der Antithesen zu Recht bestehen. Das Verstandesgesetz der Kausalität erlaubt schlechterdings und unter keinem Vorwande irgendeine Ausnahme. Auf ihm beruht es ja, daß die Erscheinungen überhaupt eine,,Natur“ ausmachen, und daher ist es selbstverständlich, daß innerhalb dieser Natur die Kette der Ursachen und Wirkungen ohne Anfang und ohne Ende abläuft. In ihr ist daher weder Freiheit noch ein notwendiges Wesen anzutreffen. Auch der Mensch ist als Erscheinung dieser ausnahmslosen Naturgesetzlichkeit unterworfen und dadurch in seinen Handlungen streng determiniert. Es wäre ein Prinzip der „ignava ratio“, der „,faulen Vernunft", wollte man auf dem Gebiete des Naturerkennens andere Erklärungsgründe dulden als jene, welche sich auf die kausale Gesetzmäßigkeit gründen. In dieser Hinsicht sind selbst die,,wildesten Hypothesen", sofern sie uns nur anleiten, den kausalen Zusammenhängen nachzugehen, immer noch erträglicher als die Berufung auf transzendente Vernunftideen, z. B. auf einen göttlichen Urheber der Dinge,

den man zu diesem Behufe voraussetzt. Wenn so nun auch innerhalb der Sinnenwelt jede Einschiebung eines hyperphysischen Gliedes in die Reihe der empirischen Bedingungen sich verbietet und somit die Behauptungen der Thesen in ihr nichts zu suchen haben, so wird damit doch wieder andererseits nicht ausgeschlossen, daß diese für eine andere Welt, als es die unsere ist, Bedeutung haben könnten. Die Sinnenwelt ist ja durch den transzendentalen Idealismus als eine Wirklichkeit eigener Art charakterisiert, die sich als solche von dem Hintergrunde anderer denkbarer, wenn auch nicht erkennbarer Seinsmöglichkeiten abhebt. So würde es durchaus keinen Widerspruch in sich schließen, daß die Thesen, welche im Reiche der Erscheinungen kein Heimatrecht besitzen, doch für eine noumenale oder intelligible Welt Geltung haben könnten. Es wäre so denkbar, daß der Mensch als Glied der Sinnenwelt dem Kausalgesetze unterworfen wäre, seinem Wesen als Ding an sich nach aber einer übersinnlichen Welt angehörte, für welche dieses Gesetz keine Gültigkeit besitzt. Es wäre auch denkbar, daß, obzwar der Verstand unter Erscheinungen keine Bedingung erlaubt, die nicht selbst wieder empirisch bedingt wäre, doch das Ganze dieser Bedingungen von einer selbst unbedingten Ursache abhinge. Dadurch würde die ausnahmslose Geltung des Kausalgesetzes in der phänomenalen Sphäre gar nicht berührt und daher auch nicht verletzt. Es wäre somit ganz wohl möglich, daß, während bei den mathematischen Antinomien sowohl Thesis wie Antithesis falsch waren, hier bei den dynamischen beide wahr sein könnten, sofern man sich nur bewußt bleibt, daß sie sich auf ganz verschiedene Welten verteilen. Vom Standpunkte der Transzendental philosophie aus müssen wir hier bei bloßen Denkmöglichkeiten stehenbleiben. Aber dieser in ihr rein problematische Gedanke könnte doch in anderem Zusammenhange Bedeutung gewinnen. Es ist hier wie in der rationalen Psychologie mit dem Unsterblichkeitsgedanken: dort wo transzendente Verhältnisse in Betracht kommen, muß sich die kritische Vernunft jeder positiven, aber auch jeder negativen Aussage enthalten. Wenn wir daher Anlaß finden sollten, aus praktisch-moralischen Gründen an eine Kausalität durch Freiheit und an die Existenz eines Absoluten zu glauben, so hat dieser Glaube von der theoretischen Philosophie eben

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sowenig eine Bestätigung zu erhoffen als eine Widerlegung zu befürchten118.

6. DIE RATIONALE THEOLOGIE

Das Thema der rationalen Theologie ist die Vernunftidee eines unbedingten Zusammenhanges aller Erscheinungen überhaupt. Ihrer rechtmäßigen transzendentalen Funktion nach würde diese Idee nur die allgemeine Forderung bedeuten, alle unsere Erkenntnisse insgesamt zu einer systematischen Einheit zu bringen. Diese Forderung ist, so wichtige Leitgesichtspunkte der Forschung sie auch in sich schließen mag, tatsächlich nur im Sinne einer ins Unendliche hinaufrückenden Aufgabe erfüllbar. Wird jene Idee aber nun im transzendenten Sinne mißverstanden, so verdichtet sich dieses Ideal der reinen Vernunft zu der Vorstellung eines möglichen Objektes der Erkenntnis, in welchem jene höchste Einheit als von Ewigkeit her bestehend gedacht wird. Die Vorstellung des Ideals wird so zuerst realisiert, d. i. zum Objekt gemacht, dann weiterhin hypostasiert und endlich gar personifiziert und so zuerst,,in concreto", zuletzt aber gar,,in individuo“ gedacht. So entsteht der Gedanke eines,,allerrealsten Wesens" als des Inbegriffs aller Realität überhaupt, der dann als Urbild (prototypon) aller Dinge gilt, von welchem diese nur unzulängliche Nachbilder (ectypa) darstellen. Ein solches ens realissimum nennen wir aber Gott. Die Idee des absolut Unbedingten transfiguriert sich so zur Vorstellung eines persönlichen Wesens. Gott als Gegenstand möglicher Vernunfterkenntnis bildet daher das höchste Thema der dogmatischen Metaphysik. Da aber in diesem Falle das Erdichtete und ,,Idealische" einer solchen Denkschöpfung immerhin nicht ganz übersehen werden konnte, bemüht sich die Metaphysik, die Existenz eines höchsten Wesens durch bündige Beweise darzutun. Diese lassen sich auf drei Typen zurückführen: den ontologischen, den kosmologischen und den teleologischen Gottesbeweis. Ihre Kritik bildet daher auch den Hauptinhalt dieses Teiles der Dialektik.

Das ontologische Argument, das auf den Frühscholastiker Anselmus, Erzbischof von Canterbury im 11. Jahrhundert, zurückgeht, von Albert und Thomas abgelehnt, von Descartes aber im 17. Jahrhundert erneuert worden war,

schließt aus dem bloßen Begriffe Gottes auf dessen Existenz. Kants Darstellung lehnt sich dabei an jene Fassung an, welche der Beweis in der Leibniz-Wolffischen Philosophie gefunden hatte. Versteht man unter Gott das ens realissimum et perfectissimum, so muß Gott als Inbegriff aller Möglichkeiten auch wirklich sein. Denn: zu aller Realität gehört auch das Dasein; würde man daher jenen Begriff denken wollen, ohne das Dasein Gottes mitzudenken, so würde man sich eines Verstoßes gegen den Satz des Widerspruches schuldig machen. Nach dieser Auffassung wäre somit der Satz:,,Gott existiert" ein analytisches Urteil. Kant bestreitet nun, daß,,Existenz" ein reales Prädikat sei, das, zu anderen realen Prädikaten hinzutretend, die Summe der ,,Realität“ vermehren würde. Andernfalls würde gar nicht dasselbe, sondern mehr existieren, als ich in dem Begriffe gedacht hatte, und ich hätte dann nicht einmal das Recht zu sagen, daß gerade der Gegenstand meines Begriffes existiere. In der Tat enthalten aber hundert wirkliche Taler begrifflich nicht um einen Pfennig mehr als hundert bloß gedachte Taler. Um hier Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit zu unterscheiden, muß ich über den bloßen Begriff hinausgehen und der Existenz einer Sache durch Wahrnehmung oder im Zusammenhang mit Wahrnehmungen nach empirischen Gesetzen gewiß werden, wie das die ,,Postulate des empirischen Denkens" unwiderleglich dargetan haben. Die Voraussetzung einer Existenz außerhalb des Feldes möglicher Erfahrung läßt sich daher in keiner Weise begründen, mag sie auch als denkmöglich anerkannt werden. Existenzialurteile sind daher durchwegs synthetischer Natur:,,Existenz" ist die Setzung eines Objektes mit allen seinen Prädikaten. Durch sie wird an dem Begriffe des Objekts selbst nichts geändert, sondern dieses nur der Kategorie der ,Wirklichkeit“ nach bestimmt. Hebe ich das Objekt samt seinen Prädikaten auf, so schwindet jeder Widerspruch, weil dann eben nichts mehr da ist, dem widersprochen werden könnte. Das ganze ontologische Argument kommt daher schließlich auf die Tautologie hinaus, daß, wenn Gott existiert (als seiend gesetzt wird), er auch als existierend gedacht werden muß. Durch Schließen aus bloBen Begriffen möchte so ein Mensch,,ebensowenig an Einsichten reicher werden als ein Kaufmann an Vermögen,

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