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wie z. B. das „Werden“, vermissen, das seine systematische Stelle zwischen „Sein“ und „Nichtsein“ hätte erhalten können. Keinesfalls wird man die Kantische Aufzählung der Kategorien für endgültig und vollkommen halten wollen. Die Kategorien unseres Denkens stehen nicht ein für allemal fest, sondern sind zweifellos einer Entwicklung unterworfen. Es erhellt dies schon daraus, daß ja auch die Erfahrungsurteile einer Zeit nicht ein Urteilssystem vollendeter Erkenntnis darstellen, sondern immer nur vorläufigen Charakter tragen. Diese Bildsamkeit und Entwicklungsfähigkeit unseres logischen Kategoriensystems tut aber dem prinzipiellen Grundgedanken keinen Eintrag, daß eben jederzeit gewisse Denkformen zur Verarbeitung des sinnlichen Materiales unentbehrlich sein werden, so daß die Herausarbeitung der „echten", d. i. der wahrhaft „konstitutiven“ Kategorien zu aller Zeit ein, wenn auch immer nur annähernd erreichbares Ziel erkenntnistheoretischer Forschung bleiben wird91.

Kant nennt es eine „artige Betrachtung“, daß immer die dritte Kategorie aus einer Verbindung der ersten und zweiten folge. So ist „Allheit" nichts anderes als die Vielheit als Einheit betrachtet,,,Limitation" eine Realität mit Negation verbunden, ,,Wechselwirkung" eine wechselseitige Kausalität der Substanzen,,,Notwendigkeit" eine Existenz, die sich durch ihre bloße Möglichkeit schon verwirklicht. Immerhin meinte er, daß doch auch diese Verbindung einen „,besonderen Aktus des Verstandes" erfordere, daher auch die dritte Kategorie Anspruch auf Selbständigkeit besitze. Kant erwartete von dieser Betrachtung, daß sie „vielleicht erhebliche Folgen in Ansehung der wissenschaftlichen Form aller Vernunfterkenntnisse" haben könnte. In der Tat kann sie in Verbindung mit der Kantischen Trichotomie als die Wurzel sowohl der antithetischen Methode Fichtes als auch der dialektischen Methode Hegels gelten.

4. DER TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE HÖCHSTER PUNKT

Die Anwendbarkeit der Kategorien auf Gegenstände der Sinne ist ein Erkenntnispostulat. Ohne sie würde nur ein ,,Gewühl von Erscheinungen" unsere Seele erfüllen und unsere Erfahrung nur eine „Rhapsodie von Wahrnehmungen" sein, wie sie eben die Zufälligkeit individuellen Erlebens zusammenfügte. Erst die kategoriale Urteilssynthese schafft „empirische Erkenntnis", indem sie das zufällig Zusammengeratene als objektiv zusammengehörig begreift und damit einen der

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individuellen Subjektivität entrückten Zusammenhang der Erscheinungen zu eindeutigem Ausdruck bringt. Diese Anwendbarkeit der Kategorien auf das Gegebene ist eine Tatsache und ein Problem zugleich. Eine Tatsache: denn die Erscheinungen fügen sich tatsächlich den Gedankenformen" unseres Verstandes ein und schließen sich damit zu dem objektiven Weltbild empirischer Wissenschaft zusammen, das seinen Wahrheitswert in zutreffenden Voraussagen des Künftigen immer wieder bewährt. Ein Problem: denn dieses Zusammenstimmen des sensuellen und intellektuellen Faktors hat auf den ersten Blick etwas Wunderbares an sich. Würden unsere Denkbegriffe der Erfahrung entspringen, so könnte es allenfalls selbstverständlich erscheinen, daß sich die Erfahrung ihnen gemäß erweisen müsse. Humes Kritik schließt diese Möglichkeit aus. Kategorien empirischen Ursprungs würden auch nicht jenen Charakter der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit besitzen, der sie auszeichnet und von ihnen auf die empirischen Urteile überstrahlt. Sie würden also das gar nicht leisten können, was man von ihnen erwartet. Die Kategorien sind daher a priori in demselben Sinne, wie Raum und Zeit a priori sind: ihre Geltung ist von Erfahrung unabhängig. Aber nun sollen sie doch für alle Erfahrung gelten? Daß die Gesetze des Raumes und der Zeit auf die Erscheinungen Anwendung finden, erklärt sich ohne weiteres daraus, daß eben Erscheinungen gar nicht möglich wären ohne raum-zeitliche Formung der Empfindungen. Dem urteilenden Geiste steht aber die Erscheinungswelt bereits als ein Gegebenes, als empirische Wirklichkeit gegenüber. Wie ist es da zu verstehen, daß seine reinen Verstandesbegriffe a priori auf die Erscheinungen, welche a posteriori sind, mit Erfolg übertragen werden können?,,Daher zeigt sich hier sagt Kant eine Schwierigkeit, die wir im Felde der Sinnlichkeit nicht antrafen, wie nämlich subjektive Bedingungen des Denkens sollten objektive Gültigkeit haben 92"

Schon aus der Analyse des Erfahrungsurteils geht hervor, daß die Kategorien gewissermaßen ein doppeltes Gesicht aufweisen: sie sind logische Urteilsformen, reine Verstandesbegriffe und insofern ein subjektiver Besitz unseres Geistes. Die Urteile, welche ihnen gemäß vollzogen werden, behaupten aber zugleich einen dementsprechenden Zusammenhang der Erscheinungen untereinander, der unabhängig von seiner sub

jektiven Beurteilung als objektiv bestehend vorausgesetzt wird. Die Funktion der Kategorien ist also eine logische (im Urteil) und eine reale (innerhalb der empirischen Wirklichkeit) zugleich. Diese ihre reale Bedeutung kann nicht durch die logische Urteilsfunktion erst geschaffen werden; sie wird vielmehr von ihr als objektiv zu Recht bestehend anerkannt und durch sie nur begrifflich festgelegt. Die Kategorien sind also keine Glasstürze, welche wir über die gegebenen Wahrnehmungsdaten überstülpen, um dann die so eingefangenen in ein bereitstehendes Urteilsschema einzuschachteln. Das würde nicht eine Erkenntnis, sondern eine Vergewaltigung des Empirischen mit Hilfe des Rationalen ergeben. Soll daher das Erfahrungsurteil in der Tat objektive Verhältnisse in notwendiger und allgemeingültiger Weise zum Ausdruck bringen, so muß schon die sinnliche Erfahrung selbst so beschaffen sein, daß sie Anlaß und Berechtigung gibt, sie in die kategorialen Formen zu fassen. Sie muß außerdem einen Hinweis darauf enthalten, in einem vorliegenden Einzelfall gerade diese bestimmte und keine andere Urteilsform auf sie anzuwenden. Es ist ja auch ohne weiteres klar, daß wir gar nicht imstande wären, jede beliebige Kategorie auf jeden beliebigen Erscheinungskomplex zu übertragen. So würde die Kategorie der „Substanz" im buchstäblichen Sinne,,gegenstandslos" bleiben, wenn nicht die äußere Erscheinung selbst etwas,,Stehendes oder Bleibendes" hätte, welches den Begriff eines den wandelbaren Bestimmungen zugrunde liegenden Substratums forderte. Ebensowenig würde sich jemals die Denkform der „Kausalität“ mit Inhalt erfüllen können, wenn nicht die Erfahrung uns immer wieder eine Regelmäßigkeit in der Folge der Ereignisse vor Augen führte. Wenn in jenem Kantischen Beispiele auf die Sonnenbestrahlung bald eine Erwärmung und bald wieder eine Abkühlung des Steines erfolgen würde, so hätten wir weder Anlaß noch Berechtigung, ein Kausalverhältnis zwischen beiden in Form eines Erfahrungsurteiles auszusprechen. Da aber eine gesetzliche Ordnung des Erscheinungsablaufes für uns von wesentlichem theoretischen und auch praktischen Interesse ist, finden wir unseren Verstand,,jederzeit beschäftigt, die Erscheinungen in der Absicht durchzuspähen, um an ihnen irgendeine Regel aufzufinden", welche es gestattet, sie seinen Begriffsformen zu unterwerfen 93. Die Beobachtung einer Regelmäßigkeit im Naturlauf ist die Voraussetzung einer Anwendung der Kategorie der Kausalität;

durch sie wird dann allerdings diese Regel erst als „notwendig" vorgestellt und eben dadurch zum „Gesetz". So sehen wir uns in Hinsicht der Möglichkeit kategorialer Synthesen in allen Fällen auf die Beschaffenheit der sinnlichen Erfahrung zurückgewiesen. Ihre Grundlage ist überall empirisch; nur die Begriffe sind es nicht, durch welche wir das Tatsächliche als notwendig begreifen und es damit aus der Sphäre der Subjektivität in die Region objektiver Erkenntnis erheben. Was dort, nämlich in der sinnlichen Erfahrung, in schwankender Erscheinung schwebt, befestigt unser Verstand mit dauernden Gedanken. Oder kurz: die kategoriale Synthese im Erfahrungsurteil bedeutet nur die begriffliche Festlegung beobachtbarer Verhältnisse. Hume hatte die Ordnung unseres Weltbildes auf psychologische Prozesse zurückgeführt, welche sich an gewisse Tatsachenfolgen zwangsweise anschließen. Kant entrückt den instinktiven „Glauben“ Humes seiner Unbestimmtheit, indem er ihn durch die logische Funktion der Kategorien gleichsam sanktionieren läßt. Die Voraussetzung einer bestimmten Tatsachenbeschaffenheit ist beiden gemeinsam. Ohne sie wäre jener Glaube ebenso unmöglich wie die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit des Erfahrungsurteils.

Ein gewisses Entgegenkommen der sinnlichen Erfahrung in Hinsicht der Bedürfnisse unseres Denkens ist somit die Bedingung empirischer Erkenntnis. Diese Bedingung ist tatsächlich in hohem Maße erfüllt. Die empirische Wissenschaft besteht durchwegs aus „Erfahrungsurteilen" und bewährt ihren Wahrheitswert immer wieder in späteren Erfahrungen. Der Positivist Hume ist bei dieser Tatsache stehen geblieben, für die Transzendentalphilosophie wird sie erst recht zum schwierigsten Problem. „Denn es könnten wohl allenfalls meint Kant Erscheinungen so beschaffen sein, daß der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gemäß fände“ und alles so in Verwirrung liegen, daß wir gar keine Gelegenheit fänden, unsere Verstandesformen in Anwendung zu bringen, so daß diese „ganz leer und nichtig und ohne Bedeutung bleiben müßten 94. Glücklicherweise ist es nun nicht so. Kant nennt die tatsächliche Einstimmung der Erscheinungen zu den Verstandesgesetzen, welche ihm,,befremdlich" dünkt, ihre Affinität in bezug auf den Verstand ein bildlicher Ausdruck für eine Art chemischer Wahlverwandtschaft zwischen dem Sensuellen und Intellek

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tuellen. Die Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung (als empirischer Erkenntnis) beantwortet sich nun durch den Hinweis auf diese Affinität des gegebenen Mannigfaltigen der Sinne in bezug auf seine rationale Formung. Wie ist aber diese Affinität selbst möglich? Kants Problem lautet: „Ich frage also, wie macht ihr euch die durchgängige Affinität der Erscheinungen (dadurch sie unter beständigen Gesetzen stehen und darunter gehören müssen) begreiflich ?" Oder wie es an anderer Stelle heißt:,,Woher kommt den Gegenständen der Sinne der Zusammenhang und die Regelmäßigkeit ihres Beieinanderseins, daß es dem Verstande möglich ist, sie unter allgemeine Gesetze zu fassen und die Einheit derselben nach Prinzipien aufzufinden ?" Es ist nur eine andere Wendung derselben Fragestellung, wenn Kant sie so formuliert: Wie ist Natur selbst möglich? Unter Natur in ,,materieller“ Bedeutung verstehen wir den Inbegriff aller sinnlichen Erscheinungen; deren Möglichkeit hat die transzendentale Ästhetik dargetan. Unter Natur n formeller" Bedeutung verstehen wir aber den Inbegriff jener Gesetzmäßigkeiten, welche auf unseren kategorialen Denkformen in ihrer Anwendung auf die sinnlichen Erscheinungen beruhen und eine bestimmte Beschaffenheit der primären Erfahrung voraussetzen. Die Frage, welche jetzt in Verhandlung steht, lautet also: Wie ist Natur in formeller Hinsicht möglich? Diese Frage - im Grunde nur die kritische Wendung der uralten Rätselfrage nach dem Zusammenstimmen von Denken und Sein nennt Kant den höchsten Punkt, den transzendentale Philosophie nur immer berühren mag und zu welchem sie auch, als ihrer Grenze und Vollendung, geführt werden muß". Sie bedeutet aber auch zugleich die größte l'iefe, welche Kants Denken uns erschlossen hat. Rationalismus und Empirismus hatten diese Frage in metaphysischem Dunkel gelassen: jener, indem er einen geheimnisvollen Zusammenhang von Denken und Sein im Weltgrunde voraussetzte; dieser, indem er es der „Weisheit der Natur" Hume) überließ, uns hier zu leiten. Nur auf dem Boden des krit.schen Idealismus ist sie überhaupt einer Beantwortung fähig 95,

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5. DIE DEDUKTION DER KATEGORIEN

Es gibt nur zwei Möglichkeiten, um sich die eigentümliche Affinität der sinnlichen Erscheinungen zu den Bedingungen unseres Denkens begreiflich zu machen: entweder läßt man

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