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turgesetz bereiten wird. Die Möglichkeit des Zusammenbestehens moralischer Willensentscheidungen mit der Naturbedingtheit des Menschen als Sinnenwesens, oder kurz: das Problem der Freiheit, bildet daher das Grundproblem der kritischen Ethik 131.

Kants Aufmerksamkeit war schon frühe auf moralphilosophische Fragen gerichtet. In der vorkritischen Zeit hatte er dazu geneigt, das sittliche Bewußtsein im Sinne der Engländer auf einen angeborenen moralischen Sinn und auf das ästhetische Gefühl von der Schönheit und Würde der menschlichen Natur zu gründen. Die ,,Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" (1764) und die Preisschrift desselben Jahres:,,Untersuchungen über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral" brachten diese Anschauung im Gegensatze zu dem Perfektionismus der Wolffischen Schule zum Ausdruck. In der letztgenannten Schrift wird auch bereits geltend gemacht, daß eine Verbindlichkeit zur Vervollkommnung in der Luft schwebe, solange es nicht gelinge, sie als Selbstzweck zu erweisen. Vom Standpunkte des Kritizismus aus konnte Kant aber solche Untersuchungen im allgemeinen nur zu einer Psychologie des Wollens oder zur,,praktischen Anthropologie" rechnen und sie nur als Vorarbeit einer ,,reinen“, d. i. auf Prinzipien a priori gegründeten Ethik gelten lassen. Wie einst die Metaphysik, will er jetzt auch die Philosophie der Moral aus einem,,bloßen Herumtappen" in den,,sicheren Gang einer Wissenschaft" bringen, indem er sie zwingt, sich auf ihre wahre Grundlage zu besinnen. Daher gilt ihm jetzt als Ziel, ein Gesetz des sittlichen Bewußtseins aufzufinden: ein Gesetz der praktischen, d. h. der den Willen bestimmenden, auf das Tun gerichteten Vernunft. In einem Briefe vom Jahre 1785 hatte Kant angekündigt, daß er ungesäumt an die völlige Ausarbeitung der Metaphysik der Sitten zu gehen gedenke. Zunächst erschien aber nur die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (1785), welche sich in der Vorrede als Ersatz einer,,Kritik“ ankündigte. Diese folgte dann aber gleichwohl drei Jahre später als „Kritik der praktischen Vernunft" (1788). Sie führt eigentlich nur der Symmetrie wegen diesen Namen, denn wie Kant selbst sagt, bedarf die praktische Vernunft eigentlich keiner,,Kritik", weil sie selbst die höchste Richterin

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und Wertschöpferin in praktischen Fragen ist und daher keine Gefahr einer Grenzüberschreitung für sie besteht. Daß Kant aus der gleichen Vorliebe für symmetrische Systematik auch die ganze Gliederung der Kritik der reinen Vernunft (Elementar- und Methodenlehre, Analytik und Dialektik, Kategorientafel und Antinomien) hier wiederholt, gereicht der Durchsichtigkeit und leichten Verständlichkeit seiner ethischen Lehren nicht zum Vorteil. Wenn die Grundlegung“ das Tatsächliche des sittlichen Bewußtseins aufzuklären und den,,Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen" zu vollziehen bestrebt ist, so handelt die`,,Kritik“ von der,,Möglichkeit, dem Umfange und den Grenzen der Prinzipien praktischen Vernunftgebrauches". Jene erörtert also die Frage des quid facti?", diese die des „,quid juris?“ eines rationalen Sittengesetzes. Von beiden als den Grundfragen einer reinen Ethik ist die angewandte Ethik zu unterscheiden, welche die Wirksamkeit der moralischen Prinzipien im sittlichen Leben (,,Tugendlehre“), in der Rechtslehre, in der Geschichte, im Staatsleben und in der Erziehungskunde untersucht132.

2. DAS SITTLICHE BEWUSSTSEIN

Das dem Geiste des Kritizismus entsprechende Prinzip möglichster Voraussetzungslosigkeit verlangt den Ausgang von einer gesicherten Tatsache. So wie die Kritik der reinen Vernunft sich nicht auf eine bestimmte erkenntnistheoretische Ansicht stützt, sondern auf die Tatsache der Erfahrung und Erfahrungswissenschaft, so kann auch den Anfang einer Kritik der praktischen Vernunft nicht eine bestimmte moralphilosophische Theorie bilden, sondern nur eine unbezweifelbare Tatsache unseres Bewußtseins: die Tatsache moralischer Werturteile. Daß es Bewertungen moralischer Art gibt, beweist die innere Erfahrung eines jeden ebensowohl wie die Kulturund Sittengeschichte der Menschheit. Jedem Menschen, dem Gebildeten wie dem Ungebildeten, dem Tugendhaften wie dem Verworfensten ist jene,,himmlische Stimme" bekannt, die als unbestechliche Richterin in seiner Brust all sein Tun begleitet und in Form des Gewissens laut genug und ,,unüberschreibar" von ihm Befolgung verlangt. Mit die sem Kompaß in der Hand weiß auch die gemeine Men

schenvernunft" in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid, was gut und böse ist, so daß es keiner Wissenschaft und Philosophie bedarf,,,um zu wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein". Sogar der ärgste Bösewicht würde, wenn man ihm Beispiele redlichen, standhaften oder wohlwollenden Handelns vor Augen hält, wünschen, von den bösen Antrieben und Neigungen frei zu sein, die ihn wegen ihrer Übermacht hindern, solchen Vorbildern zu folgen, wenn er auch nicht die Kraft aufbringt, sich von ihnen loszumachen. Das moralische Bewußtsein ist somit ein unleugbares,,Faktum", das „,vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, vorhergeht." Von dieser,,gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis" gilt es nun zur Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ aufzusteigen: das Allgemeine und Notwendige in den wandelbaren Bestimmungen jener Normen in Form eines Gesetzes auszusprechen. Die reine Ethik wird hier ein der Chemie ähnliches Verfahren in Anwendung bringen müssen: Zergliederung der moralischen Urteile und reinliche Scheidung des Empirischen vom Rationalen 133.

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Fragen wir zunächst, was die im eigentlichen Sinne so zu nennenden,,moralischen" Urteile charakterisiert, so scheiden von vornherein alle jene Werturteile aus, welche die Verwirklichung irgendwelcher äußerer Zwecke zum Gegenstande haben. Denn alle Zwecke dieser Art, mögen sie nun der eigenen Annehmlichkeit oder fremder Glückseligkeit dienen, bedürfen zu ihrer Erreichung nicht unbedingt eines sittlichen Wollens, sondern können auch durch andere Ursachen oder aus anderen Motiven verwirklicht werden. Der moralische Wert einer Handlung kann daher nicht in irgendeinem beabsichtigten Erfolg, sondern nur in ihren Bestimmungsgründen liegen: in der Gesinnung des Handelnden oder in der ,,Maxime", der zufolge eine Tat beschlossen wird. Eine Maxime ist ein subjektives Prinzip des Wollens. Dasjenige aber, was es zu suchen gilt, soll ein objektives und allgemein gültiges Gesetz der praktischen Vernunft sein. Eine Maxime drückt immer nur das Motiv aus, nach welchem das Subjekt handelt; ein Gesetz aber will aussagen, nach welchem Grundsatze jeder handeln soll. Ihm ist die impera

tivische Form wesentlich. Fragen wir nun weiter, unter welchen Bedingungen eine subjektive Maxime den Charakter eines praktischen Gesetzes anzunehmen vermöchte, so schalten wieder alle Fälle aus, die irgendein materiales Prinzip als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, also alle Maximen, welche das auf Verwirklichung eines Gegenstandes gerichtete Begehrungsvermögen zur Grundlage haben. Denn alle in diesem Sinne materialen Bestimmungsgründe des Willens sind empirisch bedingt, insofern sie durchwegs zuletzt auf der Selbstliebe oder dem Glückseligkeitstriebe des Wollenden beruhen. Daher können auch Dinge, welche von diesem Standpunkte aus unzweifelhaft Güter bedeuten, wie die Gaben des Geistes, Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit (soweit die letzteren nur Eigenschaften des Temperamentes sind) nicht als unbedingt moralisch wertvoll gelten, weil es ganz darauf ankommt, welchen Gebrauch ihr Besitzer von ihnen macht. Auch würde sich das Prinzip der Selbstliebe gar nicht zu einem allgemeinen Gesetze eignen, weil hier nur allzu leicht eine Konkurrenz der Willenssphären eintreten kann. Jene Harmonie der Willensrichtungen, welche ein solches Gesetz gewährleisten sollte, würde nur zu oft jener ähnlich sehen,,,welche ein gewisses Spottgedicht auf die Seeleneintracht zweier sich zugrunde richtenden Eheleute schildert: 0 wundervolle Harmonie, was er will, will auch sie usw., oder was von der Anheischigmachung König Franz des Ersten gegen Kaiser Karl den Fünften erzählt wird: was mein Bruder Karl haben will (Mailand), das will ich auch haben." So deutlich sind die Grenzen zwischen Selbstliebe und Sittlichkeit gezogen, daß in Wirklichkeit gar kein Zweifel darüber aufkommen kann, was zu einer von beiden gehört. Schon der natürliche Menschenverstand würde sich darüber lustig machen, wenn etwa ein aufzunehmender Verwalter seine Vertrauenswürdigkeit durch die Versicherung dartun wollte, er werde in jeder Hinsicht seinen eigenen Vorteil zu wahren sich verpflichtet fühlen. Aus dem Prinzip des Egoismus lassen sich allenfalls hypothetische Imperative ableiten: wenn du das oder jenes willst, mußt du so oder so handeln. Hypothetische Imperative dieser Art sind aber gar keine wahren Imperative, sondern im Grunde nur Ratschläge für kluges Verhalten. Der Unterschied zwischen dem, was in einem

bestimmten Falle ratsam ist, und dem, was in allen Fällen für verbindlich gilt, ist aber gar nicht zu verkennen. Also nicht nur die äußeren Zwecke als solche, sondern auch die auf Verwirklichung solcher Zwecke, also zuletzt auf Selbsterhaltung und Selbstförderung gerichteten Absichten und Grundsätze scheiden aus, wenn es sich um die Auffindung allgemein verbindlicher Vernunftgesetze handelt. Auch der Versuch, das Moralprinzip auf sympathetische Gefühle altruistischer Art zu gründen (worauf Kant gar nicht näher eingeht), würde das Geforderte nicht leisten können. Denn Gefühle sind immer etwas Individuelles und lassen sich daher nicht zu einem allgemeinen Gesetze erheben. Liebe aus Neigung, sagt Kant einmal, kann nicht geboten werden, sondern nur Wohltun aus Pflicht. Ebensowenig eignet sich der angeborene,,moralische Sinn" dazu, der von manchem angenommen wird. Seine angebliche Funktion, das Gute mit Lustgefühlen zu belohnen und das Böse mit Gemütsunruhe zu bestrafen, würde ja schon die Kenntnis des Guten und Bösen voraussetzen. Kurz: eine Metaphysik der Sitten, d. i. eine systematische Aufzeigung der apriorischen Faktoren des sittlichen Bewußtseins, läßt sich ebensowenig auf Erfahrung gründen, wie eine Metaphysik der Natur. Daß man sich darüber im unklaren war, bedingt die Verschiedenheit der Moralsysteme, welche durchwegs empirische Prinzipien zur Grundlage nehmen, mögen sie diese nun in der vernünftigen Naturanlage des Menschen, in der Vollkommenheit oder in der Glückseligkeit, in einem moralischen Sinne oder in der Gottesfurcht zu finden hoffen134.

Wenn so alle materialen Bestimmungsgründe des Willens ausschalten, so folgt, daß das Sittengesetz, das jedermann im Sinne hat, wenn er Gesinnungen oder Taten moralisch beurteilt, überhaupt keinen bestimmten Inhalt haben kann. Nun bleibt von einem Gesetze, wenn man jede inhaltliche Bestimmung von ihm in Abzug bringt, nichts übrig als die ,,bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung". Das Kriterium, ob eine subjektive Maxime des Handelns dem Sittengesetze gemäß sei, wird daher nur darin liegen, ob sie sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung eignet oder nicht. Das Urteil darüber wird nun allerdings nicht bei jedermann und zu allen Zeiten gleich ausfallen. Kant, dem Anthro

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