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die Dissertation von 1770 Raum und Zeit als die Formen der sinnlichen Erfahrung von den Empfindungsqualitäten als deren Stoff unterschieden.

Es ist aber hier ein bemerkenswerter Unterschied festzustellen. Alles, dessen wir uns überhaupt bewußt werden, werden wir uns sukzessiv, also in der Zeit bewußt, mag es sich dabei um Sinnesempfindungen handeln oder um Selbstwahrnehmungen der Zustände und Tätigkeiten unserer Seele. Aber während jenen außerdem das Merkmal der Ausgedehntheit anhaftet, ist den letzteren eine räumliche Beziehung an und für sich fremd. Alle Empfindungen ordnen sich somit in der Zeit, aber nicht alle im Raume. Darauf beruht die Unterscheidung eines äußeren und inneren Sinnes, welche in Lockes Unterscheidung von ,,sensation" und „reflection" ihr geschichtliches Vorbild besitzt. Sieht man von der Herkunft des stofflichen Faktors einstweilen ab, so ergibt sich die Auffassung der Sinnlichkeit als eine zweifache Art sinnlicher Anschauungsweise, je nachdem diese nur an die Form der Zeit oder außerdem an jene des Raumes gebunden ist. Auf dem äußeren Sinn beruht die sinnliche Vorstellung der empirischen Außenwelt, auf dem inneren Sinn die unserer empirischen Innenwelt. Da aber alle Vorstellungen als solche unserem empirischen Selbstbewußtsein zugeordnet sind, überträgt sich dessen Form auch auf die empirischen Anschauungen der räumlichen Umwelt, welche uns so gleichfalls nur in zeitlicher Folge zu Bewußtsein kommen. Der Raum ist so die Form des äußeren Sinnes, die Zeit unmittelbar die Form des inneren und mittelbar auch die des äußeren Sinnes45,

2. RAUM UND ZEIT

So wie die Unterscheidung von „Stoff" und-,,Form" zuletzt auf Aristoteles zurückweist, hat sie auch mit dessen Lehre gemeinsam, daß sie nur eine ideelle Trennung beider bei realer Untrennbarkeit behauptet. Nur in erkenntnistheoretischer Abstraktion lassen sich beide strenge auseinanderhalten; aber weder sind uns jemals raum- und zeitlose Empfindungen wirklich gegeben, noch sind Raum und Zeit ohne jede Erfüllung (und wäre es etwa beim Raume nur die einer ganz neutralen Färbung) tatsächlich vorstellbar. Das für die Reflexion Gegebene ist und bleibt die gegenseitige Durchdringung beider in der empirischen Anschauung. Setzt man aber deren

Zerlegung in Gedanken fort, und nennt man dasjenige,,,was von allem Fremdartigen abgesondert ist“, in seiner Art „rein46", so ergeben sich auf der einen Seite die reinen Empfindungen, also eine noch ungeformte Mannigfaltigkeit sinnlicher Qualitäten, und auf der anderen Seite die reinen Formen: Raum und Zeit. Auf Grund eines solchen Abstraktionsprozesses entsteht so die Vorstellung des leeren, einigen, homogenen und unendlichen Raumes und einer ebensolchen Zeit: eines Raumes, in dem nichts mehr ist, und einer Zeit, in der nichts geschieht; welche sich in allen ihren Teilen unterschiedslos gleichen, und denen keine Grenze gesetzt werden kann, weil diese ja selbst wieder nur in Raum und Zeit bestimmbar sein würde. Raum und Zeit in diesem Sinne sind nicht geben, sondern werden nur gedacht und müssen daher insofern,,Begriffe" heißen. Es könnte so der Anschein entstehen, als wären Raum und Zeit überhaupt nichts anderes als Kunstprodukte der Abstraktion; logische Gattungsbegriffe also, auf empirischer Grundlage dadurch gebildet, daß das Denken gewisse Gemeinsamkeiten der empirischen Anschauungen zusammenfaßt. Dem widerspricht aber eine einfache Überlegung, welche zeigt, daß Raum und Zeit weder sinnlichen Ursprungs sein können noch die Struktur logischer Begriffe aufweisen. Kant nennt diese Überlegung die (im neuen Sinne des Wortes) ,,metaphysische Erörterung dieser Begriffe.

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Raum und Zeit beruhen ihrem Ursprunge nach nicht auf Empfindung. Die naheliegende Vermutung, daß die Erscheinungen selbst durch ihr Nebeneinander den Raum und durch ihr Nacheinander die Zeit hervorbrächten, widerlegt sich durch die Erwägung, daß die Empfindungen an und für sich rein qualitative Bewußtseinsvorgänge sind, welche sich vermöge ihrer eigenen Natur höchstens in einer intensiv abgestuften Reihe zu ordnen vermöchten. Ihre räumliche und zeitliche Ordnung ist etwas, das zu ihnen hinzukommt, ohne in ihrem Wesen enthalten zu sein. Sie setzt die Ordnungsformen Raum und Zeit bereits voraus und wäre ohne sie gar nicht möglich. Die letzteren können daher auch nicht aus ihr entspringen, sondern gehen ihr dem erkenntnistheoretischen Range nach voraus. Es ist eben kein Nebeneinander denkbar als im Raume und kein Nacheinander als in der Zeit; daher lassen sich Raum und Zeit auch nicht aus den Verhältnissen der Wahrnehmung ableiten, welche selbst erst durch sie geschaffen werden. Es zeigt sich dies auch darin, daß man zwar alle Erscheinungen

aus dem Raume und der Zeit fortdenken kann, diese selbst aber damit nicht aufgehoben, ja durch diese Ausleerung in ihrem Wesen gar nicht berührt werden. Raum und Zeit gehen also in erkenntnistheoretischem Sinne der sinnlichen Erfahrung voraus; sie sind von ihr unabhängig oder a priori, mögen wir ihre Vorstellung in psychologischem Sinne auch nur durch Zerlegung der empirischen Anschauung gewonnen haben.

Wenn so Raum und Zeit sich von sinnlichen Wahrnehmungen deutlich unterscheiden und insofern begrifflichen Charakter aufweisen, so sind sie doch auch wieder nicht Begriffe logischer Art. Zu deren Wesen gehört es ja, daß sie einen Umfang besitzen, indem sie viele einzelne Exemplare unter sich fassen. Einzelne Räume und Zeiten sind aber immer nur Einschränkungen des einzigen unendlichen Raumes und der einzigen unendlichen Zeit. Eine Vorstellung aber, der nur ein einziges Objekt entspricht, ist eben kein Gattungsbegriff, sondern eine Anschauung. Dazu kommt, daß das Verhältnis der einzelnen Räume und Zeiten zum Raum und zur Zeit überhaupt ein ganz anderes ist als bei Begriffen. Die einzelnen Räume und Zeiten sind realiter Teile des einen Raumes und der einen Zeit. Nun ist zwar auch jeder Begriff in einer Menge von Einzelvorstellungen enthalten, aber doch nur in logischem Sinne, nämlich als ihr gemeinsames Merkmal; niemals ist aber bei Begriffen die Sache so, daß die einzelnen Vorstellungen, die in seinen Umfang fallen, seine realen Teile sein würden. Allen menschlichen Individuen sind gewisse Eigenschaften gemeinsam, die im Begriffe ,,Menschheit" vereinigt gedacht werden; die einzelnen Menschen sind aber deshalb nicht Bestandteile dieses Begriffes in der Art, wie jeder beliebig groß vorgestellte Raum doch wieder nur ein Ausschnitt des allgemeinen Raumes ist. Wären Raum und Zeit Begriffe, so müßten sich auch überdies ihr Wesen und ihre Unterschiedenheiten durch andere Begriffe deutlich machen, d. h. definieren lassen. Vergeblich würden wir aber versuchen, so geläufige Tatsachen, wie daß der rechte Handschuh nicht auf die linke Hand paßt, durch Definitionen festzulegen, während der einfachste Hinweis auf die Anschauung zu ihrer Verdeutlichung genügt. Dieser Hinweis auf mangelnde Kongruenz krummer Flächen trotz bestehender Symmetrie hatte schon früher Kants Interesse gefesselt und wird jetzt zu einem Hilfsbeweis für die anschauliche Natur

des Raumes. Das Gleiche würde auch für die Zeit, etwa in Hinsicht des „nacheinander“ oder „,früher und später" gelten. Was sind denn nun eigentlich Raum und Zeit für sich betrachtet? Von empirischen Anschauungen unterscheiden sie sich durch ihre Apriorität, von logischen Begriffen durch ihre anschauliche Natur; mit jenen haben sie die Anschaulichkeit, mit diesen die Losgelöstheit von der Empfindung gemein. Offenbar sind sie ein Mittelding zwischen beiden: nicht-sinnliche Anschauungen oder konkrete Begriffe oder, wie Kant sie nennt: reine Anschauungen a priori. Damit soll nicht gesagt sein, daß wir a priori von den beiden Anschauungsformen eine solche reine Anschauung besäßen, welche ihrer Erfüllung mit sinnlichem Stoff vorherginge. „Rein“ im strengen erkenntnistheoretischen Sinne heißt eine Vorstellung, der keine Empfindung „beigemischt" ist, im psychologischen Sinne jene ohne „beigemischte merkliche Empfindung49. Die Reinheit" unserer Raum- und Zeitvorstellung bleibt daher ein begriffliches Postulat, das sich im bildhaften Vorstellen immer nur annähernd verwirklichen läßt. Es soll damit nur ausgedrückt werden, daß Raum und Zeit ihre eigene von der Empfindung unabhängige Struktur und Gesetzlichkeit besitzen, welche sich daher nicht auf sinnliche Erfahrung gründen, sondern diese selbst ihrer formalen Seite nach bestimmen. Einzelne Redewendungen Kants („im Gemüt a priori bereitliegen“, „im Subjekt vorhergehen“, „dem Subjekt ursprünglich anhängende Bedingungen“) könnten allerdings die Auffassung begünstigen, als wenn die Raum- und Zeitanschauung ein angeborenes Besitztum der Seele wären. Dem widerspricht aber nicht nur die Tatsache, daß unsere bewußte Raum- und Zeitvorstellung sich erst an und mit der Erfahrung entwickelt und daher auch große individuelle Verschiedenheiten aufweist, sondern auch die unzweideutige Meinungsäußerung Kants selbst: „Die Kritik erlaubt schlechterdings keine anerschaffenen oder angeborenen Vorstellungen; alle insgesamt, sie mögen zur Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören, nimmt sie als erworben an50" Apriorität hat eben in keinem Sinne mit Angeborensein etwas zu tun! Der Ausdruck Raum und Zeit seien „,vor" aller Erfahrung, bedeutet daher nicht, daß sie dieser zeitlich vorausgehen, sondern nur, daß sie von aller Erfahrung vorausgesetzt werden. Anders ausgedrückt: daß sie für alle Erfahrung gelten und sie durch ihre Eigenart formell bestimmen, nicht daß sie

vor aller Erfahrung sind. Wer Dinge außer sich wahrnehmen will, muß sie im Raume wahrnehmen; wer sein eigenes Seelenleben beobachtet, dem erscheint es als Abfolge in der Zeit. Jedes Wesen, das überhaupt sinnlich vorstellt (Mensch oder Tier), ist an die räumlich-zeitliche Form gebunden. Ihre innere Gesetzlichkeit gilt somit für alle sinnlich Vorstellenden und für alles sinnlich Vorgestellte, und zwar unentrinnbar: Raum und Zeit gelten somit allgemein und notwendig oder a priori. Ihre Apriorität bedeutet also, daß sie die conditio sine qua non jeder Art sinnlichen Vorstellens oder dessen unaufhebbaren Charakter ausmachen, nicht daß ihre eigene Vorstellung der Vorstellung anderer Dinge in der Zeit vorausgeht. Daher ist auch das Verhältnis der beiden Anschauungsformen zu dem noch ungeformt gedachten Empfindungsstoff nicht so zu denken, als würden jene in unserem Bewußtsein gleichsam als zwei große leere Gefäße bereitstehen, in die wir die Empfindungsinhalte nun einzuordnen hätten. Wenn hier überhaupt von einem Vorgange der „Formung" die Rede sein kann, so bleibt dieser vom Standpunkte unseres empirischen Bewußtseins aus durchaus hypothetisch und könnte sich nur im Transzendentalen abspielen. Die Apriorität von Raum und Zeit besagt in dieser Hinsicht bloß, daß die empirischen Anschauungen gesetzmäßige Beziehungen aufweisen, welche sich nicht aus den Empfindungen als solchen ableiten lassen, sondern allein in ihrer formalen Seite begründet sind.

3. DIE SYNTHETISCHEN URTEILE A PRIORI DER MATHEMATIK Auf Raum und Zeit als reine Anschauungen beziehen sich die synthetischen Urteile a priori der Mathematik: der reine Raum ist Gegenstand der Geometrie, die Zeit insofern Gegenstand der Arithmetik, als diese ihre Zahlbegriffe „durch sukzessive Hinzusetzung der Einheiten in der Zeit" zustande bringt; auf beiden beruht die apriorische Bewegungslehre oder reine Mechanik. Würden nun Raum und Zeit ihrem eigenen Wesen nach auf Empfindung beruhen, so müßte die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der mathematischen Erkenntnisse unbegreiflich bleiben, da jene aus Erfahrung niemals entspringen können. Wären andererseits Raum und Zeit abstrakte Begriffe, so ließe sich wieder der synthetische Charakter der mathematischen Urteile nicht erklären, da sich aus einem Begriff nur ableiten läßt, was in seiner Definition bereits

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