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pologen und Lehrer der physischen Geographie, konnte es nicht verborgen bleiben, daß die sittlichen Anschauungen darüber, was als allgemeines Gesetz gelten könne, nach Zeit, Ort und Volkscharakter mannigfach wechseln, daß darauf auch die äußeren Lebensbedingungen (wie geographische Lage, Klima, Nahrung u. dgl.) von Einfluß sind, ja daß die Entscheidung darüber auch von der Urteilsfähigkeit des einzelnen abhängen wird. Aber so verschieden und wandelbar nun die moralischen Ansichten auch im besonderen sein mögen: gemeinsam ist ihnen doch, daß sie ein allgemeines normatives Prinzip der Beurteilung zugrunde legen, oder der allgemeine Charakter der Gesetzlichkeit überhaupt. Jedes echte moralische Urteil legt in dieser Hinsicht einen absoluten Maßstab an, indem es verlangt, daß das Verhalten eines Menschen einem solchen allgemeingültigen Gesetze entsprechen soll. Dieser formalimperativische Zug ist ihnen allen gemeinsam. Wie in den Erkenntnisurteilen haben wir so auch Form und Inhalt der moralischen Urteile zu unterscheiden: der Inhalt ist empirisch und wechselnd, die Form ist von jedem empirischen Inhalte unabhängig und sich gleichbleibend. Nur sie ist,,notwendig d. i. allgemeinverbindlich und daher a priori, nur sie ist daher auch Sache eines Gesetzes der praktischen Vernunft. Auf Grund einer Analyse des moralischen Tatbestandes haben wir somit drei Bestimmungen eines solchen Gesetzes gewonnen: 1. Das Sittengesetz als allgemeine Norm kann nur ein formales Gesetz sein, so wie ja auch die Gesetze, welche der Verstand der Natur vorschreibt, nur formale Gesetze sind: es hat keine ,,Materie". 2. Diese allgemeine Form ist die des Sollens: also die einer Forderung an uns oder eines Imperativs. 3. Diese Forderung ist an keinerlei Bedingungen geknüpft und nicht von irgendwelchen Zwecken oder Bedürfnissen abhängig. Sie gilt daher auch nicht bloß hypothetisch, sondern unbedingt oder kategorisch: sie ist ein kategorischer Imperativ135.

3. DER KATEGORISCHE IMPERATIV

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Der kategorische Imperativ hat so, seinem wesentlichen Sinne nach, überhaupt keinen anderen Inhalt als die in jeder Handlungslage wiederkehrende Forderung:,,Du sollst!" Er

ist hierin vergleichbar dem,,ich denke" der transzendentalen Apperzeption, welches ja auch nur die Form jeder Bewußtheit überhaupt ausdrückt. Er bedeutet somit nur die Forderung eines gesetzmäßigen Wollens schlechthin und verlangt nichts anderes, als daß die einer Handlung vorangehende subjektive Maxime den Charakter einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit anzunehmen geeignet sei, also sich in Gestalt eines Sollens für jedermann aussprechen lasse. Im moralischen Urteil wird also der Wille durch die bloße Form des Gesetzes bestimmt gedacht und die Einzigkeit dieser Bestimmung als Kennzeichen seines sittlichen Wertes angesehen. Anders ausgedrückt: nur solche Handlungsantriebe können ,,moralisch" heißen, nach welchen das handelnde Subjekt einem allgemeinverbindlichen Gesetze gemäß zu handeln vorhat. Für das Individuum bildet also die Verallgemeinerungsfähigkeit seiner Maxime das Kriterium, ob sie dem Sittengesetze gemäß ist oder nicht. Insofern, aber auch nur insofern läßt sich dem kategorischen Imperativ auch eine inhaltliche Formulierung geben: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Oder weniger glücklich:,,Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.' Ein allgemeines Gesetz, von dem wir voraussetzen oder wünschen, daß es schlechthin allgemein gelte, hat aber den Charakter eines Naturgesetzes. Daher könnte der sittliche Imperativ auch so ausgesprochen werden: ,,Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte." Wer lügt, kann nicht wollen, daß allgemeine Lügenhaftigkeit ein Naturgesetz bedeute, weil dadurch jede vernünftige Gemeinschaft unter Menschen aufgehoben würde. In der Not Versprechungen machen, von denen man nicht weiß, ob man sie wird einhalten können, würde, allgemein vorgestellt, jedes Versprechen illusorisch machen. Sich jeder Teilnahme am Schicksal anderer entschlagen, würde zwar in seiner Verallgemeinerung den Bestand des menschlichen Geschlechtes nicht aufheben; niemand wird aber doch wünschen, daß alle so handeln, weil Fälle eintreten können, wo man selbst der Liebe und des Wohlwollens anderer bedarf136.

Beispiele dieser Art in Verbindung mit der zweiten Fassung des Imperativs könnten nun allerdings die Auffassung nahelegen, als handle es sich bei der ganzen Überlegung nur um einen etwas verfeinerten Egoismus nach der Formel:,,Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris !" Das widerspräche aber von Grund aus Kants wahrer Meinung. Denn nicht nur, daß damit bei weitem nicht alle aus dem kategorischen Imperativ fließenden Pflichten einbezogen wären, es wäre damit auch der wesentlichste Charakter des Sittengesetzes: seine Unbedingtheit, preisgegeben. Die Forderung der Verallgemeinerung einer Maxime soll ihrem wahren Sinne nach nur besagen, daß ein an sich sittlich indifferenter Willensinhalt erst dann positiv moralische Bedeutung gewinnt, wenn er sich in Form eines allgemeinen Gesetzes aussprechen läßt. Die Verallgemeinerungsfähigkeit ist so ein inneres Kennzeichen des formalsittlich gerichteten Willens. Um sich dessen im einzelnen Fall zu vergewissern, empfiehlt Kant ein Gedankenexperiment: versuche dir die Maxime deines Willens verallgemeinert zu denken und du wirst sehen, ob sie selbst die Qualität des Gesetzmäßigen in sich trägt. Denn andernfalls müßte dieses Experiment mißlingen. Aufgabe dieser Formulierung des kategorischen Imperatives ist es daher eigentlich nur, den Begriff des Moralischen überhaupt in eindeutiger Weise festzulegen und ihn gegen andere Bedeutungen von,,gut" sicher abzugrenzen: als,,moralisch" im strengen Sinne kann nur jener Wille gelten, der den Charakter unbedingter und allgemeinverbindlicher Gesetzmäßigkeit an sich trägt. Darin eben bewährt sich Kants Ethik als „,Kritik", daß sie vermeintliche von wirklicher Moralität scheidet und von ihrem hohen Standpunkte aus festsetzt, was überhaupt als moralischer Wert zu gelten hat und allein als solcher anerkannt werden darf. So scheiden damit alle hedonistischen (Kant sagt oft ungenau ,,eudaimonistischen") Ethiken von vornherein aus. Die Glückseligkeit, welche Kant als das ,,Bewußtsein von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen unser ganzes Dasein begleitet" definiert, kennt kein ,,Sollen" und kann daher niemals Gesetz werden. Das Streben nach Lust oder die Selbstliebe sind Naturgesetze, die ganz von selbst und oft gegen unsere bessere Einsicht unseren Willen bestimmen. Nach dauernden Lustgefühlen zu streben, braucht

sich niemand durch einen Imperativ zum Gesetze zu machen: das tut jeder ganz von selbst. Hier fehlt die Form des Sollens; die Formel des kategorischen Imperatives läßt sich darauf nicht anwenden. Das gleiche gilt von der sentimental-rhetorischen Gefühlsmoral, welche mit ihrer Schilderung romanhafter Tugendhelden zuletzt doch nur auf die Eitelkeit und Selbstgefälligkeit der Menschen spekuliert. Die strenge Begriffsbestimmung und Abgrenzung der moralischen Sphäre wäre auch dann nicht ohne theoretische Bedeutung, wenn niemals ein Mensch ein solches unbedingtes Sollen in sich erlebt hätte. Sie gründet sich eben gar nicht auf Erfahrung und darf sich nicht auf sie gründen, wenn sie nicht des von Kant beabsichtigten apriorischen Charakters verlustig gehen soll. Jedes Beispiel, das etwa zu ihrer Stütze herangezogen werden sollte, müßte ja selbst erst daraufhin beurteilt werden, ob es dem Sittengesetz wahrhaft gemäß ist, würde also dessen Kenntnis bereits voraussetzen. Sie kann aber auch praktisch dadurch wirken, daß sie die Reinheit moralischer Gesinnung dem vielfach irregeleiteten und getrübten sittlichen Bewußtsein der Menschheit deutlich vor Augen stellt 187.

gut

Der formale Charakter des Sittengesetzes weist aber auch zugleich die Richtung, nach der wir den Wert eines Verhaltens und damit den moralischen Wert eines Menschen überhaupt einzuschätzen haben. Denn offenbar kann auch hierin nur die Erfüllung der Form maßgebend sein, nicht ihre Erfülltheit mit diesem oder jenem Inhalte: nicht das also, was ein Mensch tut, sondern, aus welcher Gesinnung seine Taten fließen. Nicht das also entscheidet über Wert und Würde eines Menschen, was er nach Maßgabe der Umstände und seiner Einsicht für hält und wonach er daher strebt denn auch darin ist er empirisch und naturgesetzlich bedingt, auch nicht einmal das, was er mit seinem Willen im Kampfe gegen äußere Widerstände und innere Hemmungen ausrichtet, sondern einzig und allein, daß er das an sich selbst für „gut“ Gehaltene in seinen Willen aufnimmt und es zur unbedingten Richtschnur seines Handelns zu machen aus allen Kräften bestrebt ist. Nicht der Erfolg entscheidet also, sondern allein der Wille. Dadurch allein vermag sich auch der Niedrigste und Ungebildetste, der vom Schicksal Verfolgte und vom Glück

Verstossene von einem bloßen „,Dinge", d. i. Naturwesen, zur Würde eines Vernunftwesens zu erheben, indem er in einer Natur, in der überall nur ein unbedingtes Müssen zu herrschen scheint, eine solche Forderung unbedingten Sollens an sich stellt. Sinn und Wert des Lebens beruhen daher auch nur darauf, daß der Mensch immer und überall das Gute will, nicht darauf, was ihm in dem sittlichen Lebenskampfe Gutes oder Übles widerfährt. Auch Verstand und Wissen begründen in diesem letzten und höchsten Sinne keinen Vorrang unter den Menschen, sondern allein die ehrlich und entschieden moralische Gesinnung. Der auf ihr beruhende Wille heißt ein,,guter Wille". Ein guter Wille ist ein Wille zum Guten schlechthin und allein um seiner selbst willen. Er trägt seinen Wert in sich selbst, ja, er ist das einzige, nach dessen Wert nicht weiter gefragt werden kann, weil er selbst den höchsten Menschenwert darstellt. In diesem Begriffe eines guten Willens ist nichts von Gutwilligkeit in der Unterordnung unter geltende Satzungen enthalten und auch nichts von Herdenmoral (wie Nietzsche miẞverstehend meinte), sondern gerade die starke und tapfere Bejahung eines von jeder Rücksicht auf Lust und Leid unabhängigen, jedem naturhaften Schicksale trotzenden höchsten Menschenwertes. Darauf gründet sich Kants vielleicht tiefstes und schönstes Wort, mit dem er die,,Grundlegung“ einleitet:,,Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille138,"

4. DIE AUTONOMIE DER PRAKTISCHEN VERNUNFT

Alle das wahre Wesen des Sittlichen verfehlenden unechten Moralprinzipien lassen sich auf einen empiristischen und einen rationalistischen Typus aufteilen. Bei jenem wird entweder das Glücksgefühl des Individuums oder das Glück der Gesamtheit als moralisches Endziel angegeben. In beiden Fällen wird der sittliche Imperativ von einem Zwecke abhängig gemacht und dadurch zu einem hypothetischen herabgesetzt. Das verstößt nicht nur gegen seinen Grundcharakter, sondern enthält auch in sich einen Widerspruch. Die moralischen Anforderungen sind näm

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