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Organismen grundsätzlich haltmachen solle. Im Gegenteil: nur die auf den apriorischen Bedingungen aller Erkenntnis beruhende Einsicht in den kausal-gesetzmäßigen Zusammenhang auch der Lebenserscheinungen würde unseren Wissenstrieb vollkommen befriedigen. Sie bleibt daher immer das geforderte Endziel jeder Naturerkenntnis. Da sie nun aber doch nicht ausreicht, um uns die biologischen Zusammenhänge vollständig begreiflich zu machen, ergibt sich auch für die Urteilskraft eine Art Antinomie: die Thesis fordert, entsprechend der Natur unseres Verstandes, alle materiellen Erscheinungen ohne Ausnahme nach mechanischen Gesetzen zu beurteilen; die Antithesis wendet dagegen ein, daß diese Forderung in Hinsicht der organischen Welt nicht erfüllbar sei, sondern daß hier ein anderes Prinzip der Beurteilung, nämlich das nach Zwekken oder Endursachen herangezogen werden müsse. Die kritische Auflösung dieser Antinomie liegt in der Richtung, daß die teleologische Betrachtungsweise die mechanistische nicht zu verdrängen, sondern zu ergänzen bestimmt ist. Soweit es irgend möglich erscheint, ist die letztere durchzuführen; nur dort, wo sie versagt, hat die Zweckbeurteilung einzuspringen. Anders ausgedrückt: auch der teleologische Gesichtspunkt darf niemals als konstitutives, d. i. als bestimmendes und abschließendes Prinzip der Naturerkenntnis gelten, sondern nur als regulatives Prinzip, d. i. als Leitfaden der Forschung oder als heuristische Maxime. Das wünschenswerte Endziel bleibt immer die Erklärung der Naturerscheinungen nach Verstandesprinzipien. Die Teleologie hat Teleologie hat dem gegenüber nur den Charakter einer vorläufigen, wenn auch in gewissen Fällen unentbehrlichen Betrachtungsweise. Würde man sie als konstitutives Erkenntnisprinzip ansehen, so ergäbe sich daraus jene,,faule Teleologie", welche sich der Mühe weiterer Nachforschung überhoben glaubt, wenn sie mit dem Begriffe des.,,Naturzweckes" ihre Unwissenheit decken kann. So betrachtet kämen Mechanismus und Teleologie tatsächlich miteinander in Widerstreit. Ein solcher besteht aber nicht, wenn wir einerseits, soweit es gehen will, die Nachforschung nach mechanischen Ursachen fortsetzen, dererseits uns aber doch darüber klar sind, daß bei alledem ein unerledigter Rest übrigbleibt, den wir uns ohne Hilfe

an

der Zweckbetrachtung nicht begreiflich machen können. Damit ist eben gar nicht behauptet, daß die Erzeugung organischer Wesen nach mechanischen Gesetzen unmöglich sei; es wird damit nur zugestanden, daß eine solche mechanische Entstehung unser Denkvermögen übersteigt. Jene Behauptung wäre dogmatisch, diese Einsicht in die Grenzen unseres Begreifens entspricht dem Geiste des Kritizismus. In der Tat sind wir so weit davon entfernt, die Erscheinungen des Lebens aus bloß mechanistischen Prinzipien zu verstehen, daß es eine Dreistigkeit bedeuten würde, auf einen Newton zu hoffen, der auch nur die Entstehung eines Grashalmes ohne Zuhilfenahme der Zweckbetrachtung erklären könnte. So bleiben wir denn in sehr vielen Fällen auf die teleologische Beurteilung angewiesen, auch wenn wir uns bewußt sind, daß sie in gewissem Sinne für uns nur eine Notsache ist. Gleichwohl ist sie mehr als bloß ein willkommener Lückenbüßer. Sie kann nämlich zu einem wichtigen methodischen Hilfsmittel der Forschung dadurch werden, daß sie Probleme aufspürt, welche wir sonst vielleicht gar nicht sehen würden. So verdankt die Physiologie der Frage nach der Zweckbestimmung eines Organes mannigfache Anregung zur Verfolgung kausaler Zusammenhänge, und wenn ein Zoologe an einem Tierkörper ein neues Organ entdeckt, wird ihn die Zweckfrage: wozu dient es? zunächst weiter führen als die Kausalfrage: wie ist es entstanden? In dieser Belebung und Anregung der Forschung liegt der hohe heuristische Wert der Zweckbetrachtung. Wir finden allerorts Anlaß, die merkwürdige Zweckmäßigkeit in der organischen Welt staunend zu bewundern. Diese Bewunderung fördert aber erst dann unsere Erkenntnis, wenn sie für uns zu einem neuen und reizvollen Motiv wird, den kausalen Zusammenhängen nachzugehen, welche jener Zweckmäßigkeit zugrunde liegen. Denn wahre Befriedigung unseres Erkenntniswillens im Reiche der Naturerkenntnis verschafft uns doch nur die kausale Betrachtung, weil nur sie in den Grundformen unseres Denkens wurzelt und auch nur sie eine theoretische Beherrschung der Erscheinungen ermöglicht. Mechanismus und Teleologie stehen sich somit nur dann feindlich gegenüber, wenn sie dogmatisch aufgefaßt werden; bei kritischer Grenzbestimmung ihrer Geltung und Leistungsfähigkeit werden sie zu mäch

tigen Bundesgenossen in der Erforschung der organischen Welt. Kants Lehre bedeutet in dieser Hinsicht einen Ausgleich zwischen der starren Mechanistik der Kartesianischen Naturphilosophie und dem vitalistischen Zuge der Leibnizischen Metaphysik 127.

Kants genialer Scharfblick hat auch den Weg erkannt, auf welchem es allein möglich werden konnte, die Wunder des Lebendigen unserem kausalen Verstehen näher zu bringen. Es ist der Gedanke der genetischen Entwicklung, von dem er eine Umgestaltung der Naturbeschreibung seiner Zeit in eine wirkliche Naturgeschichte erhofft. Schon in einer frühen Schrift:,,Von den verschiedenen Rassen der Menschen" (1775) hatte Kant, der ja selbst den Entwicklungsgedanken in seiner,,Naturgeschichte des Himmels" fruchtbar gemacht hatte, dieses Programm aufgestellt:,,Die Naturgeschichte, woran es uns noch fast gänzlich fehlt, würde uns die Veränderung der Erdgestalt, im Gleichen die der Erdgeschöpfe (Pflanzen und Tiere), die sie durch natürliche Wanderungen erlitten haben und ihre daraus entsprungenen Abartungen von dem Urbilde der Gattung lehren. Sie würde vermutlich eine große Menge scheinbar verschiedener Arten zu Rassen ebenderselben Gattung zurückführen und das jetzt so weitläufige Schulsystem der Naturbeschreibung in ein physisches System für den Verstand verwandeln." Ein System organischer Wesen,,dem Erzeugungsprinzip nach" auf Grundlage der vergleichenden Anatomie erschien dem Philosophen andauernd als ein erstrebenswertes Ideal der biologischen Forschung. Er meinte, die auffallende Analogie in den Bauformen der organischen Welt lege die Vermutung,,einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter" nahe. An dem Leitfaden einer allmählichen Differenzierung homologer Organe (wie wir heute sagen würden) ließe sich so im Sinne einer stufenartigen Gliederung eine Entwicklungsreihe konstruieren, welche von der ,,rohen" Materie über Flechten und Moose bis zum Polypen und endlich bis hinauf zum Menschen führte. Eine generatio aequivoca, als ,,Erzeugung eines organisierten Wesens durch die Mechanik der rohen unorganisierten Materie", lehnt Kant jedoch als ungereimt ab. Er hält es aber für eine berechtigte und dankbare Aufgabe eines solchen Archäolo

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gen der Natur", die ganze Mannigfaltigkeit der organischen Formen durch eine lange Reihe von Generationen auf eine gemeinsame ursprüngliche Organisation zurückzuführen und sie so insgesamt als eine große Familie von Geschöpfen aufzufassen. Bei dem damaligen Stande der biologischen Wissenschaften mußte ihm ein solches Unternehmen allerdings als ein gewagtes Abenteuer der Vernunft" erscheinen. Er freut sich aber trotzdem des,,obgleich schwachen Strahles von Hoffnung", daß im Verfolg dieses Gedankenganges einst doch einmal mit dem Prinzip des Naturmechanismus etwas auszurichten sein möchte. Kant, der den Menschen ein mit Vernunftfähigkeit begabtes Tier (animal rationabile) nennt, äußert sogar gelegentlich in seiner ,,Anthropologie" den Gedanken, daß ,,ein Orang-Utan oder ein Schimpanse die Organe, die zum Gehen, zum Befühlen der Gegenstände und zum Sprechen dienen, sich zum Gliederbau eines Menschen ausbildete, deren Innerstes ein Organ für den Gebrauch des Verstandes enthielte und durch gesellschaftliche Kultur sich allmählich entwickelte." Es zeigt aber auch wieder Kants ganze kritische Besonnenheit, daß er sich auch von solchen kühnen Hypothesen keine endgültige Lösung des Lebensrätsels erwartet. Denn selbst wenn die Ableitung aller organischen Formen aus einer einzigen Urform jemals gelingen sollte, wäre damit das Problem der Zweckmäßigkeit nicht gelöst, sondern nur hinausgeschoben. Es müßte dann nämlich jener Urmutter alles Lebendigen schon eine zweckmäßig gestellte Organisation beigelegt werden, um den Hervorgang lebensfähiger Pflanzen- und Tierformen aus ihr begreiflich erscheinen zu lassen. Durch die weit vorausschauende Einsicht, daß für das kausale Verständnis der organischen Welt nur von einem Gesetze der Entwicklung etwas zu hoffen sei, ist Kant mit Goethe und den Zoologen Buffon und Geoffroy Saint-Hilaire ein Bahnbrecher der Abstammungslehre und ein Vorläufer Lamarcks und Darwins geworden128.

3. DIE TELEOLOGIE DER NATUR

Aber nicht nur im Bau der einzelnen Organismen, sondern auch im Ganzen der Natur, soweit es uns als Gegenstand der Erfahrung gegeben ist, tritt uns überall ein Zusammenhang, Zusammenwirken und Zusammenstim

men ihrer Teile entgegen, welche wir uns nach der Beschaffenheit unseres Geistes nicht anders begreiflich machen können, als daß sie irgendwie durch die Idee des Ganzen bestimmt seien. In diesem Sinne hat man seit jeher von einer Weisheit, Sparsamkeit, Vorsorge oder Wohltätigkeit der,,Natur" gesprochen und hat damit ganz naiv teleologische Züge in das Naturbild hineingetragen. In der Tat kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, daß auch nach dieser Richtung hin die Verstandeserkenntnis einer Ergänzung durch die Zweckbetrachtung nicht entbehren kann. Transzendental philosophie und Metaphysik der Natur begründen ja nur die allgemeinsten formalen Gesetze des Naturgeschehens. Die besondere Naturgesetzlichkeit, das Ineinandergreifen dieser besonderen Gesetze und das Zusammenstimmen der einzelnen Naturvorgänge in einem solchen Systeme von Gesetzmäßigkeiten lassen sich aber a priori weder begründen noch einsehen. So hat die Transzendental philosophie zwar gezeigt, daß empirische Erkenntnis deshalb möglich ist, weil die Gegenstände dieser Erkenntnis die Erscheinungen

sich nach denselben Gesetzen aufbauen, welche unsere Erkenntnis dieser Gegenstände bestimmen. Daß aber der ursprünglich chaotische Empfindungsstoff überhaupt in die Formen unseres Anschauens und Denkens eingeht, daß das schlechthin Gegebene sich den Bedingungen möglicher Erfahrung überhaupt fügt diese Affinität elementarster Art ist damit noch nicht geklärt. Daß ferner besondere Wahrnehmungen sich glücklicherweise zu empirischen Gesetzen qualifizieren und diese wiederum in einen allgemeinen Erfahrungszusammenhang sich schicken, muß vom Standpunkte rein verstandesmäßiger Beurteilung ganz zufällig erscheinen. Ein neues Rätsel geben die Naturdinge unserer Urteilskraft aber auch dadurch auf, daß sie unserem Bedürfnisse nach Ordnung, Übersicht und Systematik in merkwürdiger Weise entgegenkommen. Eine gewisse Gleichartigkeit oder Homogeneität der Naturformen ermöglicht ihre Zusammenordnung in Gattungen, ihre mannigfaltige Verschiedenheit bei alledem oder ihre Spezifikation läßt die Gattungen wieder in Arten und Unterarten gliedern, die stetigen Übergänge zwischen ihnen oder ihre Kontinuität wieder läßt den Gedanken ihrer inneren

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