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Wenn nn Månner, welche berufen waren, irgend ein Gebiet der Wissenschaft durchgreifend und umfassend umzugestalten, und dadurch absichtlich oder unabsichtlich an die Spiße einer Partei traten, im Verlaufe der Geschichte, wenn neue Parteien die älteren verdrången, nicht mit der ihrigen verschwinden, sondern sich wieder von ihr ablösen oder kraft ihrer eigenen Größe ihr Andenken der Nachwelt sichern, so gehören sie der Geschichte nicht blos deshalb an, weil diese Alles, was überhaupt einmal dagewesen ist, mit antheilsloser Treue in der Erinnerung aufbewahrt, sondern sie nehmen auf diesem gemeinschaftlichen, immer wachsenden Boden, auf welchem die verschiedensten Versuche, das gleiche Ziel zu erreichen, sich unwillkührlich begegnen, auf welchem der blose Verkehr zur Kritik, und die wahre Kritik › zum Fortschritt wird, in einem bei Weitem höheren Sinne eine bestimmte, durch die innere Kraft ihres Geistes bezeichnete Stellung und Bedeutung in Anspruch. Und wenn irgend ein Denker, der in die Entwickelung der Wissenschaft nachdrücklich eingegriffen hat, in der lehteren Rücksicht der dankbaren Anerkennung einer frei prüfenden Nachwelt zuversichtlich entgegensehen darf, so ist es Immanuel Kant, welchem die Größe seines wissenschaftlichen Charakters vor Allem das Zugeständniß sichert, daß die Stärke der Kraft und der Umfang der Wirkungen bei ihm in einem gegenseitig angemessenen Verhältniß stehen und daß man zur Auffassung der Größen, die dieses Verhältniß bilden, nicht

eines engen, sondern des weitesten Maaßes bedürfe, nach welchem die Wirkungen der Philosophie überhaupt wollen gemessen sein. Denn wenn die Sorgen und Arbeiten des Denkers oft auf den engen Kreis der Schule oder auf den noch engeren des eigenen Bewußtseins beschränkt bleiben, bethätigte Kant die Macht des wissenschaftlich ausgebildeten Denkens für die weiten Kreise des religiösen und politischen Lebens, ja für die gesammte Culturstufe seines Zeitalters. Nicht als ob er außer allem Zusammenhange mit den Bestrebungen des Zeitalters, in welchem er auftrat und wirkte, durchaus einen neuen Gedankenkreis geschaffen und geltend gemacht hätte, dessen Elemente vor ihm auf keinerlei Weise vorhanden gewesen wären; wir sehen ihn vielmehr in vielen und gerade den wichtigsten Puncten bemüht, eine entweder nur schwankend angedeutete oder schon bestimmt eingeschlagene Richtung fortzusehen und in sich selbst zu vollenden; und gerade deshalb, weil er sich der schon vorhandenen Anfänge mit umfassendem Geißte bemächtigte und sie zu einer Höhe entwickelte, von welcher herab sie in die Gesinnungen und die Denkart der Gesellschaft eindrangen und sich bis in die Niederungen des gewöhnlichen Lebens herab verbreiteten, wurde es möglich, eine so gewaltige Bewegung der Geister hervorzubringen, wie er thatsächlich hervorgebracht hat. Wenn ganz im Allgemeinen und ohne Rücksicht auf besondere Probleme und Lehrfäße betrachtet die Endabsicht seiner, ganz und gar auf dem Grundsaße eines durch keinerlei Auctorität gehemmten, freien Vernunftgebrauches ruhenden Philosophie auf Beschränkung eines angemaßten und unfruchtbaren speculativen Wissens, zu – Gunsten eines aufgeklärten Glaubens in Sachen der Res ligion, einer auf sich selbst festruhenden sittlichen Gesinnung und der größtmöglichen bürgerlichen Freiheit geht, so kann er im besten Sinne als der Vollender dessen angesehen werden, wofür die besseren Kräfte des achtzehnten Jahrhunderts,

wenn auch oft in verkehrter und selbst gesinnungsloser Weise gearbeitet und gekämpft hatten. Hierin liegt keine Entwürdigung seiner lehten Zwecke, wenn man unbefangen erwägt, wie unermeßlich Viel das geistige und politische Leben Europa's den Anstrengungen dieses denkwürdigen Zeitraumes verdankt, die oft durch schroffe Verneinung Plas machen mußten für die Bejahungen, die Noth thaten, und wenn man dabei nicht vergißt, daß, wenn Kant der Vollender dieser Bestrebungen genannt wird, sein Kampf gegen das, was ihm irgend als wissenschaftliches, religiöses oder sociales Vorurtheil, ja vielleicht als ein verderblicher Irrthum erschien, durch die ruhige Besonnenheit seines kritischen Geistes gezügelt und durch die Reinheit seiner sittlichen Gesinnung in einer solchen Weise geadelt war, daß er, obwohl auf dem gemeinschaftlichen Grund und Boden seines Jahrhunderts stehend, doch in seiner eigenen, auch für das blödeste Auge unverkennbaren Würde weit hervorragt. Ueberall tastet seine Hand nach den Grenzen des menschlichen Denkens und Wissens; aber so wie er den Uebermuth des Zweifelns und Leugnens gleich stark tadelt, wie den Uebermuth des Behauptens, so vertritt er das, was innerhalb der von ihm gesteckten Grenzen von wahrem Werthe ist, Freiheit der wissenschaftlichen Forschung, Recht, Sittlichkeit und eine darauf gegründete religiöse Ueberzeugung, mit der ganzen Energie seiner geistigen Kraft und respectirt niemals die Grenzen, welche Bequemlichkeit, Gedankenlosigkeit, Eigennuß und böser Wille vertheidigen. Und eben dadurch, daß er die unwandelbaren Zielpuncte menschlichen Wollens fest im Auge behielt, steht Kant an der Grenze zweier Jahrhunderte als ein nicht nur rückwärts, sondern auch vorwärts schauender Janus!

Nächst dieser auf keine einzelne Zeit beschränkten Wichtigkeit, vermöge deren er die Bedeutung der Philosophie für die höchsten Gebiete des geistigen Lebens in einem Maaße

repräsentirt, wie vor ihm nur wenige Denker, steht er der Gegenwart noch nicht so fern, um nicht für sie und bei der Auffassung ihrer wissenschaftlichen Bestrebungen eine ganz besondere Beachtung zu fordern. Zwar dürfte nicht leicht Jemand in diesem Augenblicke ein Anhänger der Kant‍schen Lehre in ihrer ursprünglichen und strengen Form sein; aber so wie die allgemeine Aufgabe eines begriffsmäßigen Verfahrens und die Hinweisung auf sittliche Ideale, die Sokrates dem Plato und Aristoteles als unentwickelten Keim hinterließ, in der geistreichen Beweglichkeit des griechischen Volkes einen fruchtbaren Boden fand, der eine, lange Zeit hindurch fortwirkende, in der Spaltung der Schulen durch die gemeinschaftliche Erinnerung an Sokrates zusammengehaltene Aufregung wissenschaftlicher Bestrebungen hervorbrachte, ebenso und in einem noch höheren Grade weisen die Anstrengungen der Speculation, welche die Geschichte der Philosophie seit Kant beurkundet, auf ihn als ihren gemeinschaftlichen Ausgangspunct zurück. Kant war nicht in dem Falle, seine Anerkennung erst von der Begeisterung künftiger Geschlechter erwarten zu müssen, wie, um anderer Beispiele nicht zu erwähnen, etwa Spinoza und Leibnih, für dessen gerechte Würdigung erst jeht die Anfänge gemacht worden sind; Kant berührte sein, durch ein halbunbewußtes inneres Drången empfänglich gewordenes Zeitalter mit der frischesten Unmittelbarkeit; aber er hat überdies das Glück, wenn es anders erlaubt ist, was ohne den Reichthum und die Kraft seines Geistes nicht erfolgt sein würde, ihm zum Glücke anzurechnen, daß die nachfolgenden Systeme zum großen Theile die weiteren, wenn auch bisweilen die innere Mißgestalt durch den Schein einer üppigen Lebensfülle verhüllenden Entwickelungen solcher Keime sind, die sich in sei= nen Schriften mehr oder weniger bestimmt nachweisen lassen. Fichte's, ausschließend auf den reinen Begriff des Jch sich stüßender Idealismus, Schelling's åltere, die intellectuelle

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