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aber auch keinen weiteren Fortschritt zu erwarten. Die Frage, die hier beantwortet werden soll, lautet also in aller Kürze: Wie ist Erfahrung (als empirische Erkenntnis) möglich? Es ist das Problem der synthetischen Urteile a posteriori, das sich hier zum Worte meldet, sobald man sich die letzten Folgerungen aus dem transzendentalen Idealismus zu Bewußtsein bringt. Erst von seiner Lösung kann auch die Frage nach der Möglichkeit der synthetischen Urteile a priori der reinen Naturwissenschaft ihre Beantwortung erwarten. Es ist im Grunde nur die kritische Wendung der uralten Rätselfrage nach der Entstehung des Kosmos aus dem Chaos, welche seit jeher den Menschengeist bewegt hat. Kant als Physiker hatte gezeigt, wie sich aus einem Chaos wirbelnder Gase der Kosmos des gestirnten Himmels entwickelt; Kant als Transzendentalphilosoph soll nun zeigen, wie aus einem Chaos durcheinander wirbelnder Vorstellungen der Kosmos unseres geordneten Weltbildes und wissenschaftlicher Naturerkenntnis sich gestaltet.

2. WAHRNEHMUNGSURTEIL UND ERFAHRUNGSURTEIL

Das Erste wird eine Analyse oder „Zergliederung“ der empirischen Erkenntnis sein, um sich darüber klar zu werden, ,,was in ihr liegt", während die Untersuchung ihrer Entstehung der empirischen Psychologie überlassen bleibt. Allem Empirischen nun liegt sinnliche Wahrnehmung zugrunde. Wird das subjektive Bewußtsein einer solchen zu einem Satze geformt, so entsteht das „,Wahrnehmungsurteil". Dieses ist gar kein eigentliches,,Urteil", denn in ihm wird nichts beurteilt, sondern es wird nur ausgesagt, was dem Aussagenden selbst im Augenblicke der Wahrnehmung widerfahren ist. Alle Aussagen dieser Art müßten eigentlich mit dem Wörtchen „ich" eingeleitet werden: „ich sehe rot",,,ich empfinde warm", „ich fühle Schmerz". Da das Subjekt hier nur seinen eigenen momentanen Zustand kundgibt, ist die Gültigkeit solcher Wahrnehmungsurteile auch nur auf das Subjekt und seinen augenblicklichen Zustand eingeschränkt. „Ich verlange gar nicht, daß ich es jederzeit oder jeder Andere es ebenso wie ich finden solle 86". Es gibt aber auch empirische, d. i. auf Sinneswahrnehmung sich gründende Urteile, die mehr sagen wollen, indem sie beanspruchen, einen objektiven Sachverhalt auszudrücken. Solche Urteile nennt Kant „Erfahrungsurteile". Zu ihnen gehören alle Sätze der Naturwissenschaft,

z. B. der Satz: „Die Luft ist elastisch." Das Erfahrungsurteil ist eine Aussage, welche nicht bloß ein (relativ) zufälliges Neben- und Nacheinander der Empfindungsdaten in der momentanen Bewußtseinslage eines bestimmten Subjekts ausdrücken will, sondern eine notwendige Zusammenge hörigkeit der Erscheinungen untereinander unabhängig von jedem empirischen Bewußtsein. Hier wird wirklich etwas beurteilt", nämlich eben diese objektive Zusammengehörigkeit. In dieser Unabhängigkeit vom inneren Zustande des Urteilenden besteht der eigentümliche Charakter der Objektivität dieser Urteile, welcher für den Urteilenden den Charakter der Notwendigkeit annimmt. In einem solchen Falle sagen wir, die betreffenden Vorstellungen seien im ,,Gegenstande" selbst verbunden und erwarten daher, daß sie für alle in gleicher Weise verbunden gelten, „denn wenn ein Urteil mit einem Gegenstande übereinstimmt, so müssen alle Urteile über denselben Gegenstand auch untereinander übereinstimmen." Die Erfahrungsurteile beanspruchen also gleich den apriorischen Urteilen, notwendig und allgemein zu gelten.

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Worauf gründet sich dieser Anspruch? Erfahrungsurteile sind ja empirische Urteile und die Erfahrung kann uns immer nur lehren, „was da sei, und wie es sei, niemals aber, daß es notwendiger Weise so und nicht anders sein müsse 87%. Auch jene Übereinstimmung mit dem Gegenstande" will in dieser Hinsicht nichts bedeuten, denn sie ist gar keine wirkliche Übereinstimmung mit einem Gegenstande außerhalb unseres Bewußtseins (die völlig unkontrollierbar bleiben müßte), sondern nur eine konventionelle Formel, welche in Anpassung an unsere Denkgewohnheiten eine rein immanente Qualität dieser Urteile zu anschaulichem Ausdruck bringen will 88. Es kann also offenbar nur die Mitwirkung eines nicht-empirischen, also eines rationalen Faktors sein, welcher empirischen Urteilen eine solche erkenntnistheoretische Dignität verschafft. Das wird sofort deutlich, wenn wir betrachten, wodurch Wahrnehmungsurteile (und alle Erfahrungsurteile sind zuerst bloße Wahrnehmungsurteile) zu Erfahrungsurteilen werden. Wenn ich eine gelegentliche Beobachtung, z. B. daß ein Stein, sobald er von der Sonne beschienen wird, sich erwärmt, in Worte kleide, so habe ich zunächst ein bloßes Wahrnehmungsurteil. Sage ich aber: „die Sonne erwärmt den Stein", so behaupte ich ein ursächliches Verhältnis zwischen den beiden beobach

teten Erscheinungen, von dem ich voraussetze, daß es diese notwendig verknüpft. Dann folgt die Erwärmung des Steines ja nicht mehr bloß in meiner subjektiven Wahrnehmung auf seine Bestrahlung durch die Sonne, sondern sie folgt aus ihr, daher ich annehmen darf, daß dieser Vorgang sich auch für jeden anderen Beobachter unter gleichen Verhältnissen ebenso darstellen werde. Aus dem bloßen post hoc ist ein propter hoc geworden und damit hat sich meine ursprünglich rein subjektive Aussage zu einem Erfahrungsurteil erweitert, das einen objektiven Sachverhalt zum Ausdruck bringt. Was diese erkenntnistheoretische Werterhöhung bewirkt hat, war das Hinzukommen eines begrifflichen Momentes, in dem gewählten Beispiele des Begriffes der Kausalität. Dadurch also, daß eine Folge von Erscheinungen unter einem Begriffe stehend gedacht wird, wird sie der Zufälligkeit und Wandelbarkeit ihres Zusammengeratens in einem individuellen Bewußtsein entrückt und aus dessen mannigfachen assoziativen Verschlingungen als objektiv-real herausgehoben. Erst damit werden Erscheinungen für das empirische Subjekt zu relativen Dingen an sich. Diese allgemeinsten, in den verschiedensten Urteilen immer typisch wiederkehrenden Begriffe nennt Kant Kategorien. Sie sind keine Begriffe von Gegenständen, denn in ihnen wird an und für sich nichts vorgestellt und daher, wenn sie für sich allein gedacht werden, auch nichts erkannt. Erst in ihrer Anwendung auf gegebene Erscheinungen gewinnen sie Bedeutung. Wenn Anschauungen ohne Begriffe „blind" sind, d. h. nur eine unverstandene Erfahrung geben, so sind Begriffe (,,Gedanken") ohne Anschauungleer 89". Die Kategorien sind daher nicht Begriffe von etwas, sondern Begriffsformen, die jederzeit einer Anschauung bedürfen, auf die sie sich beziehen können. Sie sind somit nichts anderes als bestimmte Verknüpfungsarten von Vorstellungen in einem Urteile: dadurch, daß eine Urteilssynthese ihnen gemäß vollzogen wird, gewinnen sie selbst reale Bedeutung, verleihen ihr aber auch zugleich die Würde logisch-rationaler Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit. In der sinnlichen Erfahrung ist, wie schon Hume unwiderleglich gezeigt hatte, von ihnen noch nichts zu entdecken, daher sie auch im Wahrnehmungsurteil noch nicht vorkommen. Aber während der strenge Empirist Hume ihnen eben deshalb jede nachweisbare Geltung absprach, obwohl er ihre Unentbehrlichkeit im praktischen Gebrauche anerkannte, behauptet. Kant eben dieser Unent

behrlichkeit wegen ihren außer-empirischen Ursprung. Sie gehören nach ihm nicht der „Sinnlichkeit", sondern dem „Verstande", als dem „Vermögen zu urteilen" an: sie sind „reine Verstandesbegriffe". Sie sind die formalen Bedingungen. des denkenden Erkennens, so wie Raum und Zeit die formalen Bedingungen der Anschauung sind. Sie bieten die logischen Formen dar, um Erscheinungen zu verknüpfen, wie Raum und Zeit die sinnlichen Formen für die Verbindung des Mannigfaltigen der Empfindung zu Erscheinungen. Zugleich zeigt sich aber schon hier, daß die dualistische Spaltung unseres Erkenntnisvermögens bei Kant nur die methodische Bedeutung besitzt, eine reinliche Analyse der Erkenntnis zu ermöglichen. Denn gerade nur aus dem innigsten Zusammenwirken von Sinnlichkeit und Verstand, aus der gegenseitigen Durchdringung des sensuellen und intellektuellen Faktors geht überhaupt erst Erkenntnis hervor, während beide in ihrer Isolierung nichts bedeuten.

3. DAS SYSTEM DER KATEGORIEN

Die Synthese von Vorstellungen in einem empirischen Urteile hat dann, aber auch nur dann objektive Geltung, wenn sie unter einer Kategorie vollzogen wird. Daraus ergeben sich für die Transzendentalphilosophie zwei Aufgaben. Die erste ist, die Art und Zahl dieser Stammbegriffe des Verstandes festzustellen, ohne welche zu übersehen oder überflüssige zu konstruieren: also eine Art Inventaraufnahme unseres apriorischen Verstandesbesitzes, welche durch die Aufstellung der berühmten Kantischen Kategorien tafel geleistet wird. Erst dann kann an die zweite Aufgabe herangetreten werden, die Möglichkeit und Berechtigung der Anwendung dieser Kategorien auf die gegebenen Erscheinungen zu untersuchen und damit die objektive Geltung des Kategoriensystems selbst darzutun, was Sache einer transzendentalen Deduktion der Kategorien sein wird. Die erste Aufgabe bedarf eines „Leitfadens zur Entdeckung aller reiner Verstandesbegriffe". Kant tadelt in dieser Hinsicht Aristoteles, daß er in der Aufstellung seiner zehn Arten der Aussage über das Seiende, welche schon bei ihm den Namen „Kategorien" führen, ganz systemlos vorgegangen sei. Nun ist die Kategorie ihrer logischen Seite nach ja nichts anderes als eine bestimmte Form der Synthesis in einem Urteile. Es wird daher eben soviele Kategorien geben, als es verschiedene Formen solcher Synthe

sen oder Arten von Urteilen gibt. Kant schließt sich hierin der Hauptsache nach der formalen Logik seiner Zeit an, indem er die bekannten Urteilsarten unter vier Titeln: Quantität, Qualität, Relation und Modalität aufzählt 90. Es ergibt sich so folgende Tafel der Urteile:

I. Nach der Quantität (d. i. nach dem Verhältnis von Subjekt und Prädikat ihrem Umfange nach): allgemeine, besondere, einzelne.

II. Nach der Qualität (d. i. des Urteilsprädikats): bejahende, verneinende, unendliche (z. B.,,die Seele ist nicht sterblich", womit gesagt sein soll, daß sie alles andere sein kann, nur nicht sterblich).

III. Nach der Relation (zwischen Subjekt und Prädikat): kategorische, hypothetische, disjunktive.

IV. Nach der Modalität (d. i. nach dem Gewißheitsgrad): problematische, assertorische, apodiktische.

Dieser Urteilstafel entspricht nun genau die Tafel der Kategorien:

I. Quantität: Einheit, Vielheit, Allheit.

II. Qualität: Realität, Negation, Limitation.
III. Relation: Substanz und Akzidenz, Ursache und Wir-
kung, Gemeinschaft oder Wechselwirkung.

IV. Modalität: Möglichkeit-Unmöglichkeit, Dasein-Nichtsein, Notwendigkeit-Zufälligkeit.

Kant hat sich insbesondere auf die Entdeckung seines vierteiligen Schemas viel zugute getan, das in allen seinen Untersuchungen wiederkehrt. Er glaubte, daß damit sowohl der Vollständigkeit wie der Deutlichkeit aufs beste gedient sei. Schon in der Urteilstafel tritt seine merkwürdige Vorliebe für Symmetrie, Architektonik und Systemgliederung auffallend genug zutage. Nicht nur daß die modalen Urteile gewissermaßen aus der Einteilung überhaupt herausfallen, weil sie nicht das Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Urteil betreffen, sondern dasjenige des Urteils zum urteilenden Subjekt, hat er auch seiner dreigliedrigen Unterteilung zuliebe die,,limitierenden" Urteile erfunden. Dieselbe Gewaltsamkeit zeigt auch die Kategorientafel, in Hinsicht der Schopenhauer meinte, sie bestehe mit Ausnahme der Kausalität aus „elf blinden Fenstern". In der Tat sind die Kategorien der Relation bei weitem die wichtigsten und Kant hat aus ihnen auch alle seine Beispiele gewählt. Andererseits möchte man wieder gewisse Denkformen,

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