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werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte. das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat." Diese rein formalistische Strafrechtslehre nimmt so weder Rücksicht auf den Beweggrund eines Verbrechens, noch auf die Wirkung der Strafe. Das Strafgesetz bedeutet für Kant einen ,,kategorischen Imperativ", der allen,,Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre" entzogen bleiben muß. Daher gesteht er dem Staatsoberhaupte auch kein Begnadigungsrecht zu, es sei denn, daß es in seiner eigenen Person verletzt wurde. Das,,fiat justitia et pereat mundus“ besteht nach ihm durchaus zu Recht, denn ,,wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben" 154.

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Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen". Die einzige Bestimmung des Staates und der Sinn aller Staatengründungen ist also die Wahrung des Rechtes dieses ,,Augapfels Gottes", wie es Kant einmal nennt und die Pflege der Gerechtigkeit. Kein anderer Zweck, also auch nicht die Beförderung des Wohles einzelner oder größerer Gruppen darf dem vorhergehen oder gar ihm in den Weg treten. Einer Geschichtsurkunde der Staatenbildung nachzuspüren ist vergeblich, denn in primitiven Zeiten entwirft man keine Dokumente, sondern handelt gewaltsam. Der Idee nach beruht jedoch der Staat auf einem stillschweigenden Vertrage, nach welchem alle Glieder eines Volkes ihre Freiheit aufgegeben haben, um sie als Bürger eines Staates in höherer Form wiederzugewinnen. Folgt Kant hierin den Theorien des Hobbes und Rousseau, so übernimmt er von Locke die Forderung einer Teilung der drei Gewalten im Staate: der gesetzgebenden, regierenden und richterlichen Gewalt, welche ebenso viele Staatswürden bedeuten. Die gesetzgebende Gewalt kann von Rechts wegen nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, ist einem möglichen Unrecht nur dann vorgebeugt, wenn jeder die Gesetze, denen er gehorchen soll, im Prinzipe selbst beschließt: volenti non fit injuria! Der moralischen Autonomie entspricht also auch die politische: jeder ist nur den Gesetzen unterworfen, die er als Glied der gesetzgebenden Gewalt sich selbst gegeben hat. Die zur Ğe

setzgebung berufenen Glieder einer Gesellschaft heißen Staatsbürger. Nicht dazu berufen sind alle jene, welche auch sonst keine bürgerliche Selbständigkeit genießen: Unmündige, Lehrlinge und Gesellen, Dienstboten und Hilfsarbeiter und,,alles Frauenzimmer". Diese heißen zum Unterschiede von den Staatsbürgern bloß Staatsgenossen. Die gesetzlichen Attribute des Staatsbürgers sind Freiheit, Gleichheit und bürgerliche Selbständigkeit. Freiheit besagt, daß Zwang nur geübt werden darf zur Sicherung des Rechtes, aber nicht wie in einer patriarchalischen Herrschaft über Unmündige zu irgendwelchen anderen Zwecken, und wäre es auch in vermeintlichem Wohlfahrtsinteresse. Gleichheit besagt, daß alle nur dem Gesetze, diesem aber alle in gleicher Weise unterworfen sind. In diesem Punkte darf es keine sozialen Unterschiede, kein Vorrecht der Geburt und keine ständischen Privilegien geben. Erblicher Herrenstand und Leibeigenschaft lassen sich mit dieser Grundforderung natürlich nicht vereinen. Selbständigkeit besagt, daß jeder Bürger vor dem Gesetze Herr seiner selbst ist und in Rechtsangelegenheiten von keinem anderen vertreten zu werden braucht. Die ausübende Gewalt kann dann ebensowohl bei einem Monarchen stehen wie bei einem Regierungskollegium. Die richterliche Gewalt kann von freigewählten Geschworenen oder durch Richter, welche vom Regenten eingesetzt werden, ausgeübt werden. Mag für das Wohl eines Volkes unter Umständen in einer despotischen Regierungsform besser gesorgt sein, das Heil des Staates ist nur bei der Teilung und entsprechendem Zusammenwirken der drei Gewalten gesichert. Nur sie gewährleistet die größte Übereinstimmung einer Verfassung mit Vernunftprinzipien, nach welcher zu streben uns der kategorische Imperativ verbindet. Eine Staatsform dieser Art nennt Kant,,republikanisch". Ihr Kennzeichen ist, daß das Volk sein eigener Gesetzgeber und insofern selbstherrlich oder,,souverän“ ist. Er unterscheidet sie ausdrücklich von der Demokratie, in der gesetzgebende und regierende Gewalt im Volke unmittelbar vereint sind. Diese letztere Form erscheint ihm wahrer Freiheit noch ungünstiger zu sein als Autokratic oder Aristokratie, in denen Einer oder einige Wenige Träger der gesamten Macht sind. Für die beste Staatsverfassung hält Kant das Repräsentativsystem durch Abgeordnete, aber

mit nur einem Regenten als ausführendem Organ. Je kleiner die Zahl der Regierenden und je größer die Zahl der Volksvertreter, desto mehr stimmt die Verfassung zum Geiste des Republikanismus. Eher noch kann die absolute Monarchie, wenn der Herrscher danach ist (Kant denkt dabei an Friedrich II.), diesem Geiste nahekommen als die demokratische Vielherrschaft, an der die alten Republiken zugrunde gingen und dann neuerdings dem Despotismus verfielen. Kants Sympathie gehörte der Verfassung der Vereinigten Staaten, während die englische,,Republik" bloßer Schein sei, da dort der König gegen den Willen des Volkes viele Kriege geführt habe. Eine schlechterdings ideale Staatsverfassung gibt es aber überhaupt nicht und wird es niemals geben, denn,,aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden". Daher betont Kant bei aller Freiheitsliebe doch stets stark die Pflicht des Gehorsams gegenüber der rechtlich bestehenden Staatsgewalt. Es gibt hier kein Recht der Auflehnung und der richtige Weg zum Fortschritt ist nicht jener der Revolution, sondern der durch allmähliche Reformen angebahnten Evolution. Als Pessimist in Hinsicht der menschlichen Naturveranlagung mißtraut Kant jedem gewaltsamen Durchbrechen gegebener Schranken, als der Ethiker des kategorischen Imperativs miẞbilligt er die Hintansetzung gesetzmäßiger Verpflichtungen. Seine politischen Anschauungen müssen aber gleichwohl als sehr radikal gelten in einer Zeit des blühendsten Absolutismus, einer unerträglichen Willkürherrschaft der Fürsten, strenger ständischer Gliederung und der Knebelung jeder freieren Meinungsäußerung, wie sie Kant unter dem Ministerium Wöllner ja am eigenen Leibe erfahren mußte. Stand doch schon sein Begriff der Menschenwürde in stärkstem Gegensatze zu der mechanistischen Auffassung des Verhältnisses der Untertanen zur Obrigkeit in einer Zeit, in der nicht nur die Leibeigenschaft noch immer bestand, sondern auch an manchen deutschen Fürstenhöfen auch der Soldatenhandel blühte. Wenn der starre Formalismus der Kantischen Strafrechtslehre, von Hegel wieder aufgenommen, auf die Rechtsauffassung des neunzehnten Jahrhunderts vielfach ungünstig eingewirkt hat, so wurden dafür seine politischen Lehren zu einem mächtigen und weithin wirkenden Faktor politischer und sozialer Entwicklung 155.

3. PHILOSOPHIE DER GESCHICHTE

Geschichtsphilosophische Probleme haben Kant schon frühzeitig beschäftigt. Seine Gedanken darüber hat er in einer Anzahl kleinerer Schriften niedergelegt:,,Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784), „Was ist Aufklärung?" (1784),,,Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte" (1786), „Zum ewigen Frieden" (1795), „,Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“ (zweiter Abschnitt des,,Streites der Fakultäten" 1798). Auch in der,,Kritik der Urteilskraft", der ,,Rechtslehre", der ,,Anthropologie" und in den Rezensionen zu Herders „,Ideen“ (1785) finden sich hierher gehörige Bemerkungen. Die Frage, welche Kant hier vor allem beschäftigt, ist die nach einem Sinn der Menschheitsgeschichte. Läßt sich in ihr ein allmähliches Fortschreiten zum Höheren entdecken oder ist sie nur eine ewige Wiederholung des Gleichen, ein sinnloses Spiel unberechenbarer Naturmächte? Großen Naturforschern ist es gelungen, das Weltgeschehen aus allgemeinen Gesetzen zu erklären; für die Menschheitsgeschichte fehlen uns noch die Kepler und Newton, welche imstande wären, sie unter einem großen und umfassenden Gesichtspunkte zu verstehen. Kants selbstgestellte Aufgabe ist es, einen solchen Grundgedanken aufzufinden und damit den Grund zu einer Philosophie der Geschichte zu legen, welche die Geschichtswissenschaft nicht zu verdrängen oder zu ersetzen, wohl aber ihr zur Orientierung zu dienen berufen wäre 156.

Dem flüchtigen Blick bietet das Tun und Treiben der Menschen zu verschiedensten Zeiten den Eindruck gänzlicher Sinn- und Zwecklosigkeit dar. Zeigt doch sogar die Statistik, daß scheinbar ganz der freien Bestimmung unterliegende Handlungen, wie z. B. die Eheschließungen, in einer naturgesetzlichen Regelmäßigkeit stattfinden. Gleichwohl will Kant einen ,,Abderitismus" der Geschichte im Sinne eines beständigen, von zeitweisem Stillstand unterbrochenen Auf- und Abschwankens zwischen besseren und schlechteren Zuständen nicht gelten lassen. Er würde die Geschichte zu einem bloßen,,Possenspiel" herabwürdigen, wogegen sich die Vernunft ebenso sträubt wie das Freiheitsbewußtsein des Menschen. Da uns die Erfahrung hier im Stiche läßt, bleibt nur übrig, es mit einer Idee

zu versuchen und den Lauf der Geschichte so zu betrachten, als ob in ihr ein Plan der Natur wirksam sei, der einen allmählichen Aufstieg unseres Geschlechts bewirke. Es erscheint dies zwar zunächst als ein,,befremdlicher und ungereimter Anschlag", dem Weltlaufe gleichsam vorzuschreiben, wie er gehen müßte, um vernünftigen Zwecken angemessen zu sein und eher einem Roman als einer Geschichte zu entsprechen. Wenn aber der Leitfaden einer solchen Idee bewirken kann, daß aus einem bloßen Aggregat von Tatsachen wenigstens im großen ein System werde, so hat er seine Aufgabe erfüllt. Wenn diese Idee außerdem geeignet ist, uns der in ihr ausgesprochenen Endabsicht selbst näher zu bringen, so bewährt sie sich durch die Tat. Kants Grundgedanke ist nun, daß die Geschichte den Fortschritt der Menschheit von einem naturhaften Urzustande zu der von Vernunft geleiteten Selbstbestimmung des Menschen als eines moralischen Wesens bedeutet: also den Weg von der Natur zur Vernunft, von der Notwendigkeit zur Freiheit. Von Natur aus ist ja auch der Mensch nur ein mit Vernunftfähigkeit begabtes Tier (animal rationabile); zum Vernunftwesen (animal rationale) muß er sich selbst machen. Dieses bewußte Eingreifen in seine eigene Entwicklung bedingt den Übergang vom natürlichen in den eigentlich geschichtlichen Zustand. Die,,Geschichte" beginnt somit dort, wo der Mensch aus dem Dunkel der Naturverbundenheit in das Licht freier Selbstbestimmung heraustritt. Geschichte ist somit ihrem Wesen nach Freiheitsgeschichte, welche aus der menschlichen Naturgeschichte hervorgeht, sie aber auch hinter sich zurückläßt. Daß damit auch tatsächlich ein Fortschritt zum Besseren stattfinde, läßt sich allerdings schwer erweisen:,,Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr (der Menschen) Tun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht; und bei hin und wider anscheinender Weisheit im einzelnen doch endlich alles im großen aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet, wobei man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer auf ihre Vorzüge so eingebildeten Gattung für einen Begriff machen soll." Mit zunehmendem Alter, zumal nach der

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