Page images
PDF
EPUB

Anwendung auf verschiedene Gruppen des Bedingten in mehrere Einzelideen: das Unbedingte, das allen Erscheinungen des inneren Sinnes zugrunde gelegt wird, ist das unbedingte Subjekt oder die Seele; das Unbedingte als vollendeter Inbegriff aller äußeren Erscheinungen heißt Welt; das Unbedingte in Rücksicht alles Daseins überhaupt ist der Inbegriff aller Realität oder,,das Wesen aller Wesen": Gott. Dementsprechend kannte die Wolffische Ontologie drei Wissenschaften aus reiner Vernunft: die rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie. Sie wollen eine,,cognitio ex principiis" derselben Gegenstände sein, welche die ihnen parallel laufenden,,historischen" (empirischen) Disziplinen deskriptiv als ,,cognitio ex datis" behandeln. Seiner Vorliebe für architektonische Symmetrie gemäß hat Kant diese drei Ideen mit den drei Arten von Schlüssen in Verbindung gebracht, zu denen sie sich verhalten sollen wie die reinen Verstandesbegriffe zu den Urteilsformen. So schreite die Metaphysik mittels der kategorischen Schlüsse zum Begriff der Seele, mittels der hypothetischen zum Begriff des Weltganzen, mittels der disjunktiven zum Gottesbegriff. Die sich daraus ergebenden Vernunftschlüsse sind demzufolge die psychologischen Paralogismen, die kosmologischen Antinomien und die theologischen Gottesbeweise. Sie sind,,Sophistikationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste unter allen Menschen sich nicht losmachen und vielleicht zwar nach vieler Bemühung den Irrtum verhüten, den Schein aber, der ihn unaufhörlich zwackt und äfft, niemals loswerden kann“. Man fühlt aus solchen Worten deutlich, wie schwer es unserem Philosophen selbst geworden sein mag, sich von dieser Metaphysik loszuringen, als er den Schritt vom Dogmatismus zum Kritizismus wagte. Jene Trugschlüsse kritisch zu durchleuchten, ist nunmehr seine Aufgabe114.

4. DIE RATIONALE PSYCHOLOGIE

Die rationale Psychologie vermeint unabhängig von aller Erfahrung, also rein spekulativ, das Wesen der „,Seele" bestimmen zu können. Kant zeigt, daß alle ihre Beweise auf unabsichtlichen Fehlschlüssen aus irrigen Voraussetzungen, also auf Paralogismen beruhen. Sie gründen

[ocr errors]

sich durchwegs auf das reine Selbstbewußtsein des denkenden Ichs, welches als die Urtatsache der transzendentalen Apperzeption in jedem Bewußtseinsmomente enthalten ist. Dieses Ich denke" ist der alleinige Text der rationalen Psychologie, aus welchem sie ihre ganze Weisheit auswikkeln soll". Ihre Paralogismen entstehen nun durch eine ungerechtfertigte Anwendung der Kategorien auf diesen reinen, jeder Anschaulichkeit entbehrenden Ichbegriff. Dieses reine Ich bedeutet ja keine Selbstanschauung und darum auch keine Selbsterkenntnis; es ist vielmehr ein bloß formales Ich, das gleichlautend“ über den ganzen Bewußtseinsablauf hingleitet, ohne selbst einen angebbaren Inhalt zu besitzen. Die spekulative Psychologie behandelt nun aber dieses,,Ich", das ja nichts anderes ist als die charakteristische Form der Bewußtheit überhaupt, wie ein gegebenes Objekt und schließt aus ihm auf das Dasein und die Eigenschaften eines substanziellen Trägers unseres Bewußtseins: aus dem Umstande, daß das reine Ich immer nur als Subjekt und niemals als Prädikat gedacht werden kann, auf seine Substanzialität; aus der logischen Einheit der Apperzeption auf die Einfachheit dieses substanziellen Seelenwesens; aus der im Wechsel aller Bewußtseinsinhalte gleichbleibenden Form der Bewußtheit auf die metaphysische Identität der ,,Person"; aus der Möglichkeit, jenes reine Subjekt abstrakt und ohne Beziehung auf den Leib zu denken, auf seine Immaterialität und seine Trennbarkeit vom Leibe oder seine Unsterblichkeit. In allen vier Fällen liegt eine Quaternio terminorum vor, insofern dem Medius des Obersatzes im Untersatz unvermerkt ein anderer Medius unterschoben wird: dem Subjekt die Substanz, der logischen Einheit die reale Einfachheit, der logischen Identität die Personalität, der selbständigen Denkbarkeit die selbständige Existenz.

In Wahrheit läßt sich aber aus dem transzendentalen Selbstbewußtsein gar nichts für die Realität eines Trägers dieses Bewußtseins folgern, weil es keine Anschauung ist und die Kategorien nur in ihrer Anwendung auf Anschauliches reale Bedeutung gewinnen. Logisch richtigerweise ließen sich daher höchstens eine Reihe analytischer Sätze formulieren, wie: daß das Subjekt aller Gedanken nicht als Prädikat gedacht werden kann, daß die Vorstellung Ich nicht die mindeste Mannigfaltigkeit in sich

fasse, daß sie in aller Zeit numerisch identisch bleibe oder daß ich mich als denkendes Wesen von allen äußeren Dingen einschließlich meines Leibes unterscheide. Eine Erweiterung der Erkenntnis ist aber damit in keiner Weise verbunden und daher sind alle Schlüsse der rationalen Psychologie nichts wie ein unvermerkter Selbstbetrug.

Wenn es sich so als unmöglich herausstellt, über die Existenz und Beschaffenheit einer,,Seele" etwas a priori auszumachen, so kann doch die Idee einer ,,Seele" von nicht unbeträchtlichem Nutzen sein, um andere ebenso unmögliche Behauptungen abzuschneiden. Oder anders ausgedrückt: wenn es auch keine rationale Psychologie als ,,Doktrin" gibt, so kann sie doch als ,,Disziplin" von Wert sein. Denn so wenig sich die Unkörperlichkeit und Unsterblichkeit einer Seele beweisen läßt, ebensowenig läßt sie sich auch widerlegen. Wenn z. B. aus der Einheit des Selbstbewußtseins nichts für die Einfachheit eines Seelenwesens folgt, so schließt sie doch andererseits auch jede materialistische Deutung aus, da sie auch wieder dem Umstande widerstreitet, daß es im Stofflichen überhaupt nichts Einfaches gibt. Mit dem Spiritualismus ist auch der Materialismus als schlechthin unbeweisbar abgetan; mit dem Monismus aber auch zugleich der Kartesianische Dualismus der zwei metaphysischen Substanzen. An seine Stelle tritt ein phänomenalistischer oder empirischer Dualismus, welcher die Verschiedenheit der Erscheinungen des äußeren und inneren Sinnes anerkennt, ohne sie ins Metaphysische zu projizieren. Die Lösung des psycho-physischen Problems liegt also nach Kant im transzendentalen Idealismus. Ihm zufolge sind Körperliches und Seelisches erkenntnistheoretisch gleichwertig: beide existieren für uns nur in der Erfahrung, also als Erscheinungen, nicht als Dinge an sich. Alle Schwierigkeiten, die das wechselseitige Verhältnis von ,,Denken“ und „Ausdehnung" (wie man seit Descartes zu sagen pflegte) den Philosophen bereitete, rührten daher, daß man beide für metaphysische Substanzen hielt, während sie in Wahrheit doch nichts anderes sind als bestimmte, wenn auch in der Natur des menschlichen Geistes angelegte Vorstellungsweisen. Die allenfalls sich noch aufdrängende Frage könnte nur sein, wie in einem denkenden Subjekte überhaupt räumliche Anschauung möglich sei? Darauf gibt es aber keine Antwort mehr und wir müssen das ebenso als

einfache Tatsache hinnehmen, wie daß Raum und Zeit die einzigen Formen unserer Sinnlichkeit sind oder daß wir gerade an die vorliegenden Kategorien unseres Denkens gewiesen sind und an keine anderen. Ebenso muß es ganz dahingestellt bleiben, was der phänomenalen Materie und der phänomenalen Seele im Reich der Dinge an sich vielleicht zugrunde liegt. Es wäre durchaus denkbar, daß die Wesensverschiedenheit beider überhaupt nur der phänomenalen Welt angehörte und im Metaphysischen gar nicht bestünde. In diesem Falle würde das intelligible Substrat beider von gleicher Art sein und jede Denkschwierigkeit in Hinsicht ihrer wechselseitigen Beeinflussung hinwegfallen. So könnte es ja ganz wohl sein, daß dasjenige Etwas, das unseren äußeren Sinn affiziert, als Ding an sich betrachtet, selbst geistiger Natur wäre, so daß alles Ausgedehnte und Stoffliche nur die Art darstellen würde, wie die metaphysischen Wesen einander äußerlich erscheinen: „Auf solche Weise würde eben dasselbe, was in einer Beziehung körperlich heißt, in einer anderen zugleich ein denkend Wesen sein, dessen Gedanken wir zwar nicht, aber doch die Zeichen derselben in der Erscheinung anschauen können.“ Alles, was uns die äußere Erfahrung vorführt, ja zuletzt die ganze Natur, könnte demgemäß als eine symbolische Zeichensprache aus einer geistigen Welt gedeutet werden. Kant ist sich wohl bewußt, daß es sich bei solchen Gedankenflügen nur um,,Hypothesen" handeln kann, denen kein Erkenntniswert zukommt. Ihre Richtung zeigt aber doch deutlich, wie nahe die private Überzeugung des Philosophen auch damals noch der Leibnizschen Monadenlehre stand115.

Eine Psychologie a priori ist also unmöglich. An ihre Stelle tritt die empirische Psychologie als eine Art,,Physiologie des inneren Sinnes". Sie hat es nur mit Beobachtungen,,über das Spiel unserer Gedanken“ zu tun und mit der Ableitung von ,,Naturgesetzen_des_denkenden Selbst" aus ihnen. Sie ist in Wahrheit eine Psychologie ohne Seele, eine Seelenkunde rein phänomenaler Natur, wie sie Kant selbst in seiner Anthropologie zu geben versucht hat. Da sie aber keine Prinzipien a priori zugrunde liegen hat, vermag sie niemals zum Range einer eigentlichen", d. i. apodiktischen Wissenschaft aufzusteigen. Nicht einmal als,,Experimentallehre" kann sie, wie Kant meint, anderen

experimentierenden Wissenschaften (z. B. der Chemie) jemals gleichkommen, weil sich das Mannigfaltige der inneren Erscheinungen nur in Gedanken absondern, aber nicht abgesondert aufbewahren und wiederholten Versuchen unterwerfen läßt. Ebenso ist es ausgeschlossen, etwa an anderen Personen planmäßige Versuche anzustellen, da jede Beobachtung, sogar bei uns selbst, den beobachteten psychischen Zustand beeinflußt und verändert. Die Psychologie wird daher immer nur eine,,Naturbeschreibung der Seele" bleiben müssen, ohne jemals,,Seelenwissenschaft" werden zu können. Kant hat hier ganz richtig auf die Schwierigkeiten jeder Psychologie, die Lehre vom wahrhaft Seelischen sein will, hingewiesen, wenn auch sein sonst oft so Staunen erregender intuitiver Vorausblick in Hinsicht der psychologischen Methoden versagt hat116.

5. DIE RATIONALE KOSMOLOGIE

Ein ganz anderes Bild ergibt sich, wenn wir die Idee des Unbedingten in ihrer Anwendung auf die objektive Synthesis der Erscheinungen_verfolgen. Hier kommt sie als Idee eines unbedingten Zusammenhangs aller Gegenstände äußerer Erfahrung oder als Idee des Weltganzen zur Geltung, wenn wir unter ,,Welt" die „,absolute Totalität des Inbegriffs existierender Dinge“ verstehen. Obwohl sich hier also ihre Wirksamkeit innerhalb der Sinneswelt abspielt (im Gegensatz zur Psychologie, wo sie den transzendenten Begriff einer Seelensubstanz erzeugt), überschreitet doch auch die Idee einer vollendeten Gänze aller Bedingungen phänomenalen Seins die Grenze der Erfahrbarkeit und ist insofern gleichfalls transzendent. Hier zeigt sich nun die überaus merkwürdige Tatsache, daß sich die Vernunft im Verfolg dieser Idee ganz von selbst und ohne daß ihr ein Trugschluß nachgewiesen werden könnte, in Widersprüche verwickelt, insofern sich über dieselbe Sache kontradiktorisch entgegengesetzte Behauptungen als möglich erweisen, von denen jede so lange im Rechte zu sein scheint, als sie nicht durch die andere widerlegt wird. Diese natürliche Antithetik eröffnet so,,einen dialektischen Kampfplatz, wo jeder Teil die Oberhand behält, der die Erlaubnis hat, den Angriff zu tun, und derjenige gewiß unterliegt, der bloß verteidigungsweise zu verfahren genötigt ist". Der Grund ist auch hier, daß das

« PreviousContinue »