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die in der moralischen Sphäre ebenso notwendig ist als jene, indem sie die unantastbaren Grenzen persönlicher Freiheit wahrt und, so der Liebe wohltätig entgegenwirkend, ihr zugleich Dauer verleiht. Mag eine,,moralische" Freundschaft dieser Art auch so selten vorkommen wie ein schwarzer Schwan, so ist sie doch möglich und bedeutet dann den Höhepunkt geselliger Tugend. Sie selbst zu üben und zu besitzen war wohl das stärkste Gemütsbedürfnis, das in unserem Philosophen lebte 151.

Damit ist der Umkreis von Pflichten unmittelbarer Art erschöpft. Die Pflichten, welche uns die Religion Gott gegenüber aufzuerlegen scheint, nämlich die Betrachtung unserer Pflichten überhaupt als göttlicher Gebote, verpflichten uns in Wahrheit nicht gegen Gott, sondern nur gegen uns selbst, insofern jene Auffassung für das eigene sittliche Leben überaus fruchtbar werden kann. So betrachtet werden alle Pflichten zu Pflichten in Ansehung Gottes, während Gott selbst, als für unsere Einsicht schlechthin transzendent, nicht Objekt einer Verpflichtung sein kann. Ebensowenig gibt es Pflichten gegen Tiere und leblose Gegenstände. Mutwillige Zerstörung von Naturschönheiten ist nur deshalb unzulässig, weil sie eine der Moralität günstige Stimmung, nämlich etwas ohne Absicht auf Nutzen zu lieben, beeinträchtigt. Aber auch die gewaltsame oder grausame Behandlung von Tieren gilt nur deshalb als verboten,,,weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und folglich eine der Moralität, im Verhältnis zu anderen Menschen, sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird." Die Humanität gegen Tiere ist somit nur eine Pflicht in Ansehung der Tiere, aber keine eigentliche Pflicht ihnen gegenüber, sondern nur eine solche gegen uns selbst. Tierquälerei ist nur deshalb pflichtwidrig, weil sie unmenschlich ist. Daß Kant so die Tiere wie Sachen behandelt und ihnen nur auf einem Umwege einigen Schutz zubilligt, hat Schopenhauers Unwillen in besonderem Maße erregt. Er findet diese Sätze,,empörend und abscheulich". In der Tat bedeutet es eine fühlbare Enge der Kantischen Moral, daß sie so ausschließlich nur auf das Zusammenleben der Menschen abgestimmt ist und die Vernunft nicht nur zur Richterin, sondern auch zur einzigen Quelle moralischer

Verpflichtung erhebt. In Wahrheit ist aber der Unterschied von Schopenhauer in diesem Punkte nicht so groß. Wenn dieser das Mitleid zum alleinigen Fundament der Moral macht, so stimmt Kant gerade in Hinsicht der Tiere mit ihm durchaus überein, nur daß für ihn das Mitleid eine bloß untergeordnete Rolle spielt und in seiner reinen Vernunftmoral nicht als verpflichtend angesehen wird. Mit dieser Einschränkung hat Kant auch die Dankbarkeit gegen Tiere zu den indirekten Pflichten gerechnet, wie er denn auch gelegentlich rühmend hervorhebt, daß Leibniz ein Insekt, welches er durch das Mikroskop beobachtet hatte, wieder schonend auf sein Blatt zurückzubringen pflegte, weil er sich durch seinen Anblick belehrt gefunden und so von ihm gleichsam eine Wohltat genossen hatte152.

Es liegt in der Natur der Sache, daß in dieser angewandten Ethik, der Einhaltung strengsten Formalismus ungeachtet, mehr der Mensch Kant zu uns spricht als der Philosoph und zwar der schon gealterte und in seiner Eigenart erstarrte Kant. Daraus erklärt sich manche Wunderlichkeit, wie sie besonders in der Erörterung,,kasuistischer Fragen", welche in der Tugendlehre einen breiten Raum einnehmen, zum Vorschein kommt. In der äußersten Zuspitzung von Fällen moralischen Zwiespaltes meinte Kant offenbar seine Prinzipien am besten erproben zu können. Es werden da neben anderen oft ganz sonderbare Fragen aufgeworfen: z. B. ob das Haarschneiden nicht als „,partialer Selbstmord" zum Verbrechen an seiner eigenen Person gerechnet werden müsse, was wenigstens für den Fall glücklicherweise verneint wird, wenn es nicht zum Zwecke des Verkaufes der Haare geschieht; ob die Pockenimpfung (welche Kant für lebensgefährlich hielt) erlaubt sei? wie weit die sittliche Befugnis gehe, Einladungen anzunehmen, bei denen möglicherweise den Tischfreuden (welchen er selbst nicht abgeneigt war) zu ausgiebig gehuldigt werden. könnte? ob schon die Redewendung,,gehorsamster Diener" am Ende eines Briefes als Lüge zu verwerfen sei? und ähnliches mehr. In einer eigenen kleinen Schrift: „Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen" (1797) wird die Frage erörtert, ob man einen unschuldig Verfolgten vor seinen Mördern durch eine Notlüge retten dürfe? Sie wird verneint, weil Wahrhaftigkeit eine vollkommene Pflicht gegen uns selbst sei, welche unter keinen Umstän

den, auch nicht einmal aus eigener Notwehr, durchbrochen werden dürfe. Auf die pedantische Strenge solcher Entscheidungen trifft nun allerdings der Vorwurf des „Rigorismus" in tadelndem Sinne zu. Er ist aber nicht in den Prinzipien der reinen Ethik begründet, sondern nur in ihrer übertrieben formalistischen Anwendung.

2. RECHTS- UND STAATSLEHRE

Von der Rechtsgelehrsamkeit oder Jurisprudenz, deren Aufgabe die Festsetzung der positiven Bestimmungen ist, welche unter gewissen zeitlichen und örtlichen Bedingungen als Recht zu gelten haben, unterscheidet sich die Rechtsphilosophie durch die grundsätzliche Allgemeinheit ihrer Probleme. Sie hat den Begriff und das Wesen des Rechtes überhaupt festzustellen und damit erst die rationale Grundlage für alle positiven Rechtsbestimmungen zu schaffen. Sie handelt also nicht von dem, was hier oder dort als Recht gilt, sondern von dem, was immer und überall als Recht gelten soll. Dieser Anspruch gründet sich darauf, daß die Rechtspflichten ebenso wie die Tugendpflichten aus der Natur des Menschen als eines vernünftigen Wesens folgen. Dieses auf Vernunftprinzipien gegründete Recht heißt daher Naturrecht im Unterschied vom positiven oder empirisch bedingten Recht. Die erste Frage einer philosophischen Rechtslehre wird also sein: Was ist Recht"? Rechtspflichten beziehen sich nur auf äußere Handlungen und sind erzwingbar. Das ihnen entsprechende Verhalten ist daher nur die Legalität des Tuns, nicht die Moralität der Gesinnung. Erst mittelbar, wenn nämlich die Ethik die Forderung an mich stellt, das Rechthandeln unter meine Maximen aufzunehmen, gewinnen auch sie moralische Bedeutung.

Das Recht entspringt einer Selbstbehauptung des Freiheitsgesetzes der Vernunft gegenüber den Gefahren, welche der Freiheit jedes einzelnen im ungeordneten Naturzustande drohen. Die natürliche Freiheit des Menschen besteht in dem Vermögen jeder Person, nach ihrem Gutdünken zu handeln, soweit ihre Macht reicht, also in der Willkür. In einer ungehemmten Betätigung dieser Willkür liegt aber die Gefahr, daß die Freiheitssphären sich gegenseitig stören, einander feindlich entgegentreten und sich so zuletzt gegenseitig aufheben. Daher verlangt die Vernunft, daß jeder

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einzelne, um seine äußere Freiheit nicht vielleicht ganz einzubüßen, seine Willkür in gewisse Grenzen einschließe. welche auch der Willkür der anderen den gleichen Spielraum gestatten. Die Behauptung dieser durch die Vernunft abgegrenzten Sphäre der Freiheit ist sein Recht, die Anerkennung und Achtung der fremden Freiheitssphären ist seine Pflicht. Ohne diese Pflicht gibt es kein Recht, ohne Recht keine gesicherte Freiheit. Diese notwendige Einschränkung zu vollziehen ist also die Aufgabe des Rechtes mit seinen für alle verbindlichen Gesetzen. Daraus ergibt sich die Definition: „Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigt werden kann." Die formale Harmonisierung der Freiheitsansprüche ist also der Sinn alles Rechtes. Die von dem römischen Rechtslehrer Domitius Ulpianus (c. 170 p.) aufgestellte Grundformel des Rechtes:,,honeste vive, neminem laede, suum cuique tribue !" enthält so tatsächlich den Inbegriff aller Rechtspflichten. Sie läßt sich etwa so aussprechen: Wahre dein persönliches Recht! tue niemandem unrecht! befördere, soviel an dir liegt, die Gerechtigkeit, welche jedem das Seine sichert! Kant folgt, was den Ursprung des Rechtes betrifft, hier im wesentlichen den Lehren des Hobbes vom Heraustreten aus dem status naturalis des bellum omnium contra omnes in den status civilis auf Grund vernünftiger Überlegung. Aber doch mit dem Unterschiede, daß bei Hobbes utilistische Klugheitsgründe den Ausschlag geben, bei Kant aber der moralische Gesichtspunkt der Freiheitswahrung bestimmend wirkt 158.

Die näheren Ausführungen Kants besitzen den Vorzug genauer Begriffsbestimmungen und übersichtlicher Einteilung. Rechte und Rechtspflichten bestehen dem Wesen des Rechtes entsprechend nur zwischen Menschen. Insofern ist alles Recht ursprünglich Privatrecht oder,,natürliches" Recht. Das,,bürgerliche" oder öffentliche Recht ist erst im Staate möglich, der über die Machtmittel zur Erzwingung der Rechtspflichten verfügt. Hier ist es der Gesamtwille einer organisierten Gemeinschaft von Menschen, der hinter dem Rechte steht und so auch das Privatrecht erst wirksam macht. Der äußere Gegenstand

meiner Willkür kann nun entweder ein Gegenstand im Raume oder die bestimmte Leistung einer anderen Person oder endlich eine Verbindung von beiden sein. Demgemäß zerfällt das Privatrecht in Sachenrecht, persönliches Recht und dinglich persönliches Recht. Am interessantesten ist, was Kant über das Eherecht zu sagen weiß, das zu der letzten Gruppe gehört. Das dinglich-persönliche Recht ist das des Besitzes eines äußeren Gegenstandes als einer Sache und zugleich dessen Gebrauches als einer Person. Sachenrechtlich genommen ist die Ehe nichts anderes als ,,die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften". Insofern wird also von jedem Ehegatten durch den anderen wie von einer Sache Besitz ergriffen. Da dieser Erwerb aber ein gegenseitiger ist, gewinnt jeder von ihnen sich selbst wieder zurück, womit die Freiheit und Würde der Persönlichkeit gewahrt bleibt und das Sachrecht in ein persönliches Recht übergeführt wird. Als sehr zart und feinsinnig wird man diese Auffassung der Ehe freilich nicht bezeichnen können. Das öffentliche Recht ist ,,der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen". Es zerfällt in das Staatsrecht, das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht. Die wichtigste und fast einzige Aufgabe des Staates ist die Wahrung der Gerechtigkeit. Ihr dient das Strafrecht. Hier sind Kants Anschauungen von der äußersten Strenge. Weder die Abschreckungs- noch die Besserungstheorie, noch auch den Gesichtspunkt des Schutzes der Gesellschaft läßt er gelten, sondern allein das Wiedervergeltungsrecht (jus talionis) in den Grenzen des Gesetzes. Soweit als irgend möglich muß hier die Strafe nach Qualität und Quantität dem Vergehen entsprechen. Daher muß auch über jedem, auch dem in guter Absicht geschehenen Mord unausweichlich die Todesstrafe stehen. Denn zwischen einem noch so kummervollen Leben in der Gefangenschaft und dem Tode gibt es kein Äquivalenzverhältnis.,,Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinanderzugehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet

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