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Verhältnis von Ding an sich und Erscheinung aufgeworfen wird. Der Unfaßbarkeit jeder nicht-sinnlichen Existenz entsprechend, könnte das Reich der Dinge an sich (mundus intelligibilis) dem Reich der Erscheinungen (mundus phaenomenon) nur ganz allgemein und unter Enthaltung von jeder positiven oder negativen Aussage über ihr gegenseitiges Verhältnis entgegengesetzt werden 81. Im Zusammenhang mit der Lehre von der transzendentalen Affektion werden aber die Dinge an sich aus einem unbestimmbaren metaphysischen Hintergrunde der Erscheinungswelt überhaupt zu ihrer hervorbringenden Ursache und so mittelbar zu einem übersinnlichen Substrat jeder einzelnen Erscheinung, so daß jeder solchen auch ein Ding an sich entspricht, das in ihr „erscheint". In diesem Sinne konnte Kant geradezu das,, Objekt an sich selbst" als eine (nämlich als die von uns abgekehrte) Seite an der Erscheinung bezeichnen 82. Sofern wir also die Erscheinungen erkennen, erkennen wir gewissermaßen in ihnen und durch sie auch die ihnen zugrunde liegenden Dinge an sich, wenngleich nicht in ihrer wahren Gestalt, sondern nur in der Art, wie sie auf uns wirken. Das ,,transzendentale" (richtiger: transzendente) Objekt wird so zu einem Gegenstande mittelbarer Erkenntnis und spielt als solcher auch in der Erfahrungstheorie nicht zum Vorteile der Deutlichkeit eine gewisse Rolle.

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Kant hat wiederholt versucht, seinen transzendentalen oder, wie er ihn später lieber genannt wissen wollte, „kritischen“ Idealismus gegen verwandte Standpunkte abzugrenzen. Kant war der (nur ungenau zutreffenden) Meinung, das Wesen des ,,echten" Idealismus bestünde darin, die Körperwelt in bloßen Schein zu verwandeln und alle Wahrheit nur in die Ideen der reinen Vernunft zu setzen. Dieses Bild des Idealismus, das sich ihm aus Zügen von Platon, Descartes, Berkeley und Leibniz zusammensetzte, ließ ihn befürchten, es möchte infolge der Gemeinsamkeit des Namens auch auf seine Lehre etwas von einer illusionistischen Herabwürdigung der empirischen Erkenntnis überstrahlen. Der Aufklärung über diesen Punkt hat Kant nicht nur eine mehrfache,,Widerlegung des Idealismus" gewidmet, sondern er hat auch, gereizt durch die ungeschickte Bemerkung eines Beurteilers, seine Lehre sei eine Art,,höherer" Idealismus, deren idealistischen Charakter in der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ mehr in den Hintergrund treten lassen. Die nachgelassenen Notizen

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zeigen allerdings, daß Kant späterhin vielleicht schon unter dem Einflusse Fichtes wieder zu einer sehr radikal idealistischen Auffassung zurückgekehrt ist. Das gemeinsame Ziel der „Widerlegungen" ist der Nachweis, daß der kritische Idealismus die Realität der Körperwelt nicht aufhebt, sondern begründet. So nachdrücklich Kant hier seinen Standpunkt zu behaupten sucht, so wenig scharf und glücklich ist die Formulierung der Beweisgründe. Sie lassen sich, soweit sie das Beweisziel nicht gänzlich aus den Augen verlieren, auf zwei zurückführen: 1. Der echte Idealismus behauptet die Priorität der inneren vor der äußeren Erfahrung, die Transzendentalphilosophie hingegen ihre erkenntnistheoretische Parität: die äußeren Erscheinungen sind nicht minder unmittelbar gegeben wie die inneren und brauchen daher so wenig erschlossen zu werden wie diese. 2. Die Kritik anerkennt Dinge an sich, welche den äußeren Erscheinungen zugrunde liegen, und unterscheidet sie dadurch von bloßem Schein. Beides ist richtig, trifft aber nicht den Kernpunkt des Unterschiedes. Das erste beweist zu wenig, insofern auch nach Kant die äußeren Erscheinungen dem inneren Sinn zugeordnet sind und erst durch Denkprozesse von ihm losgelöst werden müssen; das zweite beweist zu viel, insofern Dinge an sich ganz außerhalb unseres Erfahrungskreises liegen, während es sich hier doch um die empirische Körperwelt handelt. Dasjenige, was Kant eigentlich meint, aber vergebens klar auszudrücken sich bemüht, ist, daß nach dem bisherigen Idealismus der Raum unserer Erfahrung ein bloß imaginärer Raum ist und daher die in ihm vorgestellten Körper auch eine bloß imaginäre Ausgedehntheit besitzen, während nach ihm kein Unterschied zwischen Vorstellungsraum und realem Raum besteht, daher die „Vorstellungen" äußerer Dinge auch selbst real ausgedehnt sind und mit den physischen Körpern zusammenfallen. Die Idealität des Raumes gestattet so, gewissen,,Vorstellungen" reale Körperhaftigkeit zuzuschreiben, während die Voraussetzung seiner transzendenten Realität dies verbietet und die „Körper“ unserer Erfahrung zu „bloßen" Vorstellungen verflüchtigt. Kants Lehre ist so durch die Idealisierung auch der Ausdehnung in der Tat idealistischer als die aller seiner Vorgänger. Dafür ist sie aber nicht ein subjektiver, sondern ein objektiver Idealismus, insofern sie die äußeren Erscheinungen aus der raumlosen Enge seelischer Innerlichkeit befreit

und dem empirischen Ich als selbständige Realität gegenüberstellt. Das empirische Ich, das selbst nur Erscheinung ist, wäre eben gar nicht geeignet, als „Träger" der Raumwelt zu dienen, wie dies der subjektive Idealismus behauptet. Die letzte Charakteristik des Kantischen Idealismus läßt sich auch so aussprechen, daß Kant den Gegensatz des Physischen und Psychischen in das Bewußtsein verlegt, innerhalb seiner aber strenge aufrecht erhält. Dadurch erhält er die Möglichkeit, eine Realität ohne Transzendenz zu begründen: was vom Standpunkte der Transzendentalphilosophie „ideal“ heißen muß, kann für den empirischen Menschen, der selbst nur ein Glied der Erscheinungswelt ist, objektive Wirklichkeit bedeuten. Das Ich und seine Umwelt sind beide gleich real und gleich ideal: jenes vom Standpunkte des empirischen Bewußtseins, dieses vom Standpunkte der Transzendental philosophie. Der kritische Idealismus macht es so auch begreiflich, daß jeder seine Umwelt als real und von sich verschieden erlebt und an diese ihre Wirklichkeit unentwegt glaubt, ohne sich durch den philosophischen Phänomenalismus, mögen seine Beweise noch so unwiderleglich sein, darin stören zu lassen. Sie ist eben für ihn real, und wenn man ihre Phänomenalität behauptet, muß man sie für seine eigene Existenz mitbehaupten. Für die immanente Realitätsbewertung von seiten des empirischen Ichs ändert sich damit die Sachlage nicht.

V. DIE THEORIE DER ERFAHRUNG

1. DIE ERFAHRUNG ALS PROBLEM

Das Problem der Erfahrung entspringt aus dem transzendentalen Idealismus. Ihm zufolge haben wir es immer und überall nur mit Erscheinungen zu tun; diese Erscheinungswelt im Raume steht aber dem erkennenden Geiste in der Form empirischer Anschauungen doch wieder als reale Gegebenheit gegenüber, die sich weiterhin auch in hohem Maße einer theoretischen und praktischen Beherrschung fähig erweist. Der empirische Realismus beschreibt dimit nur eine Tatsache des Bewußtseins. Diese Tatsache ist aber keineswegs selbstverständlich. Denn eben dieselben Erfahrungsbestandteile, welche sich gleichsam vor unseren Augen zu einem festgefügten, auch wissenschaftlicher Erkenntnis zugäng

lichen Weltbild zusammenschließen, sind doch immer auch dem inneren Sinn und seiner Anschauungsform zugeordnet und insofern durchwegs als Inhalte eines empirischen Individualbewußtseins gegeben: als „,Vorstellungen" sind auch die äußeren Erscheinungen zunächst und unmittelbar stets „meine" Vorstellungen, und nur als solche werden sie mir überhaupt bewußt. Auch das, was wir „Natur" nennen, setzt sich seiner inhaltlichen Bestimmtheit nach ursprünglich aus solchen Einzelerfahrungen und ihrer Ergänzung durch Erinnerungs- und Phantasievorstellungen zusammen. Die Gegenstände der Physik, so könnte man das auch ausdrücken, sind immer zugleich auch Gegenstände der Psychologie. Die Bausteine der objektiven Welt sind somit keine anderen als die, welche auch die subjektive Welt des individuellen Bewußtseins ausmachen. Aber ihr Zusammenhang im subjektiven Bewußtsein ist doch ein ganz anderer als dort. Entsprechend der Form des inneren Sinnes werden sie uns immer nacheinander bewußt, sie sind stets sukzessiv gegeben und zwar in einer Reihung, welche dem Ablauf der objektiven Naturvorgänge keineswegs immer entspricht. Die Selbstbeobachtung zeigt uns einen vom Standpunkt objektiver Naturerkenntnis ganz regellosen Ablauf fragmentarischer Wahrnehmungen, stets vermischt mit flüchtigen Bildern der Erinnerung und Einbildungskraft und unterbrochen von Gedanken und emotionalen Elementen. In der Erfahrung, sagt Kant, kommen die Wahrnehmungen nur ,,zufälligerweise" aneinander und die subjektive Folge der Apprehensionen deckt sich keineswegs mit der objektiven Folge der Erscheinungen 84. Und doch sind es dieselben Erscheinungen, die einmal als Gegenstände und Bewegungen im Raum ein selbständiges Dasein zu führen scheinen, während sie doch zugleich der inneren Erfahrung eines individuellen Bewußtseins angehören und bloß durch psychologische Gesetze in ihrer Abfolge bestimmt sind. Wenn daher bei Kant von Erfahrung" die Rede ist, so ist wohl zu unterscheiden zwischen der unmittelbaren Erfahrung des subjektiven Bewußtseins und dem objektiven Erfahrungszusammenhang der Erscheinungen, wie er den Gegenstand der Erfahrungswissenschaft bildet.

Aus der Inkongruenz von subjektiver und objektiver Erfahrung bei Identität ihres beiderseitigen Inhaltes entspringt nun das Problem der Erfahrung: wie ist Objektivität der Erfahrung vereinbar mit der subjek

tiven Zuordnung und Reihung aller Erfahrungsbestandteile? Die dogmatischen Systeme konnten sich in diesem Punkte auf die unabhängig von jedem Bewußtsein feststehende Ordnung der Dinge im Metaphysischen berufen. Hier war die Übereinstimmung unserer Vorstellungen mit unabhängigen Gegenständen das Kriterium der Objektivität so wenig es auch aus naheliegenden Gründen gelingen wollte, diese Übereinstimmung sicherzustellen. Für den transzendentalen Idealismus ist dieser Weg jedenfalls nicht gangbar. Mag zwischen Erscheinungen und Dingen an sich auch irgendeine feste Beziehung bestehen, so bleibt sie doch für uns, die wir es immer nur mit Erscheinungen zu tun haben, außerhalb unseres Gesichtskreises und kann daher auch zur Lösung des Erfahrungsproblems nicht herangezogen werden. Wir sind darum in diesem Punkte ganz auf uns selbst und die immanenten Gesetze unseres Bewußtseins angewiesen, „weil wir außer unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis als korrespondierend gegenübersetzen könnten 85". Was ersetzt nun dem kritischen Idealisten jene transzendente Gegenstandsbeziehung? Kant bezeichnet daher in dem denkwürdigen Briefe an M. Herz vom 21. II. 1772, der uns den besten Einblick in das Werden seiner kritischen Gedanken gewährt, als ,,den Schlüssel zu dem ganzen Geheimnisse der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik" die Frage: „Auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand? Wie erklärt sich, anders ausgedrückt, jener Charakter der Objektivität, eine Gegenstandsbeziehung also ohne Gegenstand, welcher Erfahrung im objektiven Sinne von subjektiver Erfahrung scheidet?

Die Beantwortung dieser Frage ist das Thema des ersten Teiles der transzendentalen Logik, nämlich der „Transzendentalen Analytik". Hatte es die „Ästhetik" mit der sinnlichen Erfahrung zu tun, so handelt die „Analytik" von den erkenntnistheoretischen Bedingungen und Voraussetzungen der Erfahrungsurteile und jenes Systems von Erfahrungsurteilen, das empirische Erkenntnis oder Erfahrungswissenschaft heißt. Sie unterscheidet sich von der formalen Logik, welche nur die Formen des richtigen Denkens untersucht ohne Rücksicht auf ihre Funktionen im realen Erkenntnisprozeß und von der Kant meinte, sie habe seit Aristoteles keinen Schritt nach rückwärts tun müssen, habe

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