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noch nicht Erkennen bedeutet, war die wichtigste Einsicht von Kants vorkritischer Zeit, die hier ihre tiefere Begründung findet.

Der gesamte Erkenntnisprozeß schwingt so zwischen zwei Polen: auf der einen Seite steht die Empfindung als Urquell aller empirischen Realität, aber zugleich als das Subjektivste und schlechthin Alogische unseres Bewußtseins; auf der anderen die reine Form des Denkens und das von ihr abgeleitete formale Gesetz als Prinzip aller Objektivität, aber für sich allein leer und bedeutungslos. Zwischen beiden spannen sich die einzelnen Phasen empirischer Erkenntnis: die zwangsweise determinierte Wahrnehmung, das Wahrnehmungsurteil, das Erfahrungsurteil, endlich die apriorische Formulierung der allgemeinsten Gesetze des Empirischen. Den Sinn des Ganzen bildet aber doch allein das Erfahrungsurteil, in welchem die Realität der Empfindung und die Objektivität des reinen Begriffes sich begegnen und das Alogische in die Form des Logischen eingeht. Nur die Durchdringung also des Sensuellen mit dem Intellektuellen und umgekehrt wieder dessen Erfüllung mit sinnlichem Inhalt begründet ein Reich gesicherten Wissens von unbegrenzter Ausdehnungsfähigkeit108

VI. DIE KRITIK DER REINEN VERNUNFT

1. DIE METAPHYSIK ALS PROBLEM

Mit der Grenzbestimmung des Gebrauches reiner Verstandesbegriffe ist im Grunde die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori der Metaphysik bereits beantwortet. Wenn unser Denkapparat einzig und allein auf die theoretische Beherrschung der phänomenalen Welt abgestimmt ist, muß er notwendig versagen, wenn er auf Transzendentes gerichtet wird. Metaphysik im herkömmlichen Sinne, nämlich als wissenschaftliche Erkenntnis des Übersinnlichen, ist daher unmöglich. An ihre Stelle tritt jene neue Art der ,,Metaphysik als Wissenschaft", die nichts anderes sein will als das „,Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft, systematisch geordnet" und mit den Ergebnissen der Transzendentalphilosophie zusammenfällt. Aber obwohl schon der Wi

derstreit einander bekämpfender und immerfort wechselnder metaphysischer Systeme einen deutlichen Fingerzeig für die Aussichtslosigkeit aller Bemühungen, durch reines Denken in ein Jenseits des Bewußtseins vorzudringen, hätte. abgeben können, wagt der menschliche Geist doch immer wieder von neuem die Fahrt auf jenen ,,finsteren Ozean" spekulativer Metaphysik, wo ihm weder Ufer noch Leuchttürme winken.,,Metaphysik als Naturanlage" das,,metaphysische Bedürfnis", wie später Schopenhauer sagte ist also ohne Zweifel wirklich und wurzelt offenbar tief im Wesen des menschlichen Geistes. In der Tat sind ja die Fragen, welche hier auf dem Spiele stehen, wie die nach der Existenz eines höchsten Wesens, nach unserem Schicksale nach dem Tode, nach der Freiheit unserer moralischen Selbstbestimmung und ähnliche, von solcher Wichtigkeit, daß es unmöglich wäre, in Hinsicht ihrer Gleichgültigkeit zu heucheln. Es ist daher unerläßlich, zu ihnen irgendwie Stellung zu nehmen, und zu diesem Zwecke wieder ist es notwendig, den Denkmotiven nachzugehen, welche die Vernunft in ihrem Verfolge bisher immer wieder auf Irrwege drängten. Es könnte sich ja auch herausstellen, daß die Metaphysik nur von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist, wenn sie dort erkennen wollte, wo alles Wissen naturgemäß zu Ende ist, ohne daß es doch_notwendig wäre, die Gegenstände dieser vermeintlichen Erkenntnis selbst fallen zu lassen oder sie gänzlich dem Skeptizismus auszuliefern. Nun kann die spekulative Metaphysik, die zu Kants Zeiten in der Ontologie Wolffs und seiner Schule ihre vermeintliche Vollendung erreicht hatte, nach den Ergebnissen der „,Analytik" nichts anderes sein als eine bloße Scheinwissenschaft. Dieses Blendwerk der Vernunft gilt es also zu zerstören, damit ein unbefangenes Herantreten an jene letzten Fragen überhaupt möglich werde. Und das kann wieder nur geschehen, indem man versucht, seine geheimsten Wurzeln in der Natur unseres Erkenntnisvermögens bloßzulegen. Die nächste Frage lautet also: wie ist Metaphysik als Tatsache, nämlich als Scheinwissenschaft vom Übersinnlichen, überhaupt möglich109? das Wort künftig immer

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Nun kann die Metaphysik im alten ontologischen Sinne verstanden

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ihr Ziel nur

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durch Schlüsse aus gegebenen Begriffen zu erreichen hoffen. Das Vermögen zu schließen ist aber (nach der auch von Kant angenommenen Wolffschen Psychologie) die Vernunft, so wie der Verstand das Vermögen zu urteilen ist. Bezieht sich dieser unmittelbar auf Erscheinungen, so hat es die Vernunft in ihrer logischen Funktion auf höherer Stufe mit den Urteilen des Verstandes zu tun, welche sie ihrerseits zu einer synthetischen Einheit unter Prinzipien zu bringen bestrebt ist. Die Frage ist nun, ob der Vernunft gleich dem Verstande auch eine transzendentale Funktion zukommt; ob sie also nebst ihrer nützlichen haushälterischen Funktion in der Vereinheitlichung der Verstandeserkenntnisse auch noch die Fähigkeit besitzt, schöpferisch und a priori synthetische Begriffe und Grundsätze hervorzubringen, die imstande wären, unsere Erkenntnis noch über den Bereich des Verstandeswissens hinaus zu erweitern? Da ja hier die Erfahrungsgrundlage weit zurück liegt, könnte nur die reine" Vernunft das Organ solcher Erkenntnisse sein. Eine Kritik dieser reinen Vernunft und ihrer Tendenz, die Grenzen verstandesmäßigen Erkennens zu überfliegen, ist somit die Aufgabe, welche jetzt ihrer Lösung harrt und wofür in den Augen Kants alles Vorhergehende ursprünglich nur eine Vorarbeit und Bereitung des Bodens darstellen sollte110.

Diese Aufgabe wird in der „transzendentalen Dialektik gelöst und zwar so gründlich, daß für die Gegenwart dieser dem Philosophen vor allem am Herzen gelegene Teil seines Werkes hinter der,,Ästhetik" und ,,Analytik" an Interesse merklich zurückzutreten pflegt. Der Grund dafür ist aber eben nur der, daß die theologisierende Metaphysik jener Zeit seit Kants vernichtender Kritik endgültig der Vergangenheit angehört. Die „Dialektik" enthält aber auch wertvollste Gedanken erkenntnistheoretischer und methodologischer Art, welche - anfangs beinahe übersehen erst allmählich in ihrer ganzen Bedeutung erkannt wurden. Als ein Vorspiel des Ganzen kann die unmittelbar gegen Leibniz gerichtete Polemik gelten, welche wahrscheinlich aus früheren zerstreuten Aufzeichnungen stammend unter dem Titel: ,,Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ der „Analytik" angehängt ist. Ihr methodischer Grundgedanke ist, daß die Monadologie auf einer Verwechslung des empiri

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schen mit dem reinen Verstandesgebrauche beruhe, insofern Leibniz die Sinnlichkeit für eine verworrene Vorstellungsart hielt und daher glaubte, die wahre Beschaffenheit der Dinge nur durch reines Denken und begriffliche Operationen erkennen zu können. Er ,,intellektuierte" infolgedessen die Erscheinungen, ohne zu bemerken, daß Aussagen über reine Begriffsverhältnisse sich nicht ohne weiteres auf das Wirkliche übertragen lassen. So gilt die,,identitas indiscernibilium" zwar von Begriffen, welche, wenn sie keinerlei Unterschied aufweisen, allerdings zusammenfallen, nicht aber in der anschaulichen Welt, wo schon die Verschiedenheit der Örter auch zwischen zwei sonst völlig gleichen Erscheinungen einen numerischen Unterschied begründet. Ähnliches gilt von dem Unterschiede logischer und realer Entgegensetzung, von den Lehren über die Substanzen und ihre inneren Zustände, endlich von der Leibnizischen Auffassung des Raumes und der Zeit. Die ja auch vorzugsweise gegen die Leibniz-Wolffische Philosophie gerichtete universelle Kritik der „Dialektik" begreift diese z. T. auf Schriften der vorkritischen Zeit zurückweisenden Ausführungen in sich111

2. DIE IDEE DES UNBEDINGTEN

Das Streben des menschlichen Geistes über seine natürlichen Grenzen hinaus wäre psychologisch unbegreiflich, wenn sein Erkenntnistrieb durch das Erfahrungswissen völlig befriedigt würde. Eine solche Befriedigung ist aber tatsächlich nicht vorhanden und kann auch der Natur empirischer Erkenntnis nach niemals erreicht werden, denn diese stellt uns beständig vor Aufgaben, die mit ihren eigenen Mitteln niemals gelöst werden können. Alle Erfahrungserkenntnis nämlich bewegt sich in einem Reich des immer und überall Bedingten, das sie nach allen Richtungen hin noch so weit durchlaufen mag, ohne doch jemals an ein Ende zu kommen. So wird jedes Raumgebilde begrenzt und bestimmt durch andere Raumgebilde, die selbst wieder begrenzt und bestimmt sind, und dasselbe gilt von jeder beliebigen Zeitstrecke; jedes Geschehen ist bedingt durch ein vorhergehendes und dieses ist wiederum die Wirkung eines noch früheren; keine Erklärung empirischer Zusammenhänge ist die letzte und wahrhaft erschöpfende, sondern jede gründet sich wieder auf gewisse Voraus

setzungen, die von neuem einer Erklärung bedürftig sind. Wir stoßen überall auf endlose Ketten und Komplexe von Abhängigkeiten und unsere Forscherarbeit kommt niemals zum Abschluß. Daher bleiben wir immer am Bedingten oder Relativen haften und erreichen nirgends das Unbedingte oder Absolute, daher aber auch niemals eine wahre Einheit oder geschlossene Totalität unseres Wissens. Die am Leitfaden der Kategorien die Erscheinungen,,buchstabierende" Wissenschaft weist so überall über sich selbst hinaus: vom Bedingten auf ein Unbedingtes, vom Relativen auf ein Absolutes, vom Vereinzelten und Unabgeschlossenen auf ein einheitliches Ganzes. Die Erreichung eines solchen,,Unbedingten" wäre das Ideal aller menschlichen Erkenntnis; da es sich niemals vollständig verwirklichen läßt, haftet allem Verstandeswissen etwas Unbefriedigendes an. Denn so wie wir ein Kunstwerk oder ein philosophisches System nur aus der Idee des Ganzen heraus vollkommen verstehen, so würde auch unsere Welterkenntnis erst dann wahrhaft vollendet sein, wenn wir die Welt in allen ihren Gestaltungen aus der Idee des Ganzen, alle ihre Bedingtheiten gleichsam rückschauend aus dem Unbedingten heraus begreifen könnten. In Wirklichkeit klafft hier aber ein schmerzlicher Widerspruch zwischen den Aufgaben und Zielen der Erkenntnis und den Mitteln, welche uns zu ihrer Erreichung zur Verfügung stehen. Dennoch aber ist unser ganzes Erkenntnisstreben von jenem unerreichbaren Ideale geleitet: wenn der menschliche Geist immer tiefer in den Zusammenhang der Erscheinungen einzudringen sich bemüht, wenn er rastlos und unermüdlich auf dem endlosen Wege von Bedingtem zu Bedingtem, von einzelnem zu einzelnem fortschreitet, so geschieht dies im Grunde doch immer aus dem unwiderstehlichen Wunsche, eine Vollendung zu erreichen und sich schließlich doch der Idee des Ganzen zu bemächtigen.

Das Unbedingte läßt sich so zwar niemals verwirklichen, es ist aber doch wirklich als Idee, wenn auch nur als Idee. Da nun die Vernunft das Vermögen der Prinzipien ist, insofern sie im Schlußverfahren durch Subsumption eines Einzelurteils (Untersatz) unter ein allgemeineres (Obersatz) in der Fortsetzung dieses Verfahrens die isolierten Verstandeserkenntnisse auf die kleinstmögliche Zahl von allgemeinsten Bedingungen (Prinzipien) zu bringen bestrebt

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