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Die zweite Unzufriedenheit der Menschen trifft die Ordnung der Natur in Ansehung der Kürze des Lebens. Man muss sich zwar · nur schlecht auf die Schätzung des Werthes desselben verstehen, wenn man noch wünschen kann, dass es länger währen solle, als es wirklich dauert; denn das wäre doch nur eine Verlängerung eines mit lauter Mühseligkeiten beständig ringenden Spiels. Aber man mag es einer kindi: schen Urtheilskraft allenfalls nicht verdenken, dass sie den Tod fürchtet, ohne das Leben zu lieben, und indem es ihr schwer wird, ihr Dasein jeden einzelnen Tag mit leidlicher Zufriedenheit durchzubringen, dennoch der Tage niemals genug hat, diese Plage zu wiederholen. Wenn man aber

nur bedenkt, wie viel Sorge um die Mittel zur Hinbringung eines so kurzen Lebens uns quält, wie viel Ungerechtigkeit auf Hoffnung eines künftigen, obzwar so wenig dauernden Genusses ausgeübt wird; so muss man vernünftiger Weise glauben, dass, wenn die Menschen in eine Lebensdauer von 800 und mehr Jahren hinaussehen könnten, der Vater vor seinem Sohne, ein Bruder vor dem anderen, oder ein Freund neben dem anderen kaum seines Lebens mehr sicher sein würde, und dass die Laster eines so lange lebenden Menschengeschlechts zu einer Höhe steigen müssten, wodurch sie keines bessern Schicksals würdig sein würden, als in einer allgemeinen Ueberschwemmung von der Erde vertilgt zu werden (v. 12. 13).

Der dritte Wunsch, oder vielmehr die leere Sehnsucht, (denn man ist sich bewusst, dass das Gewünschte uns niemals zu Theil werden kann,) ist das Schattenbild des von Dichtern so gepriesenen goldenen Zeitalters; wo eine Entledigung von allem eingebildeten Bedürfnisse, das uns die Ueppigkeit aufladet, sein soll, eine Genügsamkeit mit dem blosen Bedarf der Natur, eine durchgängige Gleichheit der Menschen, ein immerwährender Friede unter ihnen, mit einem Worté, der reine Genuss eines sorgenfreien, in Faulheit verträumten oder mit kindischem Spiel vertändelten Lebens; eine Sehnsucht, die die Robinsone und die Reisen nach den Südseeinseln so reizend macht, überhaupt aber den Ueberdruss beweiset, den der denkende Mensch am civilisirten Leben fühlt, wenn er dessen Werth lediglich im Genusse sucht, und das Gegengewicht der Faulheit dabei in Anschlag bringt, wenn etwa die Vernunft ihn erinnert, dem Leben durch Handlungen einen Werth zu geben. Die Nichtigkeit dieses Wunsches zur Rückkehr in jene Zeit der Einfalt und Unschuld wird hinreichend gezeigt, wenn man durch die obige Vorstellung des ursprünglichen Zustandes belehrt wird: der Mensch könne sich darin nicht erhalten, darum weil er ihm nicht genügt; noch weniger sei er geneigt,

jemals wieder in denselben zurückzukehren; so dass er also den gegenwärtigen Zustand der Mühseligkeiten doch immer sich selbst und seiner eigenen Wahl beizumessen habe.

Es ist also dem Menschen eine solche Darstellung seiner Geschichte erspriesslich und dienlich zur Lehre und Besserung, die ihm zeigt, dass er der Vorsehung, wegen der Uebel, die ihn drücken, keine Schuld geben müsse; dass er seine eigene Vergehung auch nicht einem ursprünglichen Verbrechen seiner Stammeltern zuzuschreiben berechtigt sei, wodurch etwa ein Hang zu ähnlichen Uebertretungen in der Nachkommenschaft erblich geworden wäre, (denn willkührliche Handlungen können nichts Anerbendes bei sich führen,) sondern dass er das von jenen Geschehene mit vollem Rechte als von ihm selbst gethan anerkennen und sich also von allen Uebeln, die aus dem Missbrauche seiner Vernunft entspringen, die Schuld gänzlich selbst beizumessen habe, indem er sich selbst wohl bewusst werden kann, er würde sich in denselben Umständen gerade eben so verhalten, und den ersten Gebrauch der Vernunft damit gemacht haben, sie (selbst wider den Wink der Natur) zu missbrauchen. Die eigentlichen physischen Uebel, wenn jener Punkt wegen der moralischen berichtigt ist, können alsdann, in der Gegenrechnung von Verdienst und Schuld, schwerlich einen Ueberschuss zu unserem Vortheil austragen.

Und so ist der Ausschlag einer durch Philosophie versuchten ältesten Menschengeschichte: Zufriedenheit mit der Vorsehung und dem. Gange menschlicher Dinge im Ganzen, der nicht vom Guten anhebend zum Bösen fortgeht, sondern sich vom Schlechtern zum Besseren allmählig entwickelt; zu welchem Fortschritt denn ein Jeder an seinem Theile, so viel in seinen Kräften steht, beizutragen, durch die Natur selbst berufen ist.

XI.

Recension

von

GOTTL. HUFELAND'S

Versuch über den Grundsatz

des Naturrechts.

1786.

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