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von nun an einen festen Punkt in Kants Denken und kommt später in dem „Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen zu systematischem Ausdruck.

Ebenso vollzieht sich während der empiristischen Entwicklungsphase selbst eine Wandlung in Hinsicht der Stellung Kants zu den üblichen Gottesbeweisen. An dem Glauben:,,Es ist ein Gott" hat Kant wohl immerdar festgehalten. Aber während er in der Naturgeschichte und Theorie des Himmels" noch am kosmologischen und teleologischen Gottesbeweis festhielt, beginnt er jetzt an ihrer Tragfähigkeit zu zweifeln. In der Schrift vom Jahre 1763:,,Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" unternimmt er es zwar, an ihre Stelle einen rein dialektischen Beweis für die Existenz eines absolut_notwendigen Wesens zu setzen, fügt aber am Schlusse die Bemerkung hinzu: „Es ist durchaus nötig, daß man sich vom Dasein Gottes überzeuge; es ist aber nicht ebenso nötig, daß man es demonstriere." In den,,Träumen❝ steht er aber bereits ganz auf dem Standpunkte, daß nur ein ,.moralischer Glaube" uns den Zugang zum Übersinnlichen eröffne und daß es der menschlichen Natur und der Reinigkeit der Sitten gemäßer sei,,,die Erwartung der künftigen Welt auf die Empfindungen einer wohlgearteten Seele, als umgekehrt ihr Wohlverhalten auf die Hoffnung der anderen Welt zu gründen21". Auch in diesem Punkte hat Kant seine Ansicht nicht mehr geändert.

4. DIE WENDUNG ZUM KRITIZISMUS

Die,,Träume" bezeichnen einen Höhepunkt in Kants philosophischer Entwicklung, der auch den Hauptwerken gegenüber seinen selbständigen Wert bewahrt. Alle fruchtbare Erkenntnis - das ist ihr Grundgedanke - beruht auf Erfahrung; dort, wo diese nicht mehr ausreicht wie in der Metaphysik -, ist entschlossener Verzicht besser als selbstgefälliges Spiel mit einem Scheinwissen. Kants Standpunkt ist somit in dieser Zeit ein erklärter Agnostizismus in Hinsicht jeder nicht empirisch begründbaren Erkenntnis. Darin sollte nun mit Ende der sechziger Jahre abermals eine Wandlung eintreten: ,,Das Jahr 69 gab mir großes Licht", heißt es in einem Nachlaßzettel des Philosophen. Dieses neue Licht bestand in der deutlichen Scheidung von Sinnenwelt und Verstandeswelt und der Annahme einer dementsprechend geteilten Struktur unseres Erkenntnisvermögens. Ohne Zweifel war

hierin mittelbar der Einfluß wirksam, den Kant von dem erst damals posthum erschienenen erkenntnistheoretischen Hauptwerke Leibnizens: „Nouveaux essais sur l'entendement humain", 1765, empfangen hatte, in welchem sich Leibniz von seinem rationalistischen Standpunkte aus mit dem Lockeschen Empirismus in gründlichster Weise auseinandersetzt. Im besonderen scheinen es Raum- und Zeitprobleme ähnlich jenen gewesen zu sein, welche später unter dem Namen,,Antinomien" wieder auftauchen, die Kant jene Lösung suchen ließen 22. Darauf weist auch hin, daß er ein Jahr vorher in der kleinen Schrift: ,,Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume", 1768, ausgehend von der Unmöglichkeit, symmetrische, aber inkongruente Raumgebilde (wie z. B. Spiegelschrift, rechte und linke Körperhälfte u. dergl.) begrifflich auseinanderzuhalten, im Sinne Newtons und gegen Leibniz die Annahme verteidigt hatte, „daß der absolute Raum unabhängig von dem Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe“. Im Zusammenhang damit scheint ihm aber nun das Anwendungsproblem der Mathematik in seiner ganzen Schwierigkeit zum ersten Male deutlich geworden zu sein: wenn der Raum wirklich eine absolute, von seiner Erfüllung ebenso wie von unserem Geiste unabhängige Realität ist, wie ist es dann zu verstehen, daß die Sätze der Geometrie, welche doch nicht der Erfahrung entspringen, von ihm und allem in ihm Befindlichen gelten sollen? Oder kurz: wie vereint sich die Unabhängigkeit der Mathematik von der Erfahrung mit ihrer Anwendbarkeit auf das Wirkliche? Die Antwort auf diese Fragen, welche Kant hier findet, blieb für ihn eine endgültige: Raum und Zeit sind zwar von der sie erfüllenden ,,Materie" unabhängig, nicht aber vom erkennenden Geiste. Sie sind weder bloße Verhältnisvorstellungen (Leibniz) noch metaphysische Wesenheiten (Newton), sondern die Anschauungsformen unserer eigenen Sinnlichkeit, daher auch alles in ihnen Erscheinende den Gesetzen unseres Geistes gemäß sein muß. Daraus ergeben sich Folgerungen, welche im übrigen ganz in der Ebene der Leibnizischen Erkenntnistheorie liegen. Wenn Raum und Zeit nur allgemein menschliche Auffassungsformen des Wirklichen sind, so ist auch das in ihnen angeschaute Wirkliche nicht ein wahrhaft oder metaphysisch Wirkliches, sondern nur das phänomenale Gegenbild einer höchstens im reinen Denken zu erfassenden noumenalen Realität. So scheiden sich zwei

Welten entsprechend den beiden Zweigen unseres Erkenntnisvermögens: die Welt der Erscheinungen, entsprechend unserer Sinnlichkeit, und die Welt des wahren Seins, entsprechend unserem Verstande und unserer Vernunft.

Diese Gedanken sind niedergelegt in der 1770 erschienenen Inauguraldissertation, mit welcher Kant sein Amt als Professor antrat: „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis". Sie sucht durch klare Unterscheidungen zwischen Rationalismus und Empirismus zu vermitteln. Weder sind unsere Begriffe nur umgebildete Wahrnehmungen (wie der Sensualismus will), noch auch ist unser sinnliches Vorstellen bloß ein unklares und verworrenes Denken (wie der Rationalismus behauptet), sondern Sinnlichkeit und Verstand sind spezifisch und nicht bloß gradweise verschiedene Zweige unseres Erkenntnisvermögens. Die Sinnlichkeit als Organ der Erfahrung verhält sich ausschließlich passiv oder rezeptiv, der Verstand als Organ des Denkens verhält sich aktiv oder spontan. Damit durchkreuzt sich die (mit J. H. Lambert geteilte) Unterscheidung von Form und Stoff unserer Erkenntnis: Stoff der Sinnlichkeit sind die wechselnden Empfindungen, ihre Formen sind Zeit und Raum; Stoff der Verstandeserkenntnis sind die so geformten sinnlichen Vorstellungen, ihre eigenen Formen sind gewisse allgemeinste Begriffe (Kategorien), wie Möglichkeit, Dasein, Notwendigkeit, Substanz, Ursache u. dergl. samt ihren Korrelaten 23. Von Leibniz unterscheidet sich Kant hier vor allem darin, daß er diese Grundkategorien des Verstandes nicht als ,,angeborene Begriffe" (conceptus connati), sondern nur als in unserem Geiste ursprünglich angelegte Gesetze (leges menti insitae) gelten läßt, deren Kenntnis wir erwerben, indem wir den Handlungen unseres Geistes in seiner Bearbeitung des Erfahrungsstoffes aufmerksam folgen. Mit Leibniz aber verbindet ihn die platonisierende Scheidung der zwei Welten und die Voraussetzung, daß jenen Kategorien außer dem,,usus logicus" (in der Bearbeitung der Erfahrung) auch noch ein,,usus realis" zukomme, der gestatte, mit ihrer Hilfe in die Welt des wahrhaft Seienden einzudringen. So konnte Kant damals noch lehren, „daß die sinnlichen Vorstellungen die Dinge geben, wie sie erscheinen, die Verstandesbegriffe aber so, wie sie sind24." Die Dissertation von 1770 enthält so zwar bereits die neue Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit, welche zu einem wichtigen Bestandstück auch des kritischen Systems

werden sollte; sie selbst als Ganzes gehört aber noch keineswegs dem engeren Kreis der kritischen Schriften an, sondern zeigt vielmehr eine deutliche Rückbiegung zum Dogmatismus. Dem Kant der „Träume" gegenüber ist der Kant von 1770 — ihm selbst vielleicht unvermerkt wieder zum rationalistischen Dogmatiker geworden.

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Der eigentliche Durchbruch zum Kritizismus erfolgte vielmehr von ganz anderer Seite her und offenbar erst innerhalb jener elf Jahre, welche noch bis zum Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft" verstreichen sollten und über deren innere Entwicklung wir nur spärlich durch Kants Briefwechsel mit seinem früheren Hörer und späteren Freunde, dem Berliner Arzte Markus Herz, unterrichtet sind. Es war, wie Kant 1783 schrieb, die „Erinnerung des David Hume", welche ihm vor Jahren den viel berufenen „dogmatischen Schlummer“ unterbrach und seinen „Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab25". Mit dieser Erweckung konnte nicht die Wendung zum Empirismus gemeint sein, welche durch die Dissertation von 1770 bereits überholt war, noch auch das große Licht" von 1769 selbst, denn die Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit steht mit der ausdrücklich erwähnten Humeschen Kausalkritik in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Gefährdet war durch diese nun allerdings das an Leibniz neu erwachsene Vertrauen in die Möglichkeit reiner Vernunfterkenntnis des Übersinnlichen. Wenn es richtig ist, daß der Begriff von Ursache und Wirkung weder in der Vernunft noch in der Erfahrung eine zureichende Grundlage besitzt, sondern allein auf gewohnheitsmäßiger Erwartung beruht, und wenn sich Ähnliches auch von den anderen Verstandesbegriffen vermuten läßt, dann ist allerdings Metaphysik als Wissenschaft unmöglich. Kants neuer Versuch, zur intelligiblen Welt einen Zugang zu finden, läßt sich dann nicht halten und muß zugunsten des skeptischen Standpunktes der,,Träume" wieder aufgegeben werden. Diesen Schritt zurück zu tun, konnte Kant nicht allzu schwer fallen; in der Tat blieb er in der Verwerfung der Metaphysik als Wissenschaft mit Hume forthin durchaus einig. Ungleich empfindlicher für ihn war aber, daß ein folgerichtiges Durchdenken der Humeschen Kritik auch die Möglichkeit der exakten Physik in Frage stellen mußte. Und in der Tat: Hume mußte ja von seinem Standpunkte aus nicht nur die Metaphysik, sondern auch die ätiologische Naturwissenschaft verwerfen. Für ihn gibt es keine unverbrüch

lichen,,Naturgesetze", sondern nur empirische Regeln des Vorstellungsablaufs; keine Notwendigkeit im Naturgeschehen, sondern nur Tatsächlichkeit; keine Gewißheit, sondern nur Grade der Wahrscheinlichkeit; und daher auch keine „Erklärung“, sondern nur eine schlichte Beschreibung der Phänomene 26. Wenn Hume die Mathematik selbst davon ausgenommen hatte, weil er sie für bloße Begriffsanalyse hielt, so müßte zuletzt, wie Kant meint, die folgerichtige Durchführung des Empirismus auch ihre Apodiktizität in Frage stellen. Die Überzeugung von dem unangreifbaren Erkenntniswert der mathematischen Physik war aber für Kant in allem Wechsel philosophischer Richtungen unwandelbar festgestanden. Sie bedeutete für ihn, dem sich lebenslänglich in dem Namen Newton sozusagen die Wissenschaft selbst personifizierte, den stärksten theoretischen Halt seines Innern, den Stolz des menschlichen Geistes und - bisher wenigstens - den unverrückbaren Felsen, an dem sich jeder Skeptizismus brechen, vor dem aber auch jeder Mystizismus zurückweichen mußte. In diesem, allerdings nur in diesem Punkte war Kant immer aus tiefster Überzeugung Dogmatiker gewesen und ist es im Grunde auch immer geblieben 27. An der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Mathematik und reinen Naturwissenschaft hat er niemals gezweifelt. Nun schien aber im Gefolge des Empirismus der ,,härteste Skeptizismus selbst in Ansehung der ganzen Naturwissenschaft und damit ein „schrecklicher Umsturz" aller Wissenschaften zu drohen. Dabei schienen Humes Argumente keineswegs leicht von der Hand zu weisen, sondern im Gegenteil der ernstesten Überlegung wert zu sein. Kein Wunder, daß Kants Denken von dieser Seite her nun seinen mächtigsten Anstoß erhielt! Ob dabei ein nochmaliges Studium Humescher Werke eine Rolle gespielt hat oder ob schon früher aus ihnen aufgenommene und bisher gleichsam latent gebliebene Denkmotive nun erst wahrhaft wirksam wurden, ist nebensächlich. Sicher ist, daß Kant sich dadurch veranlaßt sah, zu einer erneuten Überprüfung seines zuletzt eingenommenen Standpunktes und weiterhin der gesamten Grundlagen unseres Wissens zu schreiten. Es galt nun für ihn, das Richtige, ja Unabweisliche der Humeschen Kritik mit der Erfüllbarkeit des Postulats notwendiger und allgemeingültiger Naturerkenntnis in Einklang zu bringen. Das ist zwar nicht die einzige und nicht die höchste, aber die nächste Aufgabe, welche durch den Kritizismus gelöst werden soll. Mag

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