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Vorrede.

Der Gebrauch, den man in der Weltweisheit von der Mathematik machen kann, besteht entweder in der Nachahmung ihrer Methode, oder in der wirklichen Anwendung ihrer Såße auf die Gegenstände der Philosophie. Man sieht nicht, daß der erstere biz daher von einigem Nußen gewesen sei, so großen Vortheil man sich auch anfänglich davon versprach; und es sind auch allmålich die vielbedeutenden Ehrennamen weggefallen, mit denen man die philosophischen Säße aus Eifersucht gegen die Geometrie ausschmückte, weil man bescheidentlich einsahe, daß es nicht wohl stehe, in mittelmäßigen Umstånden trøßig zu thun und das beschwerliche non liquet allem diesem Gepränge keinesweges weichen wollte.

Der zweite Gebrauch ist dagegen für die Theile der Weltweisheit, die er betroffen hat, desto vortheilhafter geworden, welche dadurch, daß sie die Lehren der Mathematik in ihren Nußen verwandten, sich zu einer Höhe geschwungen haben, darauf sic sonsten keinen Anspruch hätten machen können. Es sind dieses aber auch nur die zur Naturlehre gehörigen Einsichten, man müßte denn etwa die Logik der Erwartungen in Glücksfällen auch zur Weisheit zählen wollen. Was die Metaphysik anlangt, so hat diese Wissenschaft, anstatt sich einige von den Begriffen oder Lehren der Mathematik zu Nuße zu machen, vielmehr sich öfters wider sie bewaffnet, und, wo sie vielleicht sichere Grundlagen hätte entlehnen kön nen, um ihre Betrachtungen darauf zu gründen, sieht man sie bemüht, aus den Begriffen des Mathematikers nichts, als feine Erdichtungen zu machen, die außer seinem Felde wenig Wahres an sich haben. Man kann leicht errathen, auf welcher Seite der Vor

theil sein werde in dem Streite zweier Wissenschaften, deren die eine alle insgesammt an Gewißheit und Deutlichkeit übertrifft, die andere aber sich allererst bestrebt, dazu zu gelangen.

Die Metaphysik sucht z. E. die Natur des Raumes und den obersten Grund zu finden, daraus sich dessen Möglichkeit verstehen láßt. Nun kann wohl hiezu nichts behülflicher sein, als wenn man zuverlässig erwiesene Data irgend woher entlehnen kann, um sie in seiner Betrachtung zum Grunde zu legen. Die Geometrie liefert deren einige, welche die allgemeinsten Eigenschaften des Raumes betreffen, z. E. daß der Raum gar nicht aus einfachen Theilen bestehe; allein man geht sie vorbei und seht sein Zutrauen lediglich auf das zweideutige Bewußtsein dieses Begriffs, indem man ihn auf eine ganz abstracte Urt denkt. Wenn denn die Speculation nach diesem Verfahren mit den Säßen der Mathematik nicht übereinstimmen will, so sucht man seinen erkünftelten Begriff durch den Vorwurf zu retten, den man dieser Wissenschaft macht, als' wenn die Begriffe, die sie zum Grunde legt, nicht von der wahren Natur des Raumes abgezogen, sondern willkürlich ersonnen wor den. Die mathematische Betrachtung der Bewegung, verbunden mit der Erkenntniß des Raumes, geben gleicher Gestalt viele Data an die Hand, um die metaphysische Betrachtung von der Zeit in dem Gleise der Wahrheit zu erhalten. Der berühmte Herr Euler hat hiezu unter anderen einige Veranlassung gegeben*), allein es scheint bequemer, sich in finsteren und schwer zu prüfenden Abstractionen aufzuhalten, als mit einer Wissenschaft in Verbindung zu treten, welche nur an verständlichen und augenscheinlichen Einsichten Theil nimmt.

Der Begriff des unendlich Kleinen, darauf die Mathematik so öfters hinruskommt, wird mit einer angemaßten Dreistigkeit só geradezu als erdichtet verworfen, anstatt daß man eher vermuthen sollte, daß man noch nicht genug davon verstände, um ein Urtheil darüber zu fällen. Die Natur selbst scheint gleichwohl nicht undeutliche Be

*) Hist. de l'Acad. Royale des sc. et belles lettr. L'ann. 1748.

weisthümer an die Hand zu geben, daß dieser Begriff sehr wahr sei. Denn wenn es Kräfte gibt, welche eine Zeit hindurch continuirlich wirken, um Bewegungen hervorzubringen, wie allem Ansehen nach die Schwere ist, so muß die Kraft, die sie im Anfangsaugenblicke oder in Ruhe ausübt, gegen die, welche sie in einer Zeit mittheilt, unendlich klein sein. Es ist schwer, ich gestehe es, in die Natur dieser Begriffe hineinzudringen; aber diese Schwierigkeit kann allenfalls nur die Behutsamkeit unsicherer Vermuthungen, aber nicht entscheidende Aussprüche der Unmöglichkeit rechtfertigen.

Ich habe für jeħt die Absicht, einen Begriff, der in der Mathematik bekannt genug, allein der Weltweisheit noch sehr fremd ist, in Beziehung auf diese zu betrachten. Es sind diese Betrachtungen nur kleine Anfänge, wie es zu geschehen pflegt, wenn man neue Aussichten eröffnen will, allein sie können vielleicht zu wichtigen Folgen Anlaß geben. Aus der Verabsäumung des Begriffs der negativen Größen sind eine Menge von Fehlern oder auch Mißdeutungen der Meinungen Anderer in der Weltweisheit entsprungen. Wenn es z. E. dem berühmten Herrn D. Crusius beliebt hätte, fich den Sinn der Mathematiker bei diesem Begriffe bekannt zu machen, so würde er die Vergleichung des Newton nicht bis zur Bewunderung falsch gefunden haben*), da er die anziehende Kraft, welche in vermehrter Weite, doch nahe bei den Körpern nach und nach in eine zurückstoßende ausartet, mit den Reihen vergleicht, in denen da, wo die positiven Größen aufhören, die negativen anfangen. Denn es sind die negativen Größen nicht Negationen von Größen, wie die Aehnlichkeit des Ausdrucks ihn hat vermuthen lassen, son: dern etwas an sich selbst wahrhaftig Positives, nur was dem anderen entgegengesett ist. Und so ist die negative Anziehung nicht die Ruhe, wie er dafür hålt, sondern die wahre Zurückstoßung.

Doch ich schreite zur Abhandlung selbst, um zu zeigen, welche Anwendung dieser Begriff überhaupt in der Weltweisheit haben könne.

*) Crufius_Naturl, 1. Th. §. 295.

Der Begriff der negativen Größen ist in der Mathematik lange im Gebrauch gewesen, und daselbst auch von der äußersten Erheblichkeit. Indessen ist die Vorstellung, die sich die Mehresten davon machten, und die Erläuterung, die sie gaben, wunderlich und widersprechend; obgleich daraus auf die Anwendung keine Unrichtig: keit abfloß; denn die besonderen Regeln vertraten die Stelle der Definition und versicherten den Gebrauch, was aber in dem Urtheil über die Natur dieses abstracten Begriffs geirrt sein mochte, blieb můßig und hatte keine Folgen. Niemand hat vielleicht deutlicher und bestimmter gewiesen, was man sich unter den negativen GröBen vorzustellen habe, als der berühmte Herr Professor Kästner*), unter dessen Händen Alles genau, faßlich und angenehm wird. Der Ladel, den er bei dieser Gelegenheit auf die Eintheilungssucht eines grundabstracten Philosophen wirft, ist viel allgemeiner, als er da: selbst ausgedrückt wird, und kann als eine Aufforderung angesehen werden, die Kräfte der angemaßten Scharfsinnigkeit mancher Dens ker an einem wahren und brauchbaren Begriffe zu prüfen, um seine Beschaffenheit philosophisch festzuseßen, dessen Richtigkeit durch die Mathematik schon gesichert ist; welches ein Fall ist, dem die falsche Metaphysik gerne ausweicht, weil hier gelehrter Unsinn nicht so leicht, wie sonsten das Blendwerk von Gründlichkeit zu machen vermag. Indem ich es unternehme, der Weltweisheit den Gewinn von einem annoch ungebrauchten, obzwar höchst nöthigen Begriffe zu verschaffen, so wünsche ich auch keine anderen Richter zu haben, als von der Art, wie derjenige Mann von allgemeiner Einsicht ist, dessen Schriften mir hiezu die Veranlassung geben. Denn was die

*) Anfangsgr. der Urithm. S. 59-62,

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