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man an diesem Hängen am rationalistischen Wissensideal mit Recht eine innere Schranke des Kantischen Geistes erblicken, so war doch die an sich ganz unbegründete Besorgnis, daß mit seinem Sturz alle echte Wissenschaft verloren ginge 28, der mächtigste Hebel in Kants weiterer Entwicklung. Denn war auch der unmittelbare Anlaß zum Weiterschreiten nur die Abwehr der empiristischen Skepsis, so erweiterte sich diese apologetische Aufgabe für Kant alsbald zu der umfassenden Frage nach der Möglichkeit objektiver Erkenntnis überhaupt. Der wichtige Brief an M. Herz vom 21. Februar 1772, den man nicht mit Unrecht als die Geburtsstunde der ,,Kritik der reinen Vernunft" bezeichnet hat, läßt deutlich diesen großen Schritt erkennen. Nimmt man noch dazu, daß die neue kritische Untersuchung bereits die seit 1770 feststehende Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit voraussetzen durfte, so hat man die Prämissen der Vernunftkritik unmittelbar und vollständig in der Hand.

III. PROBLEM UND METHODE DES KRITIZISMUS

1. BEGRIFF UND AUFGABE DER KRITISCHEN PHILOSOPHIE Auf theoretischem Gebiet waren die beiden Denkmotive, welche Kant aus seiner vorkritischen Zeit mit herübernahm, die Überzeugung von der Unhaltbarkeit der rationalistischen Metaphysik und die Überzeugung von der Unzulänglichkeit der empiristischen Erkenntnis theorie. Der Rationalismus vermag seine eigenen hochfliegenden Erkenntnisansprüche nicht zu begründen, der Empirismus wieder nicht einmal den berechtigten Ansprüchen der Erfahrungswissenschaften gerecht zu werden. Wenn in Hinsicht der Metaphysik der Empirismus gegenüber dem Rationalismus offenbar im Recht ist, so bedarf er in Hinsicht der erkenntnistheoretischen Aufgabe einer notwendigen Ergänzung, die wieder nur durch Aufnahme rationalistischer Elemente erfolgen kann. Aus dem Antagonismus rationalistischer und empiristischer Gesichtspunkte entspringt so das kritische Problem einer gegenseitigen Abgrenzung ihrer Ansprüche bei gleichzeitiger Anerkennung ihrer relativen Berechtigung. Rationalismus und Empirismus, das bedeutet aus dem Historischen ins Systematische übersetzt: Sinnlichkeit und Vernunft, deren wesentliche Verschiedenheit bereits die Disser

tation von 1770 herausgestellt hatte. Daher sollte auch der Titel des geplanten kritischen Hauptwerkes ursprünglich lauten: ,,Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft 29". Es erschien 1781 als „Kritik der reinen Vernunft", nur dem Namen, nicht der gestellten Aufgabe nach vereinfacht. Aus einem ganz ähnlichen Antagonismus der Gesichtspunkte entspringt aber auch das Problem der kritischen Moralphilosophie. Die absoluten Imperative der theologischen Moral sind an gewisse keineswegs unbestrittene metaphysische Voraussetzungen geknüpft und halten daher der Kritik nicht stand, welche die empiristischen Moralphilosophen an ihnen üben, indem sie die moralischen Schätzungen auf Naturtriebe, Mechanik der Affekte, einen angeborenen moralischen Sinn, sympathetische Gefühle oder endlich auf Erwägungen über den Nutzen des Einzelnen oder der Gesamtheit zurückzuführen suchen. Hat diese empiristische Ethik den Vorzug größerer Lebensnähe und psychologischer Begründung für sich, so fehlt es ihr doch wieder gänzlich an einem sicheren Kriterium, um die ethischen Werte von anderen bloß relativen Werten (wie den hedonistischen und utilitaristischen) zu unterscheiden. Das unbedingt Verpflichtende des Sittengesetzes, seine Würde und Allgemeingültigkeit gehen hier verloren oder werden wohl gar geleugnet. Der Glaube an sie war aber in Kant nicht minder mächtig als der an die Geltung und Würde der Wissenschaft. Daher entsprang hier für ihn ein analoges Problem wie in der theoretischen Philosophie: wie läßt sich die Absolutheit des Sittengesetzes begründen ohne Anlehnung an bestimmte metaphysische und religiöse Vorstellungsweisen? Auch hier wird die Aufgabe vor allem in einer kritischen Abgrenzung rationaler und empirischer Gesichtspunkte in der Ethik bestehen. Ihr ist die „Kritik der praktischen Vernunft", 1788, gewidmet (d. i. Kritik der das Begehrungsvermögen bestimmenden Vernunft oder des Vernunftwillens). Ein ähnlicher Gegensatz wie in der Ethik bestand endlich auch in der Ästhetik jener Zeit zwischen der rationalistischen und der empiristischen Deutung des Schönen. Die Rationalisten, welche das Wesen der Schönheit in einer sinnlich-unvollkommenen Erkenntnis des Vollkommenen erblickten, vermochten dem eigentümlichen Stimmungscharakter des Schönen und Erhabenen nicht gerecht zu werden. Die Empiristen, welche beides ausschließlich auf Gefühle gründen wollten, ließen wieder die Grenzen des ästhetisch Wohlgefälligen, des sinnlich Angenehmen und des sittlich Guten ineinanderfließen. Auch hier bedurfte

es einer kritischen Untersuchung der in unseren Geschmacksurteilen wirksamen Faktoren und ihres Anteils an der ästhetischen Betrachtungsweise der Phänomene. Diese Aufgabe hat Kant 1790 mit seiner „Kritik der (ästhetischen) Urteilskraft" geleistet, nachdem er die lange gehegten Bedenken die Möglichkeit einer,,Kritik des Geschmackes" als Wissenschaft endlich überwunden hatte 30.

gegen

Die Begriffsnamen „,Sinnlichkeit“, „Vernunft“, „Urteilskraft“, zu denen sich noch ,,Verstand" und „Einbildungskraft", sämtliche wieder mit mehreren Unterarten, gesellen, könnten von vornherein das Bedenken erregen, als würde das kritische Systemgebäude auf dem hinfälligen Grunde einer längst (besonders seit Herbart) überwundenen Vermögenspsychologie errichtet, mit deren Wegfall es auch selbst ins Wanken geraten müßte. In diesem Sinne spottet Nietzsche einmal: Kant erkläre alles,,vermöge eines Vermögens31". Nun stammen jene Ausdrücke ja in der Tat aus der Wolffischen Psychologie mit ihrer Unterscheidung eines höheren und niederen Erkenntnis- bzw. Begehrungsvermögens. Sie verlieren aber bei Kant ihre ursprüngliche Bedeutung als „Kräfte“ (die Kantische Philosophie kennt gar keine „Seele", deren Vermögen sie sein könnten), und werden zur konventionellen Bezeichnung für ebensoviele Erkenntnisarten. Ihre Auseinanderhaltung besitzt vor allem methodische Bedeutung: es soll gezeigt werden, aus welchen verschiedenen Faktoren oder Komponenten sich jede einzelne Erkenntnistatsache zusammensetzt. Der Anteil des Empirischen und des Rationalen an ihnen soll herausgestellt und jeder für sich und dann wieder beide in ihrem Zusammenwirken betrachtet werden. Der Fixierung des Ergebnisses einer solchen Analyse dienen jene Namen, hinter denen somit nicht eine Antwort, sondern eine Frage steckt: welchen Anteil hat der empirische und der rationale Faktor an dieser oder jener Erkenntnis? Anschließend sei auch bemerkt, daß, wenn Kant von „Handlungen" des Gemütes oder „Funktionen" des Verstandes und der Einbildungskraft spricht, damit nicht psychologische, in der Zeit verlaufende Prozesse, sondern zeitlose Verhältnisse gemeint sind, welche nur durch den Zwang bildhafter Ausdrucksweise so dargestellt werden, als würde es sich um reale Vorgänge handeln.

Was soll nun durch den Kritizismus (seiner Wortbedeutung nach),,entschieden“, „beurteilt“ und „gerichtet werden? Nicht Bücher oder Systeme, wie Kant ausdrücklich bemerkt,

sondern das „Vernunftvermögen" selbst. Das will heißen: die verschiedenartigen Ansprüche des menschlichen Geistes auf unbedingte Gültigkeit seiner Urteile,_seien dies nun solche der gewöhnlichen Erfahrung oder der Erfahrungswissenschaft, der Mathematik oder der Metaphysik, Urteile der Billigung oder Mißbilligung menschlicher Handlungen und Gesinnungen oder endlich Urteile des Gefallens oder Mißfallens in der ästhetischen Betrachtung der Dinge. Über diese vielfach einander widerstreitenden Ansprüche eine wissenschaftlich begründete Entscheidung zu gewinnen, ist die universelle Aufgabe des Kritizismus. Man kann sich ohne vorherige Prüfung seiner letzten Grundlagen für einen dieser Ansprüche entscheiden: dann verhält man sich dogmatisch. Man kann sie alle (etwa um ihres Widerstreites willen) von vornherein ablehnen: dann verhält man sich als Skeptiker. Man kann aber auch sein Urteil über sie so lange zurückhalten, bis man durch gewissenhafte Prüfung der Grundlagen eine Einsicht in ihre Berechtigung oder Nichtberechtigung gewonnen hat: dann verhält man sich kritisch. Der Kritizismus ist somit eine Wertwissenschaft, d. i. ein System von begründeten Werturteilen über die Leistungsfähigkeit des menschlichen Geistes in allen seinen Lebensäußerungen. Da es sich dabei zunächst um die Absteckung der natürlichen Grenzen dieser Leistungsfähigkeit handelt, wird die Philosophie hiermit in der Tat zu dem, was ihr Kant in den „Träumen" als neue Aufgabe gesetzt hatte: „eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft".

2. DIE TRANSZENDENTALE METHODE

,,Methodus antevertit omnem scientiam", hieß es schon in der Dissertation von 1770 und von der,,Kritik der reinen Vernunft" sagt Kant in der Vorrede, sie sei ein,,Traktat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst32". In der Tat liegt der Schlüssel zur Lösung der kritischen Aufgabe in der Ausfindung einer hierzu geeigneten Methode. Denn wenn das Erkennen über seine eigenen Ansprüche urteilen, die Vernunft über sich selbst und ihr Können zu Gericht sitzen soll, so bedarf es offenbar einer ganz besonderen Richtung oder Einstellung des Denkens, sozusagen eines eigenen Kunstgriffes, um sich selbst objektiv zu werden. Ansätze zu kritischen Untersuchungen, besonders erkenntnistheoretischer Art, hat es ja schon vor Kant gegeben. Insbesondere J. Locke kann hier als sein Vorläufer genannt werden 33. Nirgends aber war der

kritische Gesichtspunkt völlig rein zur Geltung gekommen, insofern er überall mit anderen, teils (wie bei den Rationalisten) metaphysischen, teils (wie bei den Empiristen) psychologischen und biologischen Gesichtspunkten vermengt auftrat. So suchte man dem erkenntniskritischen Problem zumeist durch die genetische Ableitung der Erkenntnis, sei es aus eingeborenen Begriffen, sei es aus Sinnes wahrnehmungen, beizukommen. Diese entwicklungsgeschichtliche (oder wie Kant sie nennt: „physiologische") Methode kann uns wichtige Aufklärungen über den Ursprung des Wissens geben, sie kann den tatsächlichen Bestand an wirklicher oder vermeintlicher Erkenntnis aufhellen: aber sie kann nichts endgültig entscheiden über dessen Wert und Geltung, weil sie z.T. mit denselben Voraussetzungen arbeiten muß, die sie erst prüfen soll (z. B. Realität der Zeit, Kausalzusammenhang, Existenz des Ichs oder der Außenwelt usf.). Das entscheidend Neue bei Kant ist, daß er die Unzulänglichkeit der psychogenetischen Methode für die Behandlung des kritischen Fundamentalproblems deutlich erkannte, also die Frage nach Wesen und Geltungsanspruch der gegebenen (logischen, ethischen, ästhetischen) Werte grundsätzlich unterschied von der Frage nach dem Ursprung dieser Wertungen: die quaestio juris von der quaestio facti34.

Kant nannte seine eigene Methode „transzendental", daher seine Philosophie auch,,Transzendentalphilosophie" heißt. Der von ihm neu eingeführte, aber leider nicht immer eindeutig festgehaltene Begriff,,transzendental" läßt sich am raschesten erläutern durch seinen Vergleich mit den ihm verwandten, aber doch wieder wesentlich von ihm verschiedenen Begriffen „immanent“ und „transzendent“. „Immanent" heißt jede Vorstellungsweise, jeder Begriff oder Lehrsatz, jede Theorie oder Hypothese, die sich innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung halten; zu diesem Gebiet des Erfahrbaren gehört so nicht nur das unmittelbar und tatsächlich Wahrgenommene, sondern auch alles, was mit der wirklichen Erfahrung nach allgemeinen Regeln so zusammenhängt, daß es unter gewissen (wenn auch vielleicht nie realisierbaren) Bedingungen Gegenstand einer Erfahrung sein könnte; z. B. die Entstehung unseres Planetensystems, die Rückseite des Mondes oder allenfalls auf ihm vorausgesetzte Bewohner und dergl.,,Transzendent" hingegen ist alles, was die Grenzen möglicher Erfahrung seinem Wesen nach überschreitet, also jede Aussage über das schlechthin Übersinnliche, wie z. B. über das Schicksal der Seele nach dem

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