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Psychologie: sie muß der Grundlegung durch eine apriorische Erkenntnis entbehren und kann daher auch niemals Wissenschaft im eigentlichen Sinne werden. Die Metaphysik der Natur wird daher immer nur eine Metaphysik der äußeren Natur sein können. Ihre Frage also lautet: was läßt sich von der Körperwelt a priori aussagen? Sie ist das Thema der ,,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" (1786), welche so eine Erweiterung der ,,Grundsätze" durch Aufnahme des empirischen Begriffes der Materie, wenn auch in seiner abstraktesten Gestalt, darstellen 121.

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Der Begriff der Materie entsteht durch Anwendung der Kategorie der Substanzialität auf die Erscheinungen des äußeren Sinnes. Materie ist die Substanz der physischen Welt und somit das, was die physikalischen Körper von den geometrischen unterscheidet. Unter Materie ist aber selbstverständlich immer nur eine,,substantia phaenomenon" zu verstehen, nicht etwa ein den Erscheinungen zugrunde liegendes Ding an sich. Auch wenn ihr im Transzendenten ein im übrigen völlig unbestimmbares Ding an sich entsprechen sollte, so bliebe doch das, was wir Materie nennen, seiner spezifischen Beschaffenheit nach lediglich ein Gedanke in uns": ein mit Notwendigkeit sich bildender Begriff, keine metaphysische Realität. Dieser Begriff ist empirischen Ursprungs. Denn nur die Anschauungsform des Raumes ist a priori, nicht seine Erfülltheit. Selbst die Vorstellung der Bewegung, als einer Vereinigung von Raum und Zeit, setzt die Wahrnehmung eines Beweglichen im Raume voraus. Die Materie ist somit ein ,,empirisches Datum". Da es sich hier aber um apriorische Aussagen über die Materie handelt, werden wir mit einem Minimum empirischer Begriffsbestimmungen auszukommen trachten müssen. Als solches bietet sich die Definition der Materie als einer beweglichen, den Raum erfüllenden Substanz dar, wobei sich allerdings zeigen wird, daß dieser Begriff einer materiellen Substanz im Fortgange der Untersuchung durch den der Kraft fast vollständig verdrängt wird. Da nun die Naturphilosophie nichts anderes sein will als eine Anwendung der ,,Grundsätze auf diesen empirischen Begriff, so folgt. die Untersuchung dem Schema der vier Kategorienklassen und zerfällt demnach in vier Hauptstücke: die Bewegung

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als reines Quantum betrachtet, ergibt die Phoronomie, als zur Qualität der Materie gehörig die Dynamik, die bewegte Materie in Relation ihrer Teile untereinander die Mechanik, endlich die Bewegung bloß in bezug auf die Modalität unseres Vorstellens erörtert die Phänomenologie 122.

Die Phoronomie sieht in der Materie nur ,,das Bewegliche im Raum". Da hier nur von der Bewegung als solcher die Rede ist, kann an Stelle des Körpers auch der bewegte mathematische Punkt gesetzt werden. Es ergibt sich die Einteilung der Bewegung in geradlinige und in sich zurückkehrende und der letzteren wieder in zirkulierende und oszillierende. Es wird zwischen relativem (erfülltem und deshalb wahrnehmbarem) und absolutem Raume unterschieden. Jener kann selbst bewegt gedacht werden im Verhältnis zu anderen Räumen, dieser begreift alle Räume in sich und ist daher selbst unbewegt, aber die Voraussetzung aller Bewegung. Im Verhältnis zum relativen Raum bleibt es sich gleich, ob wir einen Körper als bewegt und den Raum ruhend, oder umgekehrt den relativen Raum bewegt und den Körper ruhend denken. Die Konstruktion der Bewegungsgröße, d. h. die Zusammensetzung der Bewegung eines Punktes aus zwei oder mehreren Bewegungen bildet das weitere Thema der Phoronomie. Die Dynamik, der wichtigste Abschnitt des Ganzen, betrachtet,,das Bewegliche, sofern es einen Raum erfüllt“. Hier zeigt sich nun, daß die Materie den Raum nicht durch ihr bloßes Dasein einnimmt, sondern durch einen Antagonismus zweier Kräfte: der Attraktions- und Repulsionskraft, welche schon die Konstruktionselemente der Theorie des Himmels" gebildet hatten. Die Alleinherrschaft der Anziehungskraft müßte zuletzt die Materie im mathematischen Punkt verschwinden machen, die Alleinherrschaft der Abstoßungskraft würde sie in den unendlichen Raum zerstreuen. Im Zusammenhang damit verwirft Kant die Lehre von der atomistischen Struktur der Materie, wobei er allerdings weniger die physikalische Atomistik als die Monadologie im Auge hat, welche aus der unbegrenzten Teilbarkeit der Materie geschlossen hatte, daß sie aus absolut einfachen Teilsubstanzen zusammengesetzt sein müsse. Kant hatte bereits bewiesen, daß das Unteilbare sowenig wie der leere Raum, den diese Hypo

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these voraussetzt, Gegenstände möglicher Erfahrung sein können. Ihre Annahme erscheint aber dann unvermeidlich, wenn man in der Natur keine anderen als extensive Größen anerkennt. Nun hatten aber die ,,Antizipationen der Wahrnehmung" gezeigt, daß das Reale an der Erscheinung auch stets eine intensive Größe oder einen Grad besitze. Aus dem Gedanken einer gradweise abgestuften Erfüllung des Raumes ergibt sich aber die Möglichkeit, eine Kontinuität der Raumerfüllung anzunehmen und an Stelle des schlechthin leeren Raumes den Begriff,,komparativ-leerer Räume" zu setzen. An die Stelle der atomistischen Theorie tritt so die Kontinuitätshypothese und eine dynamistische Theorie der Materie. Kants Anschauungen standen in diesem Punkte mit der Physik seiner Zeit in Widerspruch, lassen sich aber bei entsprechender Umbildung mit der heutigen elektro-energetischen Auffassung der Materie wohl vereinen. Im Gegensatz zu ihr steht allerdings die Annahme einer Fernwirkung (,,actio in distans") der Anziehungskraft, an der Kant in Übereinstimmung mit der Schule Newtons festhalten zu müssen glaubte. Die Mechanik definiert die Materie als ,,das Bewegliche, sofern es, als ein solches, bewegende Kraft hat". Hier wird gezeigt, daß die Materie die einzige erkennbare Substanz ist, woraus nach der ersten,,Analogie" das Gesetz von der Erhaltung der Materie a priori folgt. Aus dem Kausalsatze folgt ferner, daß jede Zustandsänderung der Materie eine Ursache und, da alle ihre Bestimmungen räumlicher Natur sind, eine äußere Ursache haben müsse. Daher muß auch der Übergang aus Ruhe in Bewegung und umgekehrt eine äußere Ursache haben. Daraus folgt a priori das Gesetz der Trägheit: daß nämlich jeder Teil des Stoffes in seinem Bewegungszustande verharrt, sofern er darin nicht durch eine äußere Einwirkung gestört wird. Dieses Beharren darf aber nicht als ein positives Streben oder als Beharrungstrieb der Materie gedeutet werden. Nur lebende Wesen haben einen Zug zur Trägheit in diesem Sinne, weil sie eine unliebsame Veränderung ihres Zustandes in der Vorstellung voraussehen und ihre Kraft dagegen aufbieten können. Die Materie hat aber keinerlei innere Beschaffenheiten, geschweige denn sehende Triebe. Ihr solche anzudichten, führt zum Hylozoismus und dieser bedeutet den,,Tod aller Naturphilosophie". Aus dem glei

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also mit ganz anderer Motivierung als Goethe hatte sich Kant auch gegen die Unerkennbarkeit eines,,Inneren der Natur" gewendet:,,Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde." Aus der Anwendung des Verstandesgesetzes der Wechselwirkung ergibt sich ferner das Gesetz, daß in der Mitteilung von Bewegung Wirkung und Gegenwirkung stets einander gleich sind. Die Phänomenologie endlich betrachtet die Materie als,,das Bewegliche, sofern es, als ein solches, ein Gegenstand der Erfahrung sein kann“. Es handelt sich dabei um die Frage, unter welchen Umständen Bewegung als möglich, wirklich oder notwendig erscheint: also um die Erscheinungsart der Bewegung. Hier zeigt sich, daß die geradlinige Bewegung eines materiellen Punktes in Ansehung eines empirischen Raumes ein bloß mögliches Prädikat darstellt, das ebensogut durch die Bewegung des Raumes in entgegengesetzter Richtung ersetzt werden kann, daß aber eine absolute Bewegung, also ohne Rücksicht auf ein bestimmtes Bezugssystem unmöglich ist. Hingegen ist die Kreisbewegung eine wirkliche Eigenschaft des Bewegten, weil sie als kontinuierliche Veränderung einer geradlinigen Bewegung die Einwirkung äußerer Kräfte voraussetzt. Der logische Gegensatz ist hier nicht die relative, sondern die bloß scheinbare Bewegung. So kann allerdings in Gedanken die Achsendrehung der Erde durch die Vorstellung einer entgegengesetzten Drehung des Sternenhimmels,,völlig gleichgeltend" vertreten, nicht aber in der Erfahrung real an ihre Stelle gesetzt werden. Notwendig aber ist es, daß in jeder Bewegung eines Körpers eine gleiche, aber entgegengesetzte Bewegung eines Bezugskörpers gedacht werde. Es folgt dies aus der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung, daher Kant sagen konnte, dieser Lehrsatz bestimme die Modalität der Bewegung in Ansehung der Mechanik 123.

Im ganzen ist Kants Philosophie der Materie ein an den Prinzipien Newtonischer Physik orientierter Versuch, eine allgemeine Kinematik rein begrifflich-apriorisch zu konstruieren. Insofern als seine Absicht festgehalten werden kann, zu zeigen, was an den Vorstellungsweisen der Natur

wissenschaft auf allgemeinen Denkbedingungen beruht im Gegensatz zu dem, was nur eine Zusammenfassung von Erfahrungstatsachen ist oder bloß bildhaft-symbolischen Charakter trägt und daher dem Wandel unterworfen ist, ist dieser Versuch durchaus anerkennenswert. Wenn aber nun auch Kant immer daran festgehalten hat, daß alle besonderen Naturgesetze nur auf Grund der Erfahrung gefunden werden können, greifen manche seiner metaphysischen Konstruktionen doch bedenklich auf empirisches Gebiet über, so wenn z. B. in der ,,Dynamik" auch die Unterschiede fester und flüssiger Körper, Dichtigkeit, Reibung und Elastizität a priori deduziert werden. Dazu kommt, daß man vieles, was Kant für apodiktisch beweisbar hielt, heute doch nur als Hypothese gelten lassen würde. So kam es, daß die konstruktive Naturphilosophie Schellings und seiner Zeit an diese Kantische Metaphysik der Materie anzuknüpfen vermochte, wofür das Wort Hegels charakteristisch ist: Kant habe das Verdienst,,,durch seinen Versuch einer sogenannten Konstruktion der Materie .... den Anfang zu einem Begriff der Materie gemacht und mit diesem Versuche den Begriff einer Naturphilosophie wieder erweckt zu haben." Nun hatte Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ein,,System der reinen (spekulativen) Vernunft" unter dem Titel einer,,Metaphysik der Natur" in Aussicht gestellt,,,welches bei noch nicht der Hälfte der Weitläufigkeit dennoch ungleich reicheren Inhalt haben sollte als die,Kritik"." Die,,Metaphysischen Anfangsgründe" können dafür nur als Abschlagszahlung gelten. In der Tat hatte Kant vor, seine Lebensarbeit mit einem Werke:,,Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" zu schließen. Obwohl er seit 1796 daran zu arbeiten begann, sind uns nur einzelne zerstreute Entwürfe und Aufzeichnungen dazu erhalten. Es ist nun sehr interessant zu sehen, wie sich für Kant der Kreis des Apriorischen immer mehr erweitert und damit auch das Bereich einer,,reinen" Wissenschaft von der Natur. Wir finden da Spekulationen über einen allgemeinen Wärmestoff, der als,,eine allverbreitete, alldurchdringende, innerlich in allen ihren Teilen gleichförmig sich selbst bewegende und in dieser inneren Bewegung beharrlich begriffene Materie" bestimmt wird; über einen allgemeinen Weltäther, der an die Stelle des leeren Raumes treten soll und mit dem

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