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die Formen und Gesetze unseres Verstandes aus der Erfahrung entspringen oder man entschließt sich zu der scheinbar paradoxen Ansicht, daß der Verstand seine Formen und Gesetze der primären Erfahrung aufprägt. Im ersten Fall richten sich die Verstandesbegriffe nach den Gegenständen, im zweiten die Gegenstände nach unseren Begriffen. Dort gäbe es vor aller Erkenntnis eine Natur, der wir die allgemeinsten Gesetze ihres Wirkens abzulauschen hätten; im zweiten Fall sind es die Gesetze unseres Verstandes, welche aus sinnlichen Elementen erst eine „Natur" gestalten. Eine dritte Möglichkeit, nämlich daß der göttliche Urheber aller Dinge Verstand und Natur so präformiert hätte, daß sie von selbst zusammenstimmten, lehnt Kant als eine willkürliche metaphysische Hypothese von vornherein ab. Die erste Ansicht scheidet aus bereits angeführten Gründen aus: denn nicht nur daß die Empiristen selbst zugeben mußten, daß die von Kant ,,Kategorien" genannten Begriffe in der Erfahrung nicht aufzufinden sind, würde diese Auffassung die Kategorien ihres spezifischen Charakters der Notwendigkeit entkleiden. Es bleibt also nur die zweite Möglichkeit: „der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor". Dieser Satz ist natürlich nicht so zu verstehen, als würde unser bewußtes Denken nach Belieben mit den Erscheinungen schalten und walten können. Es ist ja selbst an unabänderliche Gesetze gebunden und findet die phänomenale Wirklichkeit als schon Gegebenes vor. Was Kant meint, ist, daß uns die Tatsache der Affinität zu der Annahme zwingt, daß im Ablauf der sinnlichen Vorstellungen schon vor ihrer Beurteilung durch den Verstand, wenn auch noch unerkannt, dieselbe Gesetzmäßigkeit herrsche, welche uns auch in unserem Denken zu Bewußtsein kommt. Daß also jene unseren Denkbedürfnissen entgegenkommende Anordnung der Erfahrungsbestandteile keine zufällige, sondern eine notwendige ist, und zwar notwendig auf Grund ebenderselben Gesetze, welche auch in unserer bewußten Logik walten. Der „Verstand" als Gesetzgeber der Natur bedeutet somit nicht unser subjektiv-psychologisches Denkvermögen, sondern eben jenen Inbegriff von Gesetzmäßigkeiten, der nur nach dem uns unmittelbar bekannten logischen Wirkungsbereich dieser Gesetze benannt wird, aber auf eine tiefere gemeinsame Wurzel in der,,Natur unseres Gemütes" hinweist. Der Satz Kants besagt daher nichts anderes als die Iden

tität von Verstandesgesetz und Naturgesetz. Der Beweis für ihn liegt in der sonst unbegreiflichen Harmonie zwischen dem von unserem (bewußten) Denken unabhängigen Naturlauf und den subjektiven Bedingungen unserer Naturerkenntnis: also in der Möglichkeit von „Erfahrung als System von Erfahrungsurteilen. Erfahrung in diesem Sinne aber ist wirklich; folglich ist der Rückschluß auf die Voraussetzungen ihrer Möglichkeit notwendig. Denn es ist wie Kant sagt ,,alles dasjenige in Ansehung der Gegenstände der Erfahrung notwendig, ohne welches die Erfahrung von diesen Gegenständen selbst unmöglich sein würde 96«.

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Wären die Gegenstände der Natur Dinge an sich, so wäre dieser ganze Gedankengang undurchführbar und wir stünden nach wie vor der Zusammenstimmung von Denken und Sein ratlos gegenüber. Nun haben wir es aber nach dem transzendentalen Idealismus immer und überall nur mit Erscheinungen, also mit Vorstellungen unseres Bewußtseins zu tun. Auf diesem Standpunkte eröffnet sich uns die Aussicht, jenen auf den ersten Blick befremdlichen Satz mit verständlichem Inhalte zu erfüllen. Mögen die sinnlichen und die rationalen Elemente unserer Erkenntnis ihrem Ursprung und ihrer Art nach noch so verschieden sein, ein Wesenszug ist ihnen gemeinsam: sie sind stets an ein Bewußtsein gebunden und zwar für jeden an sein Bewußtsein, also an die Beziehung auf ein Ich. Sie müssen sich daher auch alle in gleicher Weise den Bedingungen der Einheit dieses Bewußtseins fügen und Züge dieser Gemeinsamkeit an sich tragen. Damit ist von vornherein eine innere Verwandtschaft zwischen ihnen gegeben, eine „transzendentale Affinität“, von der die empirische nur die Folge ist. Diesen höchsten Einheitspunkt, in dem Anschauen und Denken sich begegnen, nennt Kant die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption. Darunter versteht Kant die allgemeinste Bewußtseinsform überhaupt, den Charakter der Bewußtheit, der allem für uns irgendwie Existierenden anhaftet und es damit zu einer erkenntnistheoretischen Einheit zusammenschließt. Sie stellt sich dar als die allgemeine Ich-Bezogenheit, welche allen Bewußtseinsinhalten eigentümlich ist und als ihr,,Korrelatum", wenn auch nicht immer klar und deutlich, mitgedacht wird: „Das: ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte,

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welches ebensoviel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich oder wenigstens für mich nichts sein." Dieses immergleichlautende" Ich der transzendentalen Apperzeption hat für sich genommen keinen Inhalt. Es ist nur der universelle Beziehungspunkt aller Geistesfunktionen, ein formales Erkenntnissubjekt in abstracto, das unverändert in allem Wechsel der Vorstellungen sich selbst gleich bleibt und sie eben dadurch zur Einheit eines Bewußtseins zusammenschließt. Es ist nicht identisch mit dem Ich des inneren Sinnes, das auf Rezeptivität beruht und selbst phänomenal ist. Im Gegensatz zu ihm ist es nicht sensuell, sondern intellektuell; nicht empirisch bedingt (alle Empirie setzt es ja bereits voraus), sondern rein"; nicht abgeleitet, sondern ursprünglich; nicht der Zeitform unterworfen, sondern unwandelbar. Im Vergleich mit dem empirischen Bewußtsein bedeutet es ein Bewußtsein höherer Ordnung, das empirisches Subjekt und empirisches Objekt in gleicher Weise unter sich faßt. Ebensowenig führt es aber auch für sich ein abgesondertes Dasein; es ist immer nur in Gestalt empirisch-individueller Bewußtseinseinheiten realisiert, aber in allen in gleicher unveränderter Weise. Ob ich denke oder empfinde und ob ich es bin, der denkt und empfindet oder ein anderer: immer geschieht es in der nämlichen Form der Bewußtheit und Ichbezogenheit. Diese ist daher etwas Überindividuelles und in allen empirischen Subjekten identisch, aber doch auch wieder nur in ihnen und jedem ihrer Denkakte verwirklicht. Die Lehre von der transzendentalen Apperzeption ist somit weder psychologisch noch metaphysisch zu verstehen, sondern rein erkenntnistheoretisch als Ausdruck für jene Urtatsache der Bewußtheit, welche alles uns irgendwie Zugängliche charakterisiert 97.

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Wenn nun alle Vorstellungen, seien sie sinnlichen oder intellektuellen Ursprungs, zur transzendentalen Apperzeption in notwendiger Beziehung stehen, so stehen sie insofern auch untereinander in notwendiger Beziehung. Das ist der Grund ihrer,,transzendentalen Affinität", welche sich dann im empirischen Bewußtsein darin äußert, daß die Erscheinungen sich den Formen unseres Denkens angepaßt erweisen. Die transzendentale Einheit der Apperzeption macht, wie Kant sagt, aus allen möglichen Erscheinungen einen „Zusammenhang nach Gesetzen" und diese Gesetze sind eben keine anderen als die Gesetze unseres Verstandes. Im besonderen

ist das so zu denken, daß schon in der Entstehung der Erscheinungen, uns unbewußt, dieselbe Gesetzmäßigkeit wirksam ist, auf Grund deren wir dann die Synthese dieser Erscheinungen in objektiv gültigen Urteilen vollziehen. Im eigentlichen Sinne,,gegeben" ist ja bekanntlich nur der gänzlich amorphe Empfindungsstoff, aus dem erst durch seine Formung in Raum und Zeit die „Erscheinungen" hervorgehen. Diese Formgebung wurde von der transzendentalen Ästhetik vorläufig als Tatsache behandelt, Nun aber ist sie ihrem tieferen Wesen nach dahin zu verstehen, daß sie das Werk einer Synthesis ist, welche der unbewußt arbeitende Verstand (unter dem Namen der „produktiven Einbildungskraft) vollzieht, indem er das Mannigfaltige der Empfindung seinen kategorialen Urformen nach zu den sinnlichen Erscheinungen zusammenfügt. Ja sogar die reinen Raumgestalten und die Zeitreihe selbst sind das Produkt einer solchen ursprünglichen Synthese intellektueller Art: erst durch sie wird aus einer bloßen Form der Anschauung die formale Anschauung, d. i. die Vorstellung des reinen Raumes und der reinen Zeit. Der „Verstand" ist so nicht nur in seiner logischen Funktion für unser bewußtes Denken ein Werkzeug der Welterkenntnis, er ist in seiner unbewußt-transzendentalen Funktion auch der Weltbaumeister, der aus fragmentarischen und chaotischen Empfindungselementen mit Hilfe der beiden Anschauungsformen die Wahrnehmungswelt gestaltet, die uns dann als ein Gegebenes gegenübertritt. Auf den einfachsten Ausdruck gebracht, heißt dies: die Synthesis der Empfindungselemente zur Einheit sinnlicher Gegenstände erfolgt auf Grund derselben Gesetze und in denselben Formen wie die Synthesis unserer Vorstellungen im Erfahrungsurteil. Diese Formen sind die Kategorien. Sie sind die allgemeinen Beziehungsformen, in denen sowohl der sinnliche wie der intellektuelle Faktor unseres Weltbildes zur transzendentalen Apperzeption stehen. Daraus erklärt sich ihre reale Bedeutung sowie der Umstand, daß diese mit ihrer logischen genau zusammenstimmt. Die transzendentale und die logische Synthese verlaufen ja in denselben Formen, nur daß, was hier von uns bewußt geschieht, dort als unbewußt vor sich gehend gedacht werden muß: „Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen

in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt." Den Erscheinungen steckt also, wenn sie vor unser Bewußtsein treten, sozusagen schon ein kategoriales Gerüst im Leibe und es ist dann kein Wunder, wenn wir in ihrem Verhalten gleichsam einen Widerschein unseres eigenen Geistes entdecken und sie unseren Denkbedürfnissen so willfährig finden. Die Frage: Wie ist Natur möglich ?" erledigt sich nun dahin, daß die Natur eben „unser“ Werk ist; das will heißen, daß jene Ordnung und Regelmäßigkeit, welche wir „Natur“ nennen, durch die kategoriale Struktur bedingt ist, die allen Inhalten des transzendentalen Bewußtseins und also auch den äußeren Erscheinungen ihrem Wesen nach eignet: „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt." Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß diese vor-empirische Synthesis nicht im Sinne eines zeitlichen Vorganges oder psychologischen Prozesses aufzufassen ist, sondern auch wieder nur eine transzendentalphilosophische Konstruktion bedeutet, dazu bestimmt, uns die Tatsache empirischer Erkenntnis verständlich zu machen. Sie ist nur der systematisch ausgebaute Ausdruck für den auf den transzendentalen Idealismus zurückgehenden schlichten Gedanken, daß alles, was uns bewußt werden soll, an die Bedingungen der Bewußtheit überhaupt gebunden ist und daher ihnen gemäß sein muß 98.

6. DIE ALLGEMEINSTEN GESETZE DER NATUR

Welches sind nun die Gesetze, welche der Verstand der Natur vorschreibt, oder vielmehr: durch die er erst die Natur als geordnetes Ganzes hervorbringt? Sie müssen sich ergeben, wenn wir die Wirksamkeit der Kategorien in concreto verfolgen und daraus die allgemeinen Regeln ihrer Anwendung ableiten. Wir werden dann jenes System synthetischer Urteile a priori erhalten, das Kant,,reine Naturwissenschaft" nennt und dessen Möglichkeit den zweiten Teil seiner Hauptfrage bildet. Früher ist aber noch eine Vorfrage zu erledigen. Dieselben Kategorien, welche die logische Form unserer Urteile abgeben, sollen ihre transzendentale Wirksamkeit auch unmittelbar an der empirischen Anschauung entfalten. Nun sind sie aber als reine Verstandesbegriffe

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