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Beispiel das Subjekt nicht eine beliebige Gerade, sondern eben schon eine Gerade zwischen zwei Punkten, die eben dadurch schon als die kürzeste bestimmt ist. Auch in dem empirischen Urteil: „Einige Menschen sind schwarz", meine man doch nicht einige beliebige Menschen, sondern eben die Neger; in dem Urteil: „Die Neger sind schwarz", komme aber der analytische Charakter des Ganzen sofort zum Vorschein. Dieser Einwand, der seinem Kerne nach bis auf Hobbes zurückgeht, verwechselt die Form des Aussagesatzes mit der eigentlichen Urteilsfunktion. Der Aussagesatz schafft ja natürlich nicht die fragliche Verbindung der Begriffe, sondern spricht sie nur aus, daher sie schon vorher im Bewußtsein des Sprechenden vollzogen sein muß. Aber eben in der dem Aussprechen des Satzes vorausgehenden Denkoperation liegt die von Kant geforderte Synthese. So wie im Beispiel der „Neger" die eigentliche Synthese bereits in der Beobachtung schwarzer Menschen enthalten ist, so liegt auch im Falle des 7+5=12 die Synthese nicht in der Benennung der Summe mit dem Zahlwort „zwölf“, sondern in dem tatsächlichen Vollzug der Summierung von sieben und fünf beschlossen. Kant faßt die Sache so auf, daß das Subjekt nur die gestellte Aufgabe der Summierung ausdrückt, deren Lösung dann das Prädikat bringt; die Gegner wenden ein, daß man jene Aufgabe schon gelöst haben müsse, bevor man sie in Form eines Urteils ausspricht. Vollzogen muß aber doch die Synthese auf jeden Fall werden und nur darauf kommt es in der Kantischen Unterscheidung an, daß hier überhaupt eine Synthese vorliegt11. Gegen Kant läßt sich so allerdings in gewissem Sinne behaupten, daß alle mathematischen „Urteile" analytisch sind; in Übereinstimmung mit Kant muß aber hinzugefügt werden, daß jede solche Analyse eine ursprüngliche Synthese voraussetzt.

Die scharfe Trennung analytischer und synthetischer Urteile bedeutet letzten Grundes nichts anderes als die abschließende Formel für die Einsicht, daß alle eigentlich so zu nennende Erkenntnis überhaupt synthetischer Natur ist und daher einer kritischen Untersuchung ihres Prinzipes bedarf. Sie bedeutet so vor allem die Absage an allen Ontologismus und zieht damit nur die letzte Folgerung aus Kants philosophischer Entwicklung. Durch die Einsicht in den synthetischen Charakter aller echten Erkenntnis wird der Kritizismus vor eine ganz universelle Aufgabe gestellt: kein einziger Fall wirklicher oder vermeintlicher Erkenntnis ist selbstgewiß; vielmehr bedarf es

überall der Aufdeckung, Untersuchung und Prüfung eines außerhalb der formalen Logik stehenden Prinzipes ihrer Gültigkeit. 4. DIE PROBLEMSTELLUNG IN DER KRITIK DER REINEN VERNUNFT

Synthetische Urteile mit dem Anspruche auf apriorische Geltung sind also in unserem Erkenntnisbewußtsein der Menschheit zweifellos vorhanden. Mit ihrer Möglichkeit steht und fällt der rationalistische Erkenntnisanspruch auf absolutes Wissen von inhaltlicher Bedeutung. Ihre Untersuchung bildet daher den ersten und vornehmsten Gegenstand der kritischen Untersuchung. Hume hatte behauptet, sie wären unmöglich, während es Kant nicht über sich bringt, die Urteile der ersten und zweiten Gruppe, in denen er die Grundlage exakter Naturwissenschaft erblickt, im Ernste zu bezweifeln. Gleichwohl bedürfen auch sie einer Prüfung ihrer erkenntnistheoretischen Grundlage. Denn im Gegensatze zu den analytischen Urteilen (Satz des Widerspruchs) und den synthetischen Urteilen a posteriori (Erfahrung) tragen sie das Prinzip ihrer logischen Berechtigung keineswegs offen zur Schau. Und nur wenn es gelingt, dieses aufzuzeigen, sind sie gegen die Angriffe des Skeptizismus fürderhin gesichert. Daher lautet die Grundfrage der „Kritik der reinen Vernunft": Wie sind synthetische Ürteile a priori möglich? Diese Frage gliedert sich gemäß den drei Gruppen solcher Urteile in drei Teilfragen: Erstens: Wie sind die synthetischen Urteile a priori der Mathematik möglich? Zweitens: Wie sind die synthetischen Urteile der reinen Naturwissenschaft möglich? Drittens: Wie sind die synthetischen Urteile a priori der Metaphysik möglich? Da die Unmöglichkeit der letzteren in ihrer historischen Gegebenheit für Kant schon feststand, als er an seine kritische Aufgabe herantrat, so spaltet sich ihm die Frage nach ihrer Möglichkeit von vornherein in zwei Teilfragen: Erstens: Welches ist die Grundlage jenes metaphysischen Bautriebes der Menschheit, welcher immer wieder zum Entwurf solcher Systeme verführt trotz der offenkundigen Aussichtslosigkeit, in ihnen zu allgemeiner Übereinstimmung zu gelangen? Oder kurz: Wie ist Metaphysik als Naturanlage möglich? Zweitens aber: Welche Möglichkeit besteht, an Stelle dieser hoffnungslosen Bemühungen eine Wissenschaft zu setzen, welche dem unausrottbaren Bedürfnis nach Aufschluß über die letzten Fragen genügt, ohne in die Fehler der Vergangenheit zu verfallen?

Oder kurz: Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? Die Antwort auf diese letzte Frage, nämlich: sie ist nur als Transzendental philosophie möglich, ist schon mit dem allgemeinen Programm der Vernunftkritik gegeben.

Diese Fragestellung ist insofern grundlegend, als ihrem Leitfaden die kritische Untersuchung äußerlich folgt. Sie ist aber insofern unvollständig, als die Transzendentalphilosophie noch um ein anderes Grundproblem sich dreht: das Problem der Erfahrung. Die,,Analysis einer Erfahrung überhaupt und die Prinzipien der Möglichkeit der letzteren" hat Kant selbst als „das schwerste von der ganzen Kritik“ bezeichnet. Warum hat er diese Frage nicht ausdrücklich gestellt? Abgesehen von Kants historisch bedingter Einstellung gegen Humes ,,Skeptizismus" liegt der Grund einfach darin, daß in der Tat die Urteile a posteriori für ihn kein Problem bedeuteten, wohl aber ihr Prinzip, die Erfahrung selbst, durch den Fortgang der kritischen Untersuchung zu einem solchen werden mußte. Die Prüfung der synthetischen Urteile a priori zeigt eben, daß ihre Gültigkeit sich allein dadurch erweist, daß sie eine notwendige Beziehung zur empirischen Wirklichkeit besitzen, welche eigentümliche Zusammenstimmung von Rationalem und Empirischem sich wieder nur dadurch erklärt, daß in den Erfahrungsurteilen selbst schon etwas Apriorisches enthalten ist. So verschiebt sich das eigentliche Problem allmählich aus dem Apriori in das Aposteriori: die Erfahrung selbst wird immer rätselhafter, je mehr sich das Dunkel, das ursprünglich über der reinen Vernunfterkenntnis lagert, aufhellt. So wird endlich die Frage: „Wie ist Erfahrung selbst möglich?“ zum ,,höchsten Punkt, den transzendentale Philosophie nur immer berühren mag, und zu welchem sie auch, als ihrer Grenze und Vollendung, geführt werden muß". In ihr liegt der Höhepunkt der Kantischen Gedankenentwicklung und ihre wertvollsten und dauerndsten Ergebnisse treten gerade in ihrer Beantwortung zutage. Es ist aber durchaus natürlich, daß sie erst im Fortgang der Untersuchung ausdrücklich aufgeworfen werden konnte, wie denn auch ihre ganze Bedeutung erst im Zusammenhang mit dem transzendentalen Idealismus klar werden kann43.

Allgemein vorgestellt lautet die Kantische Ausgangsfrage: Wie sind Aussagen über die Wirklichkeit möglich, welche qualitativ (nach ihrem Gewißheitsgrad) und quantitativ (nach dem Umfange ihrer Geltung) mehr enthalten, als die Summe aller möglichen Einzelerfahrungen jemals enthält und

ihrem Wesen nach jemals enthalten kann? Oder anders ausgedrückt: Wie sind Aussagen möglich, die für alle Erfahrung gelten sollen und doch nicht allein aus Erfahrung entspringen können, auch durch keine noch so weit getriebene Erfahrung jemals bewiesen werden können? Daß in Mathematik und reiner Naturwissenschaft Erkenntnisse dieser Art wirklich" seien, stand für Kant wohl von vornherein fest. Sie aus dem skeptischen Strudel zu retten, der mit der Metaphysik jede apriorische Wissenschaft überhaupt zu verschlingen drohte, ist seine unverkennbare Absicht. Gleichwohl kann man nicht sagen, daß ihr Bestand nun etwa den Stützpunkt und letzten Beweisgrund der Transzendentalphilosophie abgegeben hätte. Denn nicht nur, daß ein wichtiger Teil dieser Art Urteile die metaphysischen - in ihrer Möglichkeit verneint werden, empfangen auch die anderen eine von der gewöhnlichen Auffassung wesentlich abweichende Deutung und erkenntnistheoretische Wertung. Auch sie stehen daher in ihrer Geltung zunächst in Frage und haben ihre Bestätigung erst aus dem Ergebnisse der kritischen Untersuchung zu erwarten, zuletzt von der Analyse der Erfahrung. Eben das Zusammentreffen eines ganz oder bis zu gewissem Grade selbständig arbeitenden Denkens mit der empirischen Wirklichkeit dieses Zusammenstimmen von Vernunft und Erfahrung, das weder Rationalismus noch Empirismus bisher zu erklären vermochten, bildet das eigentlich transzendentalphilosophische Problem, für das die Frage der synthetischen Ürteile a priori nur die Eingangspforte darstellt.

Die „Kritik der reinen Vernunft" zerfällt (wie alle kritischen Hauptwerke) in eine Elementar- und eine Methodenlehre, welch letztere nach Inhalt und Umfang nur als ein Anhang zu jener sich darstellt. Die Elementarlehre gliedert sich wieder in die transzendentale Ästhetik und in die transzendentale Logik. Erstere enthält (hier noch der Wortbedeutung nach) die Lehre von der sinnlichen Anschauung, von Raum und Zeit und die Grundlegung des transzendentalen Idealismus. Die Logik zerfällt wieder in die transzendentale Analytik, welche die Begründung möglichen Wissens, und in die transzendentale Dialektik, welche die Zerstörung des metaphysischen Scheinwissens enthält. Jene ist (in z. T. recht künstlicher Weise) mit den formal-logischen Lehren vom Begriff und Urteil, diese mit der von den Schlüssen in Verbindung gebracht. Die nachfolgende Darstellung bindet sich im einzelnen nicht an die Kantische Systematik.

IV. DER TRANSZENDENTALE IDEALISMUS

1. DIE EMPIRISCHE ANSCHAUUNG

,,Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel." Jedes Erkennen das wollen diese Anfangsworte der Kritik der reinen Vernunft besagen setzt voraus, daß etwas gegeben sei, das erkannt werden soll. Gegeben" wird uns aber ein Erkenntnisgegenstand nur in jener passiven oder rezeptiven Art und Weise, die wir eben im weitesten Sinne des Wortes „Erfahrung" nennen: „Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an." Diese Erfahrung, die am Anfange alles Erkennens steht, ohne selbst schon Erkenntnis zu sein, ist die rein sinnliche Erfahrung oder die Abfolge empirischer Anschauungen im individuellen Bewußtsein. Unter empirischer Anschauung ist hier jede räumlich und zeitlich ausgebreitete Empfindungsmannigfaltigkeit zu verstehen und zwar unter vorläufiger Ausschaltung alles dessen, was sich etwa unvermerkt an Denkbestimmungen in sie einmengen möchte. Es handelt sich also hier schon bis zu einem gewissen Grade um eine erkenntnistheoretische Abstraktion: nicht um das tatsächlich Vorgefundene, sondern um das rein und bloß Vorfindbare nach Abzug alles vom erkennenden Geiste Hineingelegten. Die empirische Anschauung oder sinnliche,,Erscheinung" bildet den Stoff für das formende, verknüpfende und trennende Denken. Die weiter vordringende Analyse läßt aber an der empirischen Anschauung selbst wieder ein materiales und formales Element unterscheiden: die qualitativen Empfindungsinhalte und die, räumlich-zeitlichen Relationen, in denen sie auftreten. Das Unterscheidungsmerkmal ist die relative Konstanz des formalen gegenüber dem materialen Faktor. Die Sinnesempfindungen wechseln, ihre Ordnungsformen und deren Gesetzmäßigkeiten bleiben. Die Änderung der ersteren ändert nichts an diesen; ein Kreis z. B. wird dadurch kein anderer, daß er einmal grün und einmal gelb gefärbt ist, wohl aber ändert sich die Zahl und Anordnung der Farbpunkte, wenn an die Stelle des Kreises ein Quadrat tritt. Es ist auch ganz gut möglich, Raum und Zeit gleichsam auszufegen, d. h. alle Gegenstände aus dem Raume und alle Geschehnisse aus der Zeit wegzudenken; als unmöglich aber erweist es sich, sinnliche Qualitäten ohne räumliche und zeitliche Bestimmungen vorzustellen. In dieser Weise hatte schon

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