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euklidischen Geometrie zu und nur sie kann daher als Wissenschaft von unserem Raume gelten 60.

Wie aber ist die von Kant behauptete Identität von Sinnesraum und begrifflich bestimmbarem Phantasieraum zu begreifen? Sie wäre unbegreiflich vom Standpunkte des gewöhnlichen Realismus aus, der an die absolute Selbständigkeit oder Substanzialität des uns umfangenden Wahrnehmungsraumes glaubt. Denn in diesem Falle wäre es nicht zu verstehen, wie begriffliche Operationen, die wir an unserer subjektiven Raumanschauung vornehmen, doch wieder Geltung für jenen absoluten Raum außer uns haben sollten. Aus der Apriorität der Raumanschauung und der Mathematik ergeben sich somit wichtige Folgerungen auch für die erkenntnistheoretische Wertung von Raum und Zeit und mittelbar auch für die in ihnen erscheinende empirische Außen- und Innenwelt. Die Transzendentalphilosophie hat hier erst die Grundlage für die Lösung der kritischen Aufgabe geschaffen.

4. EMPIRISCHER REALISMUS UND TRANSZENDENTALER
IDEALISMUS

Für die unkritische Auffassung gelten Raum und Zeit tatsächlich als absolute Wirklichkeiten, von denen angenommen wird, daß sie auch vor und unabhängig von jedem Bewußtsein existieren. Das war auch die Ansicht Newtons: das spatium absolutum und das tempus absolutum als die receptacula oder die zwei unendlich großen Weltgefäße, in denen alles Wirkliche enthalten ist. Nichts scheint ja auch natürlicher als das: Raum und Zeit mußte es doch schon gegeben haben, bevor diese Welt entstand oder geschaffen wurde; sie mußten schon vorhanden sein, als jener Kantische Urnebel zum ersten Male sich zu ballen begann, also Äonen vor dem Auftreten des Menschen auf Erden und jeglichen erkennenden Bewußtseins. Diese Ansicht von der absoluten Realität des Raumes und der Zeit wäre ein ,,transzendentaler Realismus“. Seine Kehrseite ist der „empirische Idealismus“. Wenn Raum und Zeit außerhalb des erkennenden Bewußtseins existieren, so müssen sie sich in ihm irgendwie abbilden, so daß unser Sinnesraum nicht der reale Raum selbst wäre, sondern nur dessen Kopie oder subjektive Vorstellung. In diesem Falle wären Raum und Zeit durch Erfahrung bedingte Vorstellungen, also in empirischem Sinne,,ideal". Auf diesem Standpunkte bleibt es immer unsicher, ob unsere Raum

vorstellung dem wirklichen Raum tatsächlich entspricht, ja, wie bei der vorausgesetzten Unausgedehntheit des Geistes eine solche Übereinstimmung überhaupt möglich ist. Vor allem bleibt dann aber die Apriorität der Mathematik gänzlich unbegreiflich. Die kritische Erwägung hingegen führt zu einer gerade umgekehrten Charakteristik der erkenntnistheoretischen Stellung von Raum und Zeit. Als transzendentaler Idealismus behauptet sie, daß Raum und Zeit eben nichts anderes sind als die Anschauungsformen unserer Sinnlichkeit, daß aber kein Anlaß, ja nicht einmal eine Berechtigung vorliegt, ihnen außerhalb des Umkreises sinnlicher Vorstellungsweise eine absolute Existenz zuzuschreiben. Der Raum ist so nichts anderes als „,nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist“. Die Zeit ist nichts anderes,,als die Form des inneren Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes1". Das besagt mit anderen Worten: Raum und Zeit existieren nicht zweimal, einmal als metaphysische Wesenheiten und dann wieder als deren nachbildende Vorstellungen in uns. Es gibt vielmehr nur einen Raum und eine Zeit, und diese sind identisch mit unserer Raum- und Zeitanschauung. Raum und Zeit sind somit nur die formalen Bedingungen jedes in unserer Art sinnlich-anschaulichen Vorstellens, für sich genommen aber nichts. Mit diesem transzendentalen Idealismus ist aber ein empirischer Realismus unzertrennlich verbunden, der im Grunde nur eine andere Wendung desselben Gedankens bedeutet. Wenn jener behauptet, daß Raum und Zeit, weil sie nur sinnliche Anschauungsformen sind, keine absolute Wirklichkeit besitzen, so besagt dieser, daß sie eben darum für uns, die wir selbst als empirische Wesen in Raum und Zeit existieren und jederzeit an sinnliche Vorstellungen gebunden sind, so wirklich sind, wie nur überhaupt etwas für uns wirklich“ sein kann. So wirklich nämlich unsere Erfahrung auf das unmittelbare Zeugnis unseres Bewußtseins hin ist, so wirklich sind auch Raum und Zeit: sie gelten im Umkreis unserer gesamten, gegenwärtigen, vergangenen und künftigen Erfahrung, welche unentrinnbar in diese Formen gebannt ist. Sie sind also „empirisch" real. Der Verneinung ihrer absoluten Geltung geht die Bejahung ihrer relativen Geltung (nämlich für jede Art Erfahrung) parallel. In gleicher Weise hatte schon

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die „Dissertation" Raum und Zeit,,entia imaginaria" in Hinsicht der transzendenten und zugleich,,conceptus verissimi" in Hinsicht der phänomenalen Welt genannt. Eine dritte Möglichkeit, an die man allenfalls denken könnte, daß nämlich Raum und Zeit sowohl transzendente als auch immanente Geltung haben könnten, würde ein „Präformationssystem" in dem Sinne voraussetzen, daß ein Schöpfer dem menschlichen Geiste jene mit der metaphysischen Welt übereinstimmenden Formen von vornherein eingepflanzt habe. Diese Annahme würde also mit einer unbeweisbaren metaphysischen Hypothese arbeiten. Sie verbietet sich aber außerdem noch dringlicher durch den Umstand, daß jeder Versuch, Raum und Zeit absolut zu denken, zu unvermeidlichen und unlösbaren Denkschwierigkeiten führt, wie wir sie unter dem Titel:,,Antinomien der reinen Vernunft" späterhin noch kennenlernen werden 63.

Die Frage nach Realität und Idealität der beiden Anschauungsformen darf mit jener nach ihrer Objektivität und Subjektivität nicht ohne weiteres zusammengeworfen werden.,,Subjektiv" im eigentlichen, nämlich im individuellen Sinne ist nur die Empfindung als eine durch die Organisation unserer Sinne bedingte,,Modifikation unseres Gemütes". Die Empfindung ist auch in empirischem Sinne „ideal" und daher auch individuell variabel. Hingegen ist gerade das Formale an der empirischen Anschauung dasjenige, was die Empfindungsinhalte für das Individuum objektiviert, indem es seine inneren Zustandsänderungen zu objektiven Anschauungen gestaltet und sie so im Raume von ihm distanziert. Es ist auch dasjenige, was eine Vergleichung, objektive Maßbestimmung und gegenseitige Kontrolle der Wahrnehmungen ermöglicht, weil es eben eine notwendige und darum allen wahrnehmenden Subjekten gemeinsame Bedingung jeder sinnlichen Anschauung ist. Die formale Seite unseres Weltbildes ist es ja auch allein, welche die Anwendung der Mathematik auf die Erscheinungen gestattet, wodurch nach Kants Ansicht die Naturlehre erst zum Range einer eigentlichen Wissenschaft erhoben wird. Wenn daher Kant Raum und Zeit als „,subjektiv“ und als „in uns" bezeichnet, so ist dies in anderem Sinne zu verstehen als in Hinsicht der Empfindungen: nicht psychologisch oder empirisch, sondern transzendental, d. i. im Gegensatze zur Annahme ihrer absoluten metaphysischen Existenz und Geltung außerhalb jedes

anschauenden Bewußtseins überhaupt. Daher wird bereits in der „Dissertation" der Raum,,omnis veritatis in sensualitate externa fundamentum" genannt (während es von der Empfindung heißt, daß sie,,a speciali indole subjecti“ abhänge) und auch späterhin der noch raum- und zeitlos gedachten Empfindung jede Objektivität abgesprochen64. Raum und Zeit sind somit keine spezifischen Sinnesenergien höherer Ordnung oder subjektive Zutaten zur Empfindung. Sie sind auch nicht bloß vorgestellte Formen der empirischen Wirklichkeit, sondern die objektiv-wirklichen Formen unseres Vorstellens. Die naheliegende Vexierfrage z. B., ob die Zeit nur im Bewußtsein oder das Bewußtsein in der Zeit sei, muß nach Kant ohne Zweifel im zweiten Sinne entschieden werden: aber mit der ausdrücklichen Betonung allerdings, daß eben nur das „,bewußte" Sein in der Zeit verlaufe, nicht jedes Sein schlechthin65. Transzendentale Idealität bedeutet somit nicht psychologische Subjektivität, aber auch ebensowenig empirische Objektivität eine metaphysische Realität. Zu unterscheiden ist nun (was Kant eben nicht ausdrücklich genug tut) von der für „,uns" objektiven Form aller Erfahrung jenes ,,Vermögen a priori anzuschauen“, wie es den mathematischen Konstruktionen zugrunde liegt. Dieses setzt allerdings eine psychologisch-subjektive Anlage voraus, die in gewissem Sinne angeboren sein muß66. Daß die in psychologischem Sinne objektive Form unseres Vorstellens und die in gleichem Sinne subjektive Vorstellung dieser Form erkenntnis theoretisch gleichwertig sind, ja vom transzendentalen Standpunkte aus zusammenfallen, ist eben Kants eigentümliche Lehre. Sie deckt sich mit der Ansicht des natürlichen Bewußtseins, wie denn die transzendentale Ästhetik überhaupt nur recht zu verstehen ist, wenn man sich vor Augen hält, daß sie ursprünglich gar nicht gegen die unbefangene Auffassung, sondern gegen gewisse metaphysische Deutungen von Raum und Zeit (Newton, Leibniz) gerichtet ist. Damit schwindet jeder Anschein von Paradoxie: „Idealität" bedeutet eben nicht bloße Scheinbarkeit, Einbildung, Subjektivität oder gar Willkür für den Menschen als empirisches Wesen, sondern nur eine Charakterisierung unseres Raumes und unserer Zeit als das, was sie tatsächlich sind: unentrinnbare Formen alles anschaulichen Vorstellens und damit auch unserer, d. i. der empirischen Welt aber auch nicht mehr als das.

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5. DIE PHÄNOMENALITÄT DER ERFAHRUNGSWELT Wenn Raum und Zeit im transzendentalen Sinne ideal sind, so muß dies in gewissem Sinne auch auf alles überstrahlen, was in Raum und Zeit gegeben ist: auf die gesamte Welt unserer äußeren und inneren Erfahrung. Daß die Erfahrung an und für sich nirgends über sich hinausweist, sondern ein immanenter Vorgang ist, hatte die folgerichtige Wandlung des Erfahrungsbegriffes bei den empiristischen Philosophen von Bacon bis Hume bereits dargetan. Was daran irremachen konnte, ist besonders in Hinsicht der äußeren Erfahrung der Umstand, daß doch die „Körper" im Raume,,außer uns" zu existieren und daher ein von ihrem Wahrgenommen werden unabhängiges Dasein zu führen scheinen. Selbst Hume hatte sich dieser Vorstellungsweise nicht gänzlich entschlagen, sondern hatte nur das Dasein einer solchen extramentalen Körperwelt für problematisch erklärt, da wir es doch immer nur mit unseren Perzeptionen" (Impressionen und Ideen) zu tun hätten. Für den naiven Realismus liegt die Sache überhaupt so, daß er den Wahrnehmungsinhalten von vornherein eine absolute Existenz zuschreibt, also glaubt, daß das im Raume Wahrgenommene unverändert weiter existiere, selbst wenn es von niemandem wahrgenommen wird. Aber auch der kritische Realismus, welcher sich auf Grund erkenntnistheoretischer oder naturphilosophischer Erwägungen veranlaßt sieht, gewisse Bestandteile der Erfahrungswelt (wie die sekundären Sinnesqualitäten) in das Subjekt zurückzunehmen, hält doch daran fest, daß ihnen draußen im Raume etwas Reales entspreche und daß es sich nur darum handeln könne, davon eine richtigere Vorstellung zu gewinnen, als das unmittelbare Zeugnis der Sinne sie zu liefern vermag. Eine besondere Stütze fand dieser Glaube an die metaphysische Realität einer Körperwelt in dem Vorurteil, daß auch die Vorstellungen ausgedehnter Dinge als Vorstellungen selbst etwas Unausgedehntes sein müßten und daher Erkenntniswert nur dann besäßen, wenn sie real ausgedehnte Körper nachbildeten oder auf sie irgendwie hinwiesen, andernfalls diese vorgestellte Körperwelt doch nur ein traumhaftes Dasein führen würde. Darauf beruht z. B. Descartes' methodischer Zweifel an der Existenz einer realen Außenwelt, den er nur durch die Berufung auf die Wahrhaftigkeit Gottes, der uns doch nicht täuschen werden wolle, zu beschwichtigen wußte. Alle diese

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