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Enttäuschung seiner Hoffnungen durch die Entartung der französischen Revolution, nahmen Kants Ansichten darüber eine immer entschiedenere Wendung zum Pessimismus. Von,,sanguinischen Hoffnungen" auf ein immerwährendes Fortschreiten zum Guten will er nichts mehr wissen. Wenn er trotzdem an dem Glauben daran festhält, so geschieht es nicht im Sinne eines Fürwahrhaltens, sondern im Sinne einer Forderung an sich selbst. Eine absolute Verzweiflung an der Menschheit müßte ja unvermeidlich auch unsere Pflichterfüllung ihr gegenüber lähmen. Daher zwingt uns die Moral gewissermaßen, einen positiven Sinn der Geschichte zu bejahen, der aus diesem Grunde auch vorausgesetzt und gesucht werden muß, wenn ihn auch die empirische Geschichtswissenschaft nicht zu beglaubigen vermag. Daß die Welt im ganzen zum Besseren fortschreite, dazu berechtigt uns, heißt es bei Kant gelegentlich, keine Theorie, aber wohl die praktische Vernunft, welche nach einer solchen Hypothese zu handeln,,dogmatisch" gebietet und sie damit zu einer,,Theorie" von praktisch-moralischer Bedeutung erhebt. Ein besonnener Optimismus in Hinsicht der Zukunft unseres Geschlechts läßt sich so zwar nicht durch Beweise stützen, aber durch die Tat realisieren. Oder kurz: er ist eine Pflicht rüstiger Lebensauffassung 157.

Die Natur tut nichts umsonst. Daher dürfen wir auch annehmen, daß in dem scheinbar so,,widersinnigen Gange menschlicher Dinge" ein geheimer Plan verborgen liegt. Unserer Leitidee folgend, können wir daher der Natur gleichsam eine Absicht zuschreiben, nämlich die, auf allerlei Umwegen zuletzt doch die Entwicklung unserer Gattung zu einem vorher bestimmten Ziele zu lenken. Diese unbeweisbare Voraussetzung einer Art Naturvorsehung - wir würden sie heute eine ,,Als-Ob"-Betrachtung nennen findet darin eine gewisse empirische Stütze, daß die Natur (wie wenigstens Kant meint) allüberall die Anlagen ihrer Geschöpfe zu vollständiger Entfaltung bringt, wenn schon nicht im Individuum, so doch in der Gattung. Das Mittel, dessen sie sich dazu beim Menschen bedient, ist ein Antagonismus sozialer und antisozialer Instinkte. Es ist zwar wahrscheinlich, daß der Mensch schon von Natur ein geselliges Tier ist, wie Aristoteles meinte. Dem Triebe zur Vergesellschaftung wirkt aber ein Hang zur Isolierung

entgegen, weil es der natürlichen Trägheit widerspricht, sich im Zusammenleben mit anderen allerlei Widerständen auszusetzen und diese überwinden zu müssen. Dem beugt nun die Natur vor, indem sie dem Menschen Triebe einpflanzt, die zwar an sich ungeselliger Art sind, aber doch nur in der Gesellschaft befriedigt werden können. Sie heißen Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht. Sie sind es, welche den Menschen immer von neuem zur Behauptung und Messung seiner Kräfte in der Gesellschaft antreiben und ihn damit ohne, ja gegen seinen Willen zu ihrer Ausbildung und Steigerung zwingen.,,Ohne jene, an sich zwar nicht liebenswürdigen Eigenschaften... würden in einem arkadischen Schäferleben, bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe, alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben; die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zweckes, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist; sie will Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur will aber, er soll aus der Nachlässigkeit und untätigen Genügsamkeit hinaus, sich in Arbeit und Mühseligkeiten stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden, sich klüglich wiederum aus den letzteren herauszuziehen." So wie Bäume im Walde, woselbst sie den Wettstreit mit anderen zu bestehen haben, gewöhnlich schöneren Wuchs aufweisen als jene, die sich im Freien ungehindert entfalten können, versteht es auch die Natur durch den Kunstkniff, den Menschen durch seine eigenen Leidenschaften in die Gesellschaft zu bannen, in ihm Kräfte großzuziehen, deren er zur Erreichung seiner höheren Bestimmung dringend bedarf. Ein genügend hoher Standpunkt der Betrachtung läßt so auch im scheinbar Widersinnigen einen tiefen Sinn entdecken geradeso wie die Planeten, von der Erde aus gesehen, bald fort

gängig, bald stillstehend und wieder rückläufig erscheinen, während sie vom Standpunkt der Sonne aus einen regelmäßigen Gang zeigen 158.

Die Natur selbst ist also die Führerin und Erzieherin der Menschheit bis zu dem Punkte, bei dem sie reif wird, sich von ihrer Herrschaft zu befreien und ihre Weiterbildung selbst in die Hand zu nehmen. Dazu zwingt sie gleichsam durch den Gang dieser Entwicklung. Der Antagonismus der Kräfte bewirkt nämlich zwar eine zunehmende Kultivierung (colere) aller Anlagen, aber mit ihr schwindet auch in gleichem Maße das natürliche Behagen, die Zufriedenheit und die Eintracht unter den Menschen. Darin hat Rousseau ganz recht: die Kultur als solche macht den Menschen weder glücklicher noch tugendhafter. Im Gegenteil: Torheit, Eitelkeit, Verstellung, Bosheit und das ganze Heer eingebildeter Bedürfnisse sind spezifische Eigenschaften des Menschen, welche dem Tiere fehlen und mit steigender Kultivierung immer mehr wachsen. Die vorsehende Natur hat aber auf jenem unebenen, für das Wohlbefinden des einzelnen keineswegs förderlichen Wege des aufpeitschenden Wettstreites mit der Entwicklung der übrigen Anlagen auch die Vernunftanlage im Menschen geweckt. Damit hat sie aber auch die Möglichkeit geschaffen, jenen Übeln bis zu gewissem Grade zu begegnen. Die vernünftige Überlegung führt nämlich notwendig zu einer freiwilligen Selbstbeschränkung der Willkür und damit zur Staatenbildung. Damit tritt der Kultivierung die Zivilisierung an die Seite: die Einschränkung des hemmungslosen Eigenwillens durch den wohltätigen Zwang des Gesetzes. Aufgabe des Staates ist, wie schon die Deduktion a priori gezeigt hat, auch seiner Entstehung nach nichts anderes als die Aufrichtung und Erhaltung der Rechtsordnung und Rechtssicherheit, womit allein die freie Bewegung jedem einzelnen nach Möglichkeit gesichert wird. Selbst ein,,Volk von Teufeln" müßte zuletzt auf eine solche zwangsweise Rechtsordnung verfallen, vorausgesetzt nur, daß ihr Verstand genügend entwickelt ist, um das für ihr eigenes Wohl Notwendige zu erkennen. Der Rechtsstaat ist so das erste Werk der Freiheit, aber vorbereitet durch eine lange und schwere Lehrzeit. Daher ist er zugleich ein Produkt der Not und trägt die Spuren dieses seines Ursprungs auch

nur allzu deutlich an sich. Denn, wenn nun auch die einzelnen Staatsbürger unter sich in einem erträglich friedlichen Zustande leben, so besteht doch zwischen den Staaten untereinander der gesetzlose Urzustand weiter. Seine Folge sind die beständigen Kriege, welche nicht nur durch sich selbst, sondern auch durch die beständige Vorbereitung, welche sie erfordern, die Kräfte der Völker erschöpfen und wirkliche Kulturarbeit hindern. Das Völkerrecht, welches die Beziehungen der Staaten in und nach dem Kriege regeln soll, kann zwar verlangen, daß jeder Krieg nach solchen Grundsätzen geführt werde, daß immer ein Friede möglich bleibe, der nicht wieder den Keim zu neuen Kriegen enthält. Da über ihm aber keine souveräne Gewalt steht, welche seine Bestimmungen erzwingen könnte, so muß es gewalttätigen Staaten gegenüber notwendig machtlos bleiben. Derselbe Vorgang, welcher die Menschen allmählich aus Herdentieren zu Staatsbürgern machte, ist aber auch hier am Werke. Die Unerträglichkeit des beständigen Kriegszustandes muß endlich die Vernunft zu einer Abhilfe zwingen. Insofern also der Krieg selbst der Anlaß wird, daß die Staaten auch unter sich einem „,bürgerlichen“ Zustande zustreben, kann auch er als ein,,Maschinenwesen der Vorsehung" gelten. Ein solcher Zustand kann aber nur in einem Staatenvereine oder allgemeinen Völkerbunde seine Verwirklichung finden. Sein Ideal wäre ein allgemeiner Völkerstaat, der zuletzt alle Völker der Erde in gleicher Weise unter Gesetzen zu vereinigen berufen wäre wie der Einzelstaat alle seine Bürger. Da seine Verwirklichung aber bis auf weiteres ja doch an dem Souveränitätsdünkel der Einzelstaaten scheitern würde, so müßte wenigstens in einem immer mehr sich ausbreitenden Friedensbunde ein Ersatz für ihn geschaffen werden. Möglich ist ein solcher nur unter Voraussetzung einer republikanischen Verfassung der Staaten. Denn nur dort, wo die Völker über ihr eigenes Wohl und Wehe mitzubeschließen haben, besteht wie Kant wenigstens meinte eine Gewähr dafür, daß Angriffs- und Präventivkriege ein für allemal unterbleiben, während in despotischen Staatsformen, wo sich das Oberhaupt gleichsam als Staatseigentümer fühlt, die Fürsten den Krieg,,wie eine Art von Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen beschließen und der Anständig

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keit wegen dem dazu allezeit fertigen diplomatischen Korps die Rechtfertigung desselben gleichgültig überlassen" können. Unter dieser Voraussetzung wäre dann auch die Idee eines ewigen Friedens keine bloße Utopie mehr. Mag sie in Anbetracht der gegenwärtigen Weltlage auf den ersten Blick auch überschwenglich erscheinen, so ist sie doch eine notwendige Idee der Vernunft und ihr nachzustreben daher unsere Pflicht: Wir müssen so handeln, als ob das Ding (der ewige Friede) sei, was vielleicht nicht ist, auf Begründung desselben und diejenige Konstitution, die uns dazu die tauglichste scheint (vielleicht den Republikanismus aller Staaten samt und sonders), hinwirken, um ihn herbeizuführen und dem heillosen Kriegführen, worauf, als den Hauptzweck, bisher alle Staaten ohne Ausnahme ihre inneren Anstalten gerichtet haben, ein Ende zu machen." Von der republikanischen Denkart in Verbindung mit der Ausbreitung des Handels und Verkehrs unter den Völkern erwartet Kant auch ein allmähliches Emporkommen einer wahrhaft weltbürgerlichen Gesinnung, während das sogenannte Weltbürgerrecht nicht mehr als ungehinderte Freizügigkeit in allen Staaten verlangen kann. Der Weg zur Lösung dieser großen Aufgabe kann nicht plötzlich und auf einmal gefunden werden. Sie ist ein Ideal, welches uns die Vernunft vorsteckt, dem wir uns aber nur in dem Maße zu nähern vermögen, als wir in uns selbst die Bedingungen seiner Verwirklichung schaffen. Höher als Kultivierung und Zivilisierung der Menschheit steht daher ihre allmähliche Moralisierung. Alle äußeren Verbesserungen vermögen nur die Legalität des Tuns allmählich zu steigern, moralisieren kann jeder nur sich selbst. Jeder einzelne ist daher berufen, an jenem Endziele mitzuwirken, indem er das Sittengesetz immer mehr in sich zur Geltung bringt. Denn in einer Menschheit, deren Gesamtwille auf die Realisierung des Guten eingestellt ist, haben Zwietracht und Krieg von selbst den Boden verloren 159.

Das wirksamste Mittel, der Vernunft auch im öffentlichen Leben allmählich zum Durchbruche zu verhelfen, ist die Aufklärung der Menschheit. Aufklärung bedeutet nach Kants klassischer Definition den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Unmündigkeit wird erklärt als das Unver

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