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zu einem geschlossenen Lehrsystem verarbeitet und sie, die bisher nur in kleineren Aufsätzen und Briefen verstreut vorlagen, erst zu allgemeiner Anerkennung gebracht. Wolff war aber kein einem Leibniz völlig kongenialer Geist. Daher kam es, daß wichtige Lehren der Leibnizischen Philosophie, wie die von der monadologischen Struktur der Welt und der prästabilierten Harmonie, durch ihre dem leichteren Verständnis angenäherte Einschränkung auf das anthropologische Gebiet unter seinen Händen offensichtlich verflachten. Eine an Aristoteles erinnernde Universalität, formal-logischer Scharfsinn, Gründlichkeit bis zur Pedanterie und Kunst der Systematik waren die Vorzüge, aber auch die Einseitigkeiten des Wolffischen Geistes. Sein Streben nach deutlichen Begriffen, strengen Definitionen, bündigen Beweisen und systematischer Übersichtlichkeit besaß jedoch einen keineswegs zu unterschätzenden Wert für die Erziehung zu einer strengen Methodik des philosophischen Denkens, so daß Kant, der in Wolff den gewaltigsten Vertreter des rationalistischen Dogmatismus erblickte, ihn zugleich den „,Urheber des Geistes der Gründlichkeit in Deutschland" nennen konnte. In seinem methodischen Grundgedanken knüpft Wolff an die Leibnizische Unterscheidung der ewigen" und zufälligen" Wahrheiten an. Jene entspringen aus der reinen Vernunft und beruhen auf dem Satze des Widerspruchs; sie gelten zeitlos und notwendig, weil ihr kontradiktorisches Gegenteil zu denken unmöglich ist. Diese beruhen auf Erfahrung und dem Satze vom zureichenden Grunde; sie gelten bloß zeitlich und tatsächlich, aber nicht notwendig, denn ihr Gegenteil schließt keinen logischen Widerspruch in sich. Leibniz hatte aber auch gelehrt, daß für einen überlegenen göttlichen Geist alle Wahrheiten sich als denknotwendig darstellen müßten, und hatte daher gefordert, die Tatsachenwahrheiten nach Möglichkeit in ewige Vernunftwahrheiten überzuführen. Dieses Ideal einer Rationalisierung unserer gesamten Erkenntnis auch ihrem Inhalte nach setzt sich nun Wolff als Aufgabe: alles und jedes soll durch seine Ableitung aus dem Satze des Widerspruchs als denknotwendig begriffen werden. Denknotwendigkeit läßt sich aber nur erreichen durch Deduktion aus feststehenden Begriffen. Aus einem Begriffe ableiten läßt sich aber wieder nur, was in ihm liegt. Daher kommt es vor allem auf richtige und zureichende Definition der Grundbegriffe an. Philosophie ist demgemäß eine Wissenschaft

aus Begriffen, eine Begriffsanalyse also nach Art und nach dem Vorbilde der Mathematik, die aus richtig und vollständig definierten Begriffen mit Hilfe logisch einwandfreier Schlußfolgerungen die Wahrheit finden soll. Daraus folgt, daß jedes nur mögliche Thema auf zweifache Weise sich behandeln lassen muß: spekulativ aus reiner Vernunft und empirisch auf Grund von Erfahrung und Beobachtung, und daß die so gewonnenen Vernunft- und Tatsachen wahrheiten genau zusammenstimmen müssen. Darauf beruht die Wolffische Einteilung der Wissenschaften in „rationale“ und „historische“ (empirische), wobei jene im Rang höher stehen und diese nur eine Art Rechenprobe für die Ergebnisse der ersteren bedeuten. Was z. B. die rationale Psychologie aus dem Begriff der Seele als einer denkenden Substanz ableitet, eben das soll dann die empirische Psychologie auf Grund innerer Beobachtung als tatsächlich nachweisen. Daraus ergab sich folgendes System der philosophischen Wissenschaften: Die Philosophie zerfällt zunächst in einen reinen (theoretischen) und in einen angewandten (praktischen) Teil, denen beiden die formale Logik als allgemeine Propädeutik vorausgeht. Die theoretische Philosophie beginnt mit der Ontologie als der Lehre vom Seienden überhaupt, an sie schließen sich dann an die rationale und die empirische Psychologie, die rationale und die empirische Kosmologie (Naturphilosophie und Physik), endlich die rationale und die empirische Theologie, unter welch letzterer man die auf einen allweisen Urheber hinweisende Betrachtung der Naturzweckmäßigkeit verstand. Die angewandte Philosophie zerfiel wieder in die allgemeine praktische Philosophie, in Ethik, welche den Menschen als Individuum, in Politik, die ihn im bürgerlichen Zustande, und in Ökonomik, die ihn in kleinen und einfachen Verbänden betrachtet. Die systematische, lehrhafte und geschlossene Art dieser Philosophie machte sie zur Bildung einer Schule (der ersten in Deutschland) besonders geeignet und verschaffte ihr auch nicht geringen Einfluß auf andere Wissenschaften, die sich ihrer Lehrart anpaßten oder — wie die protestantische Theologie - in ihr geradezu eine Stütze suchten.

Immerhin war schon beim Eintritt Kants in seine wissenschaftliche Laufbahn die Herrschaft dieses Wolffischen Rationalismus nicht mehr so unbestritten, als es seinem äußeren Ansehen nach betrachtet scheinen könnte. Auch die der rationalistischen Entwicklung parallel gehende, von Bacon über

Hobbes, Locke, Berkeley in Hume zur Vollendung gelangte Denkrichtung des Empirismus hatte in Deutschland zahlreiche Anhänger gewonnen, als deren bedeutendster der Leipziger Professor Chr. A. Crusius (1712-1775) zu nennen ist. Der Empirismus, seinem Ursprunge nach eine Oppositionserscheinung gegen die zu weit gehenden Ansprüche des Rationalismus, anerkennt das begriffliche Denken nicht als schöpferisches Prinzip, sondern nur als untergeordnetes Werkzeug für die Ordnung und Verarbeitung der Tatsachen. Er wird daher auch nicht müde, dem Rationalismus die empirische Herkunft seiner vermeintlich „reinen" Vernunftbegriffe vorzurechnen, indem er zu zeigen sucht, daß auch sie (wie z. B. der Begriff der Substanz, der Kausalität, der Seele u. dgl.) ursprünglich aus der äußeren oder inneren Erfahrung stammen und daher auch nur insofern Geltung beanspruchen dürfen, als sie ihrer Erfahrungsgrundlage treu geblieben sind. Bei den Anhängern dieser Richtung überwog daher von Anfang an eine mehr skeptisch-kritische Geisteshaltung, welche sich naturgemäß besonders gegen die Grundlagen der herrschenden Metaphysik richtete. Hatte doch Hume die Möglichkeit einer solchen, aber auch die einer ätiologischen Naturwissenschaft, welche die Phänomene nicht bloß in ihrer Tatsächlichkeit beschreiben, sondern aus ihren letzten Ursachen erklären will, grundsätzlich verneint. Eben damit trat der Empirismus aber wieder seinerseits in Gegensatz zu der stärksten wissenschaftlichen Macht jener Zeit, der mathematischen Naturwissenschaft, welche eben in Newton (1642-1727) ihre höchsten Triumphe gefeiert hatte. Ebensowenig stand mit ihr aber auch die teleologische Richtung der Leibniz-Wolffischen Metaphysik in Einklang, wozu sich noch allerlei Differenzen in engeren naturphilosophischen Fragen gesellten. Der Hauptvertreter dieser naturwissenschaftlichen Richtung in Deutschland, der auch von Kant hochgeschätzte Mathematiker Leonhard Euler, stand daher der Philosophie seiner Zeit mehr oder weniger mißtrauisch gegenüber. Ebenso fühlte sich aber auch die von Jakob Spener ins Leben gerufene und allmählich weite Kreise in ihren Bann ziehende pietistische Bewegung, welche auf eine Verinnerlichung des Christentums abzielte, nicht nur zur protestantischen Orthodoxie, sondern auch zum Wolffischen Rationalismus in schärfstem Gegensatz. Nimmt man noch dazu, daß, mitbegünstigt durch die Neigungen des großen Preußenkönigs, auch die französischen Schriftsteller: Voltaire,

Montesquieu, Condillac, La Mettrie und Rousseau in Deutschland eindrangen und eifrig gelesen wurden, so ergibt sich ein überaus buntes Bild der philosophischen Zeitlage. Dieser Zwiespalt der Meinungen forderte zu einem Ausgleich heraus und legte es nahe, eine Synthese des scheinbar ganz Auseinanderstrebenden zu versuchen. Einer der bemerkenswertesten Versuche dieser Art ist jener, den der Physiker Johann Heinrich Lambert in seinem,,Neuen Organon" (1764) unternahm, indem er auf Grund der Unterscheidung von „Form" und „Stoff" unserer Erkenntnis die Wolffische Metaphysik mit einer empiristisch gerichteten, an Locke orientierten Erkenntnistheorie zu unterbauen vorhatte: der Stoff unseres Wissens wird durch Erfahrung gegeben, seine Formung erfolgt durch die Gesetze unseres Denkens. Lamberts Briefwechsel mit Kant, der ihn überaus schätzte, und mit dem ihn auch sonst manche Berührungspunkte verbanden, war nicht von unwesentlichem Einflusse auf dessen philosophische Entwicklung1. Die Regel aber war, daß man von den einzelnen Richtungen gerade nur das gelten ließ, was jedem eben paßte, und als Folge davon ergab sich, daß allmählich ein synkretistischer Eklektizismus sich immer weiter verbreitete, dieses sicherste Kennzeichen einer absterbenden Geistesepoche. Niemals vielleicht wurde in Deutschland so viel und von so vielen philosophiert wie damals. Die Breite der Produktion stand aber zumeist in umgekehrtem Verhältnisse zu ihrer Tiefe und wissenschaftlichen Bedeutung. In weitem Bette rauschte der Strom der Popularphilosophie dahin und ergoß sich mit wenig Witz und viel Behagen in zahllosen philosophischen Traktaten, Tagebüchern, Selbstbekenntnissen, Gedichten und Romanen. Kein Wunder, daß diese Verflachung, zusammen mit dem Widerstreit der Schulen und Systeme, in den Augen der wissenschaftlich strenger Denkenden das Ansehen der Philosophie überhaupt und der Metaphysik im besondern immer mehr herabsetzte, so daß zur Zeit, als Kant mit seinem ersten kritischen Hauptwerk hervortrat (1781), das Interesse daran merklich abzuflauen begonnen hatte. Daher konnte Kant von der Metaphysik seiner Zeit, dem,,Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten“, sagen: ,,Es war eine Zeit, in welcher sie die Königin aller Wissenschaften genannt wurde und, wenn man den Willen für die Tat nimmt, so verdiente sie, wegen der vorzüglichen Wichtigkeit ihres Gegenstandes, allerdings diesen Ehrennamen. Jetzt

bringt es der Modeton des Zeitalters so mit sich, ihr alle Verachtung zu beweisen, und die Matrone klagt, verstoßen und verlassen, wie Hekuba: modo maxima rerum, tot generis natisque potens nunc trahor exul, inops Ovid. Metam.2." Als das einzig wertvolle Ergebnis jener Verbindung des Wolffischen Rationalismus mit dem englischen Empirismus und dem französischen Freidenkertum aber blieb die deutsche Aufklärung zurück, die in ihren besten Vertretern, wie Mendelssohn und Lessing, in ihrem Kampfe gegen die noch immer übermächtige Orthodoxie überaus wohltätig wirkte, dem Zug der Zeit folgend, vielfach aber ebenfalls in Gemeinplätzen verflachte und zu einem Nüchternheitsfanatismus entartete. Ihr Streben nach Selbstbefreiung der Menschheit von allen Fesseln in der Entfaltung ihrer allerhöchsten Kraft": Vernunft und Wissenschaft, ihre Forderung nach Durchleuchtung aller Lebensgebiete mit verstandesmäßiger Klarheit und ihre Einschränkung der dogmatischen Religionen auf die drei Glaubensartikel des Deismus: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit waren gleichwohl Züge, welche dem Dunkel des vergangenen Jahrhunderts gegenüber einen wesentlichen Fortschritt bedeuteten. In diesem Punkte fußte auch Kant ganz in der Richtung seiner Zeit. Er selbst hat die Aufklärung auf ihren Höhepunkt geführt, sie aber auch in ihrer Einseitigkeit überwunden. Im allerhöchsten Sinne als Aufklärer aber bewies sich Kant, als seine „Kritik der reinen Vernunft" in das aufund abwogende Gewölk metaphysischer Spekulationen wie ein Blitz hineinleuchtete. Er ist damit zum Aufklärer der Leuchte aller Aufklärung, der Philosophie selbst geworden.

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