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Hobbes, Locke, Berkeley in Hume zur Vollendung gelangte Denkrichtung des Empirismus hatte in Deutschland zahlreiche Anhänger gewonnen, als deren bedeutendster der Leipziger Professor Chr. A. Crusius (1712-1775) zu nennen ist. Der Empirismus, seinem Ursprunge nach eine Oppositionserscheinung gegen die zu weit gehenden Ansprüche des Rationalismus, anerkennt das begriffliche Denken nicht als schöpferisches Prinzip, sondern nur als untergeordnetes Werkzeug für die Ordnung und Verarbeitung der Tatsachen. Er wird daher auch nicht müde, dem Rationalismus die empirische Herkunft seiner vermeintlich „reinen" Vernunftbegriffe vorzurechnen, indem er zu zeigen sucht, daß auch sie (wie z. B. der Begriff der Substanz, der Kausalität, der Seele u. dgl.) ursprünglich aus der äußeren oder inneren Erfahrung stammen und daher auch nur insofern Geltung beanspruchen dürfen, als sie ihrer Erfahrungsgrundlage treu geblieben sind. Bei den Anhängern dieser Richtung überwog daher von Anfang an eine mehr skeptisch-kritische Geisteshaltung, welche sich naturgemäß besonders gegen die Grundlagen der herrschenden Metaphysik richtete. Hatte doch Hume die Möglichkeit einer solchen, aber auch die einer ätiologischen Naturwissenschaft, welche die Phänomene nicht bloß in ihrer Tatsächlichkeit beschreiben, sondern aus ihren letzten Ursachen erklären will, grundsätzlich verneint. Eben damit trat der Empirismus aber wieder seinerseits in Gegensatz zu der stärksten wissenschaftlichen Macht jener Zeit, der mathematischen Naturwissenschaft, welche eben in Newton (1642-1727) ihre höchsten Triumphe gefeiert hatte. Ebensowenig stand mit ihr aber auch die teleologische Richtung der Leibniz-Wolffischen Metaphysik in Einklang, wozu sich noch allerlei Differenzen in engeren naturphilosophischen Fragen gesellten. Der Hauptvertreter dieser naturwissenschaftlichen Richtung in Deutschland, der auch von Kant hochgeschätzte Mathematiker Leonhard Euler, stand daher der Philosophie seiner Zeit mehr oder weniger mißtrauisch gegenüber. Ebenso fühlte sich aber auch die von Jakob Spener ins Leben gerufene und allmählich weite Kreise in ihren Bann ziehende pietistische Bewegung, welche auf eine Verinnerlichung des Christentums abzielte, nicht nur zur protestantischen Orthodoxie, sondern auch zum Wolffischen Rationalismus in schärfstem Gegensatz. Nimmt man noch dazu, daß, mitbegünstigt durch die Neigungen des großen Preußenkönigs, auch die französischen Schriftsteller: Voltaire,

Montesquieu, Condillac, La Mettrie und Rousseau in Deutschland eindrangen und eifrig gelesen wurden, so ergibt sich ein überaus buntes Bild der philosophischen Zeitlage. Dieser Zwiespalt der Meinungen forderte zu einem Ausgleich heraus und legte es nahe, eine Synthese des scheinbar ganz Auseinanderstrebenden zu versuchen. Einer der bemerkenswertesten Versuche dieser Art ist jener, den der Physiker Johann Heinrich Lambert in seinem,,Neuen Organon" (1764) unternahm, indem er auf Grund der Unterscheidung von „Form" und „Stoff" unserer Erkenntnis die Wolffische Metaphysik mit einer empiristisch gerichteten, an Locke orientierten Erkenntnistheorie zu unterbauen vorhatte: der Stoff unseres Wissens wird durch Erfahrung gegeben, seine Formung erfolgt durch die Gesetze unseres Denkens. Lamberts Briefwechsel mit Kant, der ihn überaus schätzte, und mit dem ihn auch sonst manche Berührungspunkte verbanden, war nicht von unwesentlichem Einflusse auf dessen philosophische Entwicklung1. Die Regel aber war, daß man von den einzelnen Richtungen gerade nur das gelten ließ, was jedem eben paßte, und als Folge davon ergab sich, daß allmählich ein synkretistischer Eklektizismus sich immer weiter verbreitete, dieses sicherste Kennzeichen einer absterbenden Geistesepoche. Niemals vielleicht wurde in Deutschland so viel und von so vielen philosophiert wie damals. Die Breite der Produktion stand aber zumeist in umgekehrtem Verhältnisse zu ihrer Tiefe und wissenschaftlichen Bedeutung. In weitem Bette rauschte der Strom der Popularphilosophie dahin und ergoß sich mit wenig Witz und viel Behagen in zahllosen philosophischen Traktaten, Tagebüchern, Selbstbekenntnissen, Gedichten und Romanen. Kein Wunder, daß diese Verflachung, zusammen mit dem Widerstreit der Schulen und Systeme, in den Augen der wissenschaftlich strenger Denkenden das Ansehen der Philosophie überhaupt und der Metaphysik im besondern immer mehr herabsetzte, so daß zur Zeit, als Kant mit seinem ersten kritischen Hauptwerk hervortrat (1781), das Interesse daran merklich abzuflauen begonnen hatte. Daher konnte Kant von der Metaphysik seiner Zeit, dem,,Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten“, sagen: „Es war eine Zeit, in welcher sie die Königin aller Wissenschaften genannt wurde und, wenn man den Willen für die Tat nimmt, so verdiente sie, wegen der vorzüglichen Wichtigkeit ihres Gegenstandes, allerdings diesen Ehrennamen. Jetzt

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bringt es der Modeton des Zeitalters so mit sich, ihr alle Verachtung zu beweisen, und die Matrone klagt, verstoßen und verlassen, wie Hekuba: modo maxima rerum, tot generis natisque potens nunc trahor exul, inops Ovid. Metam.2." Als das einzig wertvolle Ergebnis jener Verbindung des Wolffischen Rationalismus mit dem englischen Empirismus und dem französischen Freidenkertum aber blieb die deutsche Aufklärung zurück, die in ihren besten Vertretern, wie Mendelssohn und Lessing, in ihrem Kampfe gegen die noch immer übermächtige Orthodoxie überaus wohltätig wirkte, dem Zug der Zeit folgend, vielfach aber ebenfalls in Gemeinplätzen verflachte und zu einem Nüchternheitsfanatismus entartete. Ihr Streben nach Selbstbefreiung der Menschheit von allen Fesseln in der Entfaltung ihrer allerhöchsten Kraft": Vernunft und Wissenschaft, ihre Forderung nach Durchleuchtung aller Lebensgebiete mit verstandesmäßiger Klarheit und ihre Einschränkung der dogmatischen Religionen auf die drei Glaubensartikel des Deismus: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit waren gleichwohl Züge, welche dem Dunkel des vergangenen Jahrhunderts gegenüber einen wesentlichen Fortschritt bedeuteten. In diesem Punkte fußte auch Kant ganz in der Richtung seiner Zeit. Er selbst hat die Aufklärung auf ihren Höhepunkt geführt, sie aber auch in ihrer Einseitigkeit überwunden. Im allerhöchsten Sinne als Aufklärer aber bewies sich Kant, als seine,,Kritik der reinen Vernunft" in das aufund abwogende Gewölk metaphysischer Spekulationen wie ein Blitz hineinleuchtete. Er ist damit zum Aufklärer der Leuchte aller Aufklärung, der Philosophie selbst geworden.

I. DIE PERSÖNLICHKEIT

1. KANTS LEBENSLAUF

Immanuel Kant ist am 22. April 1724 als das vierte Kind unter neun Geschwistern geboren. Sein Vater, Johann Georg Kant, war ein ehrenfester Riemermeister und auch seine Mutter entstammte einer Sattlersfamilie. Kants eigene Meinung, daß seine Vorfahren aus Schottland eingewandert seien, hat sich als irrtümlich herausgestellt. Es ist aktenmäßig nachgewiesen, daß schon sein Urgroßvater, Richard Kant, 1667 in vorgerückten Jahren als Wirt in Werden gelebt hat. Noch größeren Einfluß als der Vater, ein Mann von aufrechtem Charakter und offenem Verstande, übte auf das Gemüt des Knaben die fromme Mutter, nach Kants eigenen Worten „eine Frau von großem natürlichen Verstande, einem edlen Herzen und einer echten, durchaus nicht schwärmerischen Religiosität". Er preist die von ihr im streng pietistischen Geiste erhaltene Erziehung als „eine Schutzwehr für Herz und Sitten gegen lasterhafte Eindrücke". Die strenge, aber doch verinnerlichte Art religiösen Lebens, unter deren Eindruck seine erste Jugend verlief, hat unverkennbar bis in seine spätesten Jahre nachgewirkt. Auf Rat des Pfarrers und Theologieprofessors Albert Schultz, der die Begabung des Knaben bald erkannte, wurde er in das Collegium Fridericianum gegeben, eine gymnasiale Lehranstalt, die im Geiste jener Zeit nur gründlichen Lateinunterricht vermittelte, dafür aber das Hauptgewicht auf eine extrem pietistische Erziehung legte. Der unausgesetzte Zwang zu geistlichen Übungen in Verbindung mit einer ,,fanatischen Disziplin" bildete für Kant zeitlebens eine unangenehme Jugenderinnerung. Wenn er später den Wert des Gebetes schroff verneinte und in seinen Vorlesungen über Pädagogik betonte, man müsse die Kinder in Freiheit erziehen und sie müßten fröhlichen Herzens und,,heiter in ihren Blicken wie die Sonne" sein, so kann man unschwer die Reaktion gegen seine persönlichen Erfahrungen in diesem Punkte erkennen. Im Herbst 1740 bezog er als Sechzehnjähriger die Universität, wo er Philosophie, Mathematik, Physik und ,,aus Wiẞbegierde" gelegentlich bei Schultz auch Theologie hörte. Von seinen aka

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Das Original befindet sich im Besitz der Buchhandlung Gräfe & Unzer in Königsberg

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