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jekt. Kants Äußerungen über diesen Punkt sind nicht überall ganz eindeutig, so daß Schopenhauer in dem Gebrauche jener konventionellen Formel ein,,altes, eingewurzeltes, aller Untersuchung abgestorbenes Vorurteil" in Kant erblicken zu müssen glaubte und ihn deshalb scharf tadelt. Kant war aber offenbar der Ansicht, daß dieser Gedanke einer Gegenstandsbeziehung überall dort mit einer gewissen Unabweislichkeit sich einstelle, wo wir uns durch die Eigengesetzlichkeit unseres Bewußtseins gebunden fühlen, so daß er ihm selbst zu einer Art Signatur für die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit empirischer Erkenntnis wurde. Nach seiner eigenen Lehre kehrt sich aber dieses Verhältnis in Wahrheit um: nicht dieser Gedanke begründet die objektive Dignität, sondern eine gewisse Beschaffenheit unserer Vorstellungen ist es, welche uns jenen Gedanken aufdrängt. So hält zwar Kant dem Buchstaben nach an der dogmatischen Abbildungstheorie fest, während gerade er es ist, der sie endgültig überwunden hat 105,

Nunmehr gestattet auch die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori der reinen Naturwissenschaft eine sichere Beantwortung. Mit den,,Grundsätzen" zusammenfallend, sind sie nichts anderes wie die allgemeinsten Verstandesgesetze, in ihrer realen Funktion als Naturgesetze betrachtet. Obwohl naturgemäß aus dem logischen Verstandesgebrauche im Erfahrungsurteil abgezogen, bringen sie uns doch nur zu Bewußtsein, was a priori in jeder Erfahrung liegt und liegen muß, weil diese Erfahrung sonst selbst unmöglich sein würde. Denn:,,die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori." Darauf, daß es ohne ihre Geltung überhaupt keine geordnete Erfahrung für uns gäbe, beruht ihre Wahrheit; auf der Identität von Verstandes- und Naturgesetz die Möglichkeit, sie a priori, d. i. unabhängig von jeder besonderen Erfahrung und doch wieder für alle Erfahrungen auszusprechen. Sie sind somit nichts anderes als ein Sich-selbst-Verstehen unseres Verstandes in seinem vorbewußten Tun, eine abstrakte Formulierung seiner konkreten Wirksamkeit. Mag es auch richtig sein, daß Kants synthetische Grundsätze

bis zu gewissem Grade den Prinzipien der Naturwissenschaft seiner Zeit angepaßt sind und daher keinen Anspruch erheben können, die absolut endgültige Fassung der Grundgesetze des Bewußtseins darzustellen, so gilt doch auch von ihnen dasselbe wie von den Kategorien überhaupt: daß es nämlich eine der wichtigsten Aufgaben der Erkenntnistheorie bleibt, hier immer tiefer zu schürfen, um den wahrhaft konstitutiven Formen des Erkennens auf die Spur zu kommen. Gibt man aber die Wandelbarkeit und Entwicklungsfähigkeit des Kategoriensystems zu, so muß man sich auch zu der Folgerung entschließen, daß nicht bloß das Weltbild der Naturwissenschaft, sondern die ,,Natur" selbst sich im Laufe der Zeiten ihnen gemäß wandelt eine Folgerung, die zu ziehen Kant sich entschieden geweigert hätte, die aber durchaus im Geiste Hegels liegt106.

Die,,Grundsätze" behaupten eine allgemeine Ge setzmäßigkeit der Natur: daß also jede Erscheinung Glied eines allgemeinen gesetzmäßigen Zusammenhanges sein müsse, andernfalls sie überhaupt für uns nicht Inhalt unseres Bewußtseins zu sein vermöchte. Hingegen weiß die Transzendentalphilosophie über die Besonderheiten der Naturvorgänge nur zu sagen, daß jede solche als ein Spezialfall jener allgemeinen Gesetzmäßigkeit anzusehen sei. Die nachkantische Spekulation hat versucht, auch den Inhalt der Erfahrung a priori aus Vernunftprinzipien abzuleiten und ist damit gescheitert. Dem besonnenen Kant war das nicht eingefallen: ,,Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen eine Natur überhaupt, als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon nicht vollständig abgeleitet werden, ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen. Es muß Erfahrung dazu kommen, um die letzteren überhaupt kennenzulernen." Woher stammen dann aber die speziellen Naturgesetze und überhaupt alle räumlich-zeitlichen Besonderheiten der Naturgestalten? Wenn in diesem Zusammenhange von ,,Erfahrung" die Rede ist, so kann damit nur die Urgegebenheit des Empfindungsstoffes gemeint sein. In diesem also müßten sie irgendwie präformiert sein und so mit den Dingen an sich in irgendwelchem geheimnisvollen

Zusammenhange stehen. Damit erneuert sich aber auch das Problem der Affinität auf einer höheren Stufe: wie erklärt sich das Eingehen jenes Urstofflichen in die Formgesetze des transzendentalen Bewußtseins? Und weiterhin die Möglichkeit, die alogischen Besonderheiten des Naturgeschehens der allgemeinen Naturgesetzlichkeit des Verstandes einzuordnen? Auf diese Fragen vermag die Transzendental philosophie keine Antwort mehr zu geben. Nur eine teleologische Betrachtung kann hier einen Schimmer von Einsicht versprechen107.

Aus alledem ergibt sich aber auch, daß den kategorialen Formen und damit unserer Verstandeserkenntnis überhaupt unübersteigliche Grenzen gesetzt sind. Zwar das physische Universum, soweit wir sein Bereich in Raum und Zeit auch erstrecken mögen, untersteht ausnahmslos den Gesetzen unseres Verstandes und ist daher der Gegenstand einer grundsätzlich unbeschränkten Ausdehnung empirischer Erkenntnis. Aber so wenig jemals etwas Inhalt unserer Erfahrung werden könnte, was sich diesen Gesetzen nicht fügte, ebensowenig haben diese selbst irgendwelche Bedeutung über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus. Als Ordnungsformen des Empirischen bleiben sie eben leere Formen, wo nichts mehr da ist, was sie zu ordnen hätten. Sie dienen, wie Kant sagt, gleichsam nur dazu,,,Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können“. Öder kurz: die Formen und Gesetze unseres Verstandes gelten nur so weit, als unsere Sinnlichkeit reicht, aber auch nicht weiter: also nur für die phänomenale Welt, welche sie in ihrer Struktur begründen, aber nicht für Dinge an sich. Zwar steht es uns frei, mit unserem Denken über die Grenzen der Sinnlichkeit hinauszugreifen, aber wir tappen dann im Leeren. Reine Gedankendinge (,,Noumena" können zwar,,im negativen Verstande“, nämlich als bloße Grenzbegriffe wirklicher Erkenntnis, methodische Bedeutung gewinnen, insofern sie uns davor warnen, die uns allein zugängliche empirische Wirklichkeit für absolut zu halten, aber sie erweitern unsere Erkenntnis in keiner Weise. Noumena in positiver Bedeutung, also Begriffe übersinnlicher Gegenstände, würden eine andere als unsere sinnliche Anschauung, nämlich eine intellektuelle, voraussetzen, die wir eben nicht besitzen. Daß bloßes Denken

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noch nicht Erkennen bedeutet, war die wichtigste Einsicht von Kants vorkritischer Zeit, die hier ihre tiefere Begründung findet.

Der gesamte Erkenntnisprozeß schwingt so zwischen zwei Polen: auf der einen Seite steht die Empfindung als Urquell aller empirischen Realität, aber zugleich als das Subjektivste und schlechthin Alogische unseres Bewußtseins; auf der anderen die reine Form des Denkens und das von ihr abgeleitete formale Gesetz als Prinzip aller Objektivität, aber für sich allein leer und bedeutungslos. Zwischen beiden spannen sich die einzelnen Phasen empirischer Erkenntnis: die zwangsweise determinierte Wahrnehmung, das Wahrnehmungsurteil, das Erfahrungsurteil, endlich die apriorische Formulierung der allgemeinsten Gesetze des Empirischen. Den Sinn des Ganzen bildet aber doch allein das Erfahrungsurteil, in welchem die Realität der Empfindung und die Objektivität des reinen Begriffes sich begegnen und das Alogische in die Form des Logischen eingeht. Nur die Durchdringung also des Sensuellen mit dem Intellektuellen und umgekehrt wieder dessen Erfüllung mit sinnlichem Inhalt begründet ein Reich gesicherten Wissens von unbegrenzter Ausdehnungsfähigkeit108

VI. DIE KRITIK DER REINEN VERNUNFT

1. DIE METAPHYSIK ALS PROBLEM

Mit der Grenzbestimmung des Gebrauches reiner Verstandesbegriffe ist im Grunde die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori der Metaphysik bereits beantwortet. Wenn unser Denkapparat einzig und allein auf die theoretische Beherrschung der phänomenalen Welt abgestimmt ist, muß er notwendig versagen, wenn er auf Transzendentes gerichtet wird. Metaphysik im herkömmlichen Sinne, nāmlich als wissenschaftliche Erkenntnis des Übersinnlichen, ist daher unmöglich. An ihre Stelle tritt jene neue Art der ,,Metaphysik als Wissenschaft", die nichts anderes sein will als das,,Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft, systematisch geordnet" und mit den Ergebnissen der Transzendentalphilosophie zusammenfällt. Aber obwohl schon der Wi

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derstreit einander bekämpfender und immerfort wechselnder metaphysischer Systeme einen deutlichen Fingerzeig für die Aussichtslosigkeit aller Bemühungen, durch reines Denken in ein Jenseits des Bewußtseins vorzudringen, hätte abgeben können, wagt der menschliche Geist doch immer wieder von neuem die Fahrt auf jenen ,,finsteren Ozean" spekulativer Metaphysik, wo ihm weder Üfer noch Leuchttürme winken.,,Metaphysik als Naturanlage" - das,,metaphysische Bedürfnis", wie später Schopenhauer sagte ist also ohne Zweifel wirklich und wurzelt offenbar tief im Wesen des menschlichen Geistes. In der Tat sind ja die Fragen, welche hier auf dem Spiele stehen, wie die nach der Existenz eines höchsten Wesens, nach unserem Schicksale nach dem Tode, nach der Freiheit unserer moralischen Selbstbestimmung und ähnliche, von solcher Wichtigkeit, daß es unmöglich wäre, in Hinsicht ihrer Gleichgültigkeit zu heucheln. Es ist daher unerläßlich, zu ihnen irgendwie Stellung zu nehmen, und zu diesem Zwecke wieder ist es notwendig, den Denkmotiven nachzugehen, welche die Vernunft in ihrem Verfolge bisher immer wieder auf Irrwege drängten. Es könnte sich ja auch herausstellen, daß die Metaphysik nur von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist, wenn sie dort erkennen wollte, wo alles Wissen naturgemäß zu Ende ist, ohne daß es doch notwendig wäre, die Gegenstände dieser vermeintlichen Erkenntnis selbst fallen zu lassen oder sie gänzlich dem Skeptizismus auszuliefern. Nun kann die spekulative Metaphysik, die zu Kants Zeiten in der Ontologie Wolffs und seiner Schule ihre vermeintliche Vollendung erreicht hatte, nach den Ergebnissen der „,Analytik" nichts anderes sein als eine bloße Scheinwissenschaft. Dieses Blendwerk der Vernunft gilt es also zu zerstören, damit ein unbefangenes Herantreten an jene letzten Fragen überhaupt möglich werde. Und das kann wieder nur geschehen, indem man versucht, seine geheimsten Wurzeln in der Natur unseres Erkenntnisvermögens bloßzulegen. Die nächste Frage lautet also: wie ist Metaphysik als Tatsache, nämlich als Scheinwissenschaft yom Übersinnlichen, überhaupt möglich109?

Nun kann die Metaphysik - das Wort künftig immer im alten ontologischen Sinne verstanden ihr Ziel nur

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