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zelnen. Im Begriffe der Pflicht und der Menschenwürde hatte er allerdings auch schon bei Kant eine etwas konkretere Färbung angenommen. Immerhin war aber die reine Ethik bemüht, das Sittengesetz nur in der ganzen Würde seiner Apriorität zu entwickeln, ohne auf die besondere Natur des Menschen, wie sie durch Erfahrung erkannt wird, weiter Rücksicht zu nehmen. Sie ist ihrem Wesen nach eine Wissenschaft von den Prinzipien der Moral, nicht eine Morallehre, welche uns sagt, was wir tun und lassen sollen. Eine solche gibt Kant in den,,Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre" (1797), welche später mit den etwas früher im gleichen Jahre erschienenen,,Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre" zur,,Metaphysik der Sitten" vereint wurden. Durch die Aufnahme eines empirischen Elementes, nämlich der Rücksicht auf die Natur des Menschen, wird dieses Werk zu einem,,Gegenstück" der,,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" und verhält sich zur ,,Kritik der praktischen Vernunft" ebenso, wie jene sich zur „Kritik der reinen Vernunft" verhalten. Seine Ergänzung würde eine ,,moralische Anthropologie" bilden, welche die subjektiven Bedingungen der Ausführung des Gesetzes zum Gegenstande hätte. Dem ethischen Grundprinzip entsprechend ist die Metaphysik der Sitten eine Lehre von den Pflichten. Hat man dabei nur die Legalität, also die äußere Übereinstimmung unserer Handlungen mit dem Gesetz im Auge, so ergeben sich die juridischen Pflichten. Richtet man aber die Aufmerksamkeit auf die Triebfedern der Gesetzeserfüllung, also auf die pflichtgemäße Gesinnung, so ergeben sich die ethischen Pflichten. Der charakteristische Unterschied beider ist, daß die Erfüllung der Rechtspflichten durch äußere Nötigung erzwungen werden kann, jene der ethischen Pflichten aber dem freien Willen des Einzelnen überlassen bleibt. Dasjenige nun, wozu uns die letzteren verbinden, ohne uns dazu zwingen zu können, ist die pflichtgemäße Gesinnung. Die im Kampfe gegen Versuchungen bewährte Gesinnungsfestigkeit aber heißt Tugend:,,Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht." Nennt man den entschlossenen Widerstand einem starken Gegner gegenüber ,,Tapferkeit", so ist Tugend sittliche Tapferkeit und bedeutet als solche,,die größte und einzige wahre

Kriegsehre des Menschen". Die wahre Tugend ist daher nur eine, und wenn wir von einer Mehrheit von Tugenden sprechen, so meinen wir damit nur die Anwendung der einen Tugend auf verschiedene Gegenstände. Pflichtenlehre unter dem Gesichtspunkte der Gesinnungstüchtigkeit ist also Tugendlehre. Der in der reinen Ethik begründete, übrigens schon bei den Stoikern vorgebildete Gegensatz von Legalität und Moralität scheidet somit die ,,Rechtslehre" von der ,,Tugendlehre" 148.

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Als das einzige uns bekannte Subjekt sittlichen Handelns ist der Mensch auch dessen eigentlich einziges Objekt. Die Frage ist nun, welcher Art die Verpflichtungen gegenüber der Menschheit sind, welche uns das Sittengesetz auferlegt. Historisch bieten sich da wieder die zwei bekannten Typen von Moralsetzung dar: der ethische Empirismus nennt die Glückseligkeit des Menschen, der Rationalismus dessen Vollkommenheit als moralischen Zweck. Im ersten Fall fehlt eine deutliche Abgrenzung des eigenen Wohls vom Wohle der Gesamtheit:,,Alle Eudaimonisten - sagt Kant einmal sind praktische Egoisten." Im zweiten Fall tritt das soziale Moment in der Berücksichtigung der anderen von vornherein ungebührlich zurück. Kant vollzieht auch hier eine kritische Synthese: als Zwecke, die zugleich Pflichten sind, können nur die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit gelten. Nicht die eigene Glückseligkeit: denn diese strebt jeder von selbst an. Nicht fremde Vollkommenheit: denn diese, welche in der rechten Gesinnung besteht, kann jeder nur sich selbst geben. Demgemäß teilen sich die Pflichten in Pflichten gegen sich selbst und in Pflichten gegen andere. Gemeinsam ist beiden als oberste Instanz und ,,innerer Gerichtshof" das Gewissen: ein unfehlbarer, aber auch ein unbestechlicher Richter, der nie irrt, nie ungerecht und nie weitherzig ist. Es kann vorkommen, daß man in einem bestimmten Falle etwas für Pflicht hält, was nicht Pflicht war. Ein solcher Irrtum fällt aber dem Urteile zur Last, nicht der Gesinnung, und hebt daher deren moralischen Wert nicht auf. Das Gewissen sagt mir aber mit unbeirrbarer Strenge, ob in diesem Falle meine Absicht rein war. Darauf allein aber kommt es an und darüber gibt es keinen Irrtum. Daher ist das erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst die Schärfung

der Aufmerksamkeit auf die Stimme des Gewissens. Das Mittel dazu ist sorgsame Selbstprüfung, welche so den Anfang aller menschlichen Weisheit bildet:,,Nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis bahnt den Weg zur Vergötterung" 149.

Die Pflichten gegen sich selbst heißen vollkommene Pflichten, soweit sie als negative Verbote besagen, was unter allen Umständen unterlassen werden soll. Insofern sie den Menschen als animalisches Wesen betreffen, gebieten sie die physische Selbsterhaltung, untersagen also den Selbstmord, aber auch die Selbstschändung im unmäßigen Genuß. In Hinsicht des Menschen als moralischen Wesens sind ihnen vor allem Lüge, Geiz und falsche Demut entgegengesetzt. Die Lüge, sei sie nun äußere oder innere Unwahrhaftigkeit, ist Wegwerfung der Menschenwürde, die den Lügner in seinen eigenen Augen verächtlich machen muß. Sie ist nach Kant die Wurzel alles Bösen, wie denn auch die Bibel den Urheber alles Bösen den Vater der Lügen nennt. Der Geiz im Sinne von Knickerei ist von Habsucht wohl zu unterscheiden: diese sucht Güter zum Zwecke des Genusses anzuhäufen, jener aber nur um des Besitzes willen. Insofern der Geizige sich selbst die Mittel zu einem wohlanständigen Leben verweigert, verstößt er gegen die Pflicht der Selbsterhaltung sowohl als gegen die der Wahrung eigener Würde. Demut gebührt nur vor der Majestät des Sittengesetzes, aber nicht in der Vergleichung mit anderen Menschen, in welchem Falle sie entweder Selbstwegwerfung oder versteckter Hochmut ist. Daher ist jede Form von Servilität, Heuchelei und Schmeichelei vom Übel, aber auch alles, was dazu zwingen kann, wie Annahme entbehrlicher Wohltaten, Schmarotzen, Betteln und leichtsinniges Schuldenmachen, eben darum zu vermeiden. Werdet nicht der Menschen Knechte! Lasset euer Recht nicht ungeahndet mit Füßen treten! Seid wirtschaftlich, damit ihr nicht bettelarm werdet! Sogar die übertriebenen Achtungsbezeigungen, Verbeugungen und höfischen Phrasen im gewöhnlichen Verkehr sind besser zu unterlassen: ,,das Ew. Wohledlen, Hochedlen, Hochedelgeboren, Wohlgeboren in der Anrede, als in welcher Pedanterei die Deutschen unter allen Völkern der Erde (die indischen Kasten vielleicht ausgenommen) es am weitesten gebracht haben", sind ebenso

viele Beweise eines Hanges zur Kriecherei.,,Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, wenn er mit Füßen getreten wird." Zu den positiven oder unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst gehört die Ausbildung und Kultur seiner geistigen, seelischen und körperlichen Kräfte. Zu höchst steht hier natürlich die moralische Vervollkommnung. Sie ist ein Streben nach Heiligkeit, welche allerdings nie vollkommen zu erreichen ist und bei deren Beurteilung in Anbetracht der Unergründlichkeit der Tiefen des menschlichen Herzens nur allzu leicht eine Selbsttäuschung mit unterläuft150.

Die Pflichten gegen andere zerfallen in schuldige und in verdienstliche Pflichten. Zu jenen gehören die Achtungs-, zu diesen die Liebespflichten. Die Achtungspflicht gebietet, die fremde Würde niemals zu verletzen und sich jeder Herabsetzung anderer im Vergleiche mit sich selbst zu enthalten. Ihr entgegengesetzt ist vor allem der Hochmut, aber auch das ,,Afterreden" und die,,bittere Spottsucht" oder Verhöhnung. Der Hochmut, nicht zu verwechseln mit dem Stolze als der Sorgfalt, seiner Menschenwürde im Vergleich mit anderen nichts zu vergeben, verlangt von anderen eine Art Selbstverachtung, weil sie gewisse wirkliche oder eingebildete Güter nicht besitzen, deren wir uns rühmen: das ist Torheit. Der Hochmütige gesteht damit aber auch stillschweigend, daß er sich selbst verachtet und gedemütigt fühlen würde, wenn er jene Güter nicht besäße: das ist falsche Selbstdemütigung oder Niederträchtigkeit. Er erreicht aber auch tatsächlich durch die dunkelhafte Behandlung der anderen das gerade Gegenteil dessen, was er anstrebt, denn dem Hochmütigen weigert ein jeder desto mehr seine Achtung, je bestrebter er sich darnach zeigt: daher ist Hochmut auch Narrheit. Liebespflichten im eigentlichen Sinne kann es überhaupt nicht geben, da man niemandem ein Gefühl zur Pflicht machen kann. Wohl aber kann eine Maxime praktischen Wohlwollens verlangt werden, die ganz unabhängig von dem Wohlgefallen an den Menschen ist, welches eine sentimentale Liebe voraussetzen würde. Praktische Nächstenliebe ist also mit einer in langer, trauriger Erfahrung begründeten Misanthropie ganz wohl vereinbar. Wohlwollen als Gefühl ist das Vergnügen an der Glückseligkeit anderer, wobei es oft genug beim bloßen

Wünschen sein Bewenden hat; Wohltun aber ist Pflicht und durch einen Imperativ der Vernunft geboten. Dieser verlangt, abstrakt ausgedrückt, die Zwecke anderer, sofern sie nur nicht unsittlich sind, zu den meinigen zu machen. Die elementarste, und zwar eine,,heilige" Pflicht dieser Art ist die Dankbarkeit. Erwiesene Wohltaten können aber durch keine Gegendienste voll erwidert werden, weil der Wohltäter immer die Priorität des Wohltuns voraushat, sondern nur durch eine herzliche Gesinnung. Die Undankbarkeit hat ihren Grund in einem Gefühle der Gedrücktheit, das dem Bewußtsein der Ungleichheit zwischen Geber und Empfänger entspringt, welche der Dankbare durch sein inneres Verhalten auszugleichen weiß. Ihr verwandt ist der Neid als der Hang, das Wohl anderer mit Schmerz wahrzunehmen, und die Schadenfreude als die Neigung, sein eigenes Wohlsein oder Wohlverhalten im Gegensatz zum Unglücke oder dem skandalösen Verhalten des Nächsten stärker zu genießen. Mit freude und Mitleid sind keine Vorbedingungen werktätiger Menschenliebe und daher auch nicht Pflicht. Im Gegenteil: durch das bloße Mit-Leiden, zumal wenn dem Schmerz des anderen nicht abgeholfen werden kann, wird nur die Summe des Leides vergrößert und nichts gebessert:,,Es kann aber unmöglich Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren.' Nur als Mittel zur Beförderung der Menschlichkeit in jenen Fällen, in denen der Mensch nicht als Vernunftwesen, sondern nur seiner animalischen Seite nach in Betracht kommt, kann das Mitleid von bedingtem Werte sein.,,Wohldenkenden Personen" wird aber ein solches Gefühl des Mitleides und der weichherzigen Teilnahme, wenn es vor der Überlegung, was Pflicht sei, vorhergeht, nur lästig sein, weil es ihre überlegten Maximen durch den Wunsch, sich seiner zu entledigen, nur in Verwirrung bringen kann. Sentimentalitäten haben in Kants Ethik keinen Platz: praktisch hilfreiche Teilnahme gilt ihr als unbedingte Pflicht, sympathetische Gefühle be deuten ihr nur einen entbehrlichen Luxus. Aus der Wechselwirkung von Achtung und Liebe ergibt sich das idealste Verhältnis, das zwischen Menschen möglich ist: echte Freundschaft. Sie besteht darin, daß zwei Menschen mit größter Innigkeit und gleicher Stärke sich zugleich lieben und achten. Liebe gleicht hierin der Anziehungskraft in der physischen Welt, Achtung der Abstoßungskraft,

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