Page images
PDF
EPUB
[merged small][merged small][merged small][merged small][merged small][ocr errors][merged small][ocr errors][ocr errors][merged small][ocr errors][ocr errors][merged small][merged small][ocr errors][merged small][merged small][merged small][merged small][merged small][ocr errors][ocr errors][ocr errors][merged small][merged small][ocr errors][merged small][merged small][merged small][merged small][ocr errors][merged small][merged small][merged small][merged small][merged small][merged small][merged small][merged small][merged small][merged small][merged small][merged small][ocr errors][merged small][merged small][merged small][merged small][ocr errors][merged small][merged small][merged small][ocr errors][ocr errors][merged small][merged small][merged small][merged small][ocr errors][merged small][merged small][merged small][merged small][ocr errors][ocr errors][merged small][merged small][merged small][ocr errors][ocr errors][ocr errors][merged small][merged small][merged small][merged small]

EINLEITUNG

,,Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein ganzes strahlendes Sonnensystem auf einmal." Mit diesen überschwenglichen Worten hat Jean Paul nicht nur der Meinung vieler seiner Zeitgenossen Ausdruck gegeben; sein Urteil hat auch die Nachwelt, mancher Schwankungen ungeachtet, zuletzt immer wieder von neuem bestätigt und bekräftigt. Denn in der Tat: kein anderer Denker der neueren Zeit hat eine so grundstürzende Wendung des philosophischen Denkens herbeigeführt, keiner eine so starke, tiefe und vielseitige Wirkung auf alle Gebiete des Geisteslebens ausgeübt, wie Kant es mit seiner Forderung einer Überprüfung der letzten Grundlagen unseres Wissens und Wollens getan hat. Und daß das Licht, das von diesem Genius der Menschheit ausging, auch in unseren Tagen noch nicht erloschen ist, beweist der Umstand, daß sein Werk nach mehr als ein Jahrhundert langer Auslegung, Bekämpfung, Verteidigung und Fortbildung auch für die Gegenwart noch als unausgeschöpfte Quelle philosophischer Einsicht gilt und darum immer von neuem wieder studiert wird, ja daß keine Philosophie ernst genommen zu werden verdient, welche eine klare Stellungnahme zu dessen Grundgedanken vermissen läßt. Es ist das Eigentümliche der zugleich nach rückwärts und nach vorwärts weisenden Janusstellung dieses Denkers, daß er alle Strömungen der Philosophie seiner Zeit in sich aufnimmt, aber auch abschließt und zugleich der Philosophie der kommenden Zeit völlig neue Wege weist. Denn Kant ist zugleich ein Ende und ein Anfang: das Ende des „dogmatischen" Philosophierens im Sinne eines ungeprüften Vertrauens oder Mißtrauens in die menschlichen Erkenntniskräfte, und der Anfang der „kritischen" Art des Denkens als der jeder weiteren Untersuchung vorausgehenden Besinnung auf die Natur und die Grenzen des menschlichen Geistes. Kant hat so die Philosophie im wahrsten Sinne sehend gemacht, indem er sie lehrte, jeden ihrer Schritte mit dem deutlichen Bewußtsein ihres Tuns zu begleiten und keine noch so be

stechende Ansicht gelten zu lassen, welche nicht ihre legitime Grundlage vor dem höchsten Forum der kritischen Vernunft auszuweisen vermag. Kant bedeutet so vor allem einen Wendepunkt in der Methodik philosophischen Denkens. Zugleich aber verdanken wir ihm die Besitzergreifung einer neuen, höchstens vom Unverständnis bestrittenen Domäne philosophischer Untersuchung, die Aufschließung eines neuen, streng wissenschaftlichen Arbeitsgebietes: der zunehmenden Selbsterkenntnis der menschlichen Vernunft. Mehr als aus irgendeinem anderen Denker kann man daher aus Kant lernen, was Philosophie überhaupt ist, sein will und sein soll. Denn in keinem anderen paaren sich in solchem Maße innerer Schwung des Denkens mit nüchterner Besonnenheit, philosophischer Tiefsinn mit begrifflicher Klarheit, Kühnheit der Problemstellung mit vorsichtig abwägenden Lösungen. Wenn Kant selbst einmal sagt, daß man nicht Philosophie (es sei denn historisch), sondern nur philosophieren lernen könne, so gibt es dafür keine besseren Lehrbücher" als Kants eigene Werke. Die Schwierigkeit, welche auch heute noch das Eindringen in dieses scheinbar so festgefügte und doch dem Nachdenken auf Schritt und Tritt neue Fragen aufdrängende Gedankensystem bietet, lohnt sich überreich durch die strenge Schulung, aber auch durch die vielfache Anregung des Denkens, welche dieses Studium verheißt. Und nicht zuletzt ist es die Atmosphäre sittlicher Reinheit und Höhe, welche über dem Menschen und seinem Werke liegt, deren Anziehungskraft sich auch derjenige nicht zu entziehen vermag, der theoretisch andere Bahnen einschlagen zu müssen glaubt.

Die Philosophie, zumal in Deutschland, befand sich beim Auftreten Kants in einem Zustand beginnender Auflösung. Zwar schien der Rationalismus in Chr. Wolff (1679 bis 1754) eben erst seinen Höhepunkt erklommen zu haben. Vertreter seiner Lehre oder wie man nach dem Vorgange eines seiner Schüler, des Tübinger Theologieprofessors Bernhard Bilfinger (jedoch zum Verdruß des Meisters), auch zu sagen pflegte der Leibniz-Wolffischen Philosophie beherrschten fast ausschließlich die Lehrkanzeln der deutschen Universitäten. Trotz der Eifersucht auf seine Originalität war aber Wolff im wesentlichen doch nur ein Epigone der großen, von Descartes über Malebranche und Spinoza zu Leibniz führenden rationalistischen Denkbewegung. Er hat die Leibnizischen Gedanken unter Aufnahme Aristotelischer Elemente

[ocr errors]

zu einem geschlossenen Lehrsystem verarbeitet und sie, die bisher nur in kleineren Aufsätzen und Briefen verstreut vorlagen, erst zu allgemeiner Anerkennung gebracht. Wolff war aber kein einem Leibniz völlig kongenialer Geist. Daher kam es, daß wichtige Lehren der Leibnizischen Philosophie, wie die von der monadologischen Struktur der Welt und der prästabilierten Harmonie, durch ihre dem leichteren Verständnis angenäherte Einschränkung auf das anthropologische Gebiet unter seinen Händen offensichtlich verflachten. Eine an Aristoteles erinnernde Universalität, formal-logischer Scharfsinn, Gründlichkeit bis zur Pedanterie und Kunst der Systematik waren die Vorzüge, aber auch die Einseitigkeiten des Wolffischen Geistes. Sein Streben nach deutlichen Begriffen, strengen Definitionen, bündigen Beweisen und systematischer Übersichtlichkeit besaß jedoch einen keineswegs zu unterschätzenden Wert für die Erziehung zu einer strengen Methodik des philosophischen Denkens, so daß Kant, der in Wolff den gewaltigsten Vertreter des rationalistischen Dogmatismus erblickte, ihn zugleich den ,,Urheber des Geistes der Gründlichkeit in Deutschland" nennen konnte. In seinem methodischen Grundgedanken knüpft Wolff an die Leibnizische Unterscheidung der ewigen" und ,,zufälligen" Wahrheiten an. Jene entspringen aus der reinen Vernunft und beruhen auf dem Satze des Widerspruchs; sie gelten zeitlos und notwendig, weil ihr kontradiktorisches Gegenteil zu denken unmöglich ist. Diese beruhen auf Erfahrung und dem Satze vom zureichenden Grunde; sie gelten bloß zeitlich und tatsächlich, aber nicht notwendig, denn ihr Gegenteil schließt keinen logischen Widerspruch in sich. Leibniz hatte aber auch gelehrt, daß für einen überlegenen göttlichen Geist alle Wahrheiten sich als denknotwendig darstellen müßten, und hatte daher gefordert, die Tatsachenwahrheiten nach Möglichkeit in ewige Vernunftwahrheiten überzuführen. Dieses Ideal einer Rationalisierung unserer gesamten Erkenntnis auch ihrem Inhalte nach setzt sich nun Wolff als Aufgabe: alles und jedes soll durch seine Ableitung aus dem Satze des Widerspruchs als denknotwendig begriffen werden. Denknotwendigkeit läßt sich aber nur erreichen durch Deduktion aus feststehenden Begriffen. Aus einem Begriffe ableiten läßt sich aber wieder nur, was in ihm liegt. Daher kommt es vor allem auf richtige und zureichende Definition der Grundbegriffe an. Philosophie ist demgemäß eine Wissenschaft

aus Begriffen, eine Begriffsanalyse also nach Art und nach dem Vorbilde der Mathematik, die aus richtig und vollständig definierten Begriffen mit Hilfe logisch einwandfreier Schlußfolgerungen die Wahrheit finden soll. Daraus folgt, daß jedes nur mögliche Thema auf zweifache Weise sich behandeln lassen muß: spekulativ aus reiner Vernunft und empirisch auf Grund von Erfahrung und Beobachtung, und daß die so gewonnenen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten genau zusammenstimmen müssen. Darauf beruht die Wolffische Einteilung der Wissenschaften in „rationale“ und „historische" (empirische), wobei jene im Rang höher stehen und diese nur eine Art Rechenprobe für die Ergebnisse der ersteren bedeuten. Was z. B. die rationale Psychologie aus dem Begriff der Seele als einer denkenden Substanz ableitet, eben das soll dann die empirische Psychologie auf Grund innerer Beobachtung als tatsächlich nachweisen. Daraus ergab sich folgendes System der philosophischen Wissenschaften: Die Philosophie zerfällt zunächst in einen reinen (theoretischen) und in einen angewandten (praktischen) Teil, denen beiden die formale Logik als allgemeine Propädeutik vorausgeht. Die theoretische Philosophie beginnt mit der Ontologie als der Lehre vom Seienden überhaupt, an sie schließen sich dann an die rationale und die empirische Psychologie, die rationale und die empirische Kosmologie (Naturphilosophie und Physik), endlich die rationale und die empirische Theologie, unter welch letzterer man die auf einen allweisen Urheber hinweisende Betrachtung der Naturzweckmäßigkeit verstand. Die angewandte Philosophie zerfiel wieder in die allgemeine praktische Philosophie, in Ethik, welche den Menschen als Individuum, in Politik, die ihn im bürgerlichen Zustande, und in Ökonomik, die ihn in kleinen und einfachen Verbänden betrachtet. Die systematische, lehrhafte und geschlossene Art dieser Philosophie machte sie zur Bildung einer Schule (der ersten in Deutschland) besonders geeignet und verschaffte ihr auch nicht geringen Einfluß auf andere Wissenschaften, die sich ihrer Lehrart anpaßten oder wie die protestantische Theologie - in ihr geradezu eine Stütze suchten.

Immerhin war schon beim Eintritt Kants in seine wissenschaftliche Laufbahn die Herrschaft dieses Wolffischen Rationalismus nicht mehr so unbestritten, als es seinem äußeren Ansehen nach betrachtet scheinen könnte. Auch die der rationalistischen Entwicklung parallel gehende, von Bacon über

« PreviousContinue »