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X.

Muthmasslicher Anfang

der Menschengeschichte.

1786.

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Im Fortgange einer Geschichte Muthmassungen einzustreuen, um Lücken in den Nachrichten auszufüllen, ist wohl erlaubt; weil das Vorhergehende, als entfernte Ursache, und das Nachfolgende, als Wirkung, eine ziemlich sichere Leitung zur Entdeckung der Mittelursachen abgeben kann, um den Uebergang begreiflich zu machen. Allein eine Geschichte ganz und gar aus Muthmassungen entstehen zu lassen, scheint nicht viel besser, als den Entwurf zu einem Roman zu machen. Auch würde sie nicht den Namen einer muthmasslichen Geschichte, sondern einer blosen Erdichtung führen können. Gleichwohl kann das, was im Fortgange der Geschichte menschlicher Handlungen nicht gewagt werden darf, doch wohl über den ersten Anfang derselben, sofern ihn die Natur macht, durch Muthmassungen versucht werden. Denn dieser darf nicht erdichtet, sondern kann von der Erfahrung hergenommen werden; wenn man voraussetzt, dass diese im ersten Anfange nicht besser oder schlechter gewesen, als wir sie jetzt antreffen; eine Voraussetzung, die der Analogie der Natur gemäss ist, und nichts Gewagtes bei sich führt. Eine Geschichte der ersten Entwickelung der Freiheit aus ihrer ursprünglichen Anlage in der Natur des Menschen ist daher ganz etwas Anderes, als die Geschichte der Freiheit in ihrem Fortgange, die nur auf Nachrichten gegründet werden kann.

Gleichwohl, da Muthmassungen ihre Ansprüche auf Beistimmung nicht zu hoch treiben dürfen, sondern sich allenfalls nur als eine der Einbildungskraft in Begleitung der Vernunft, zur Erholung und Gesundheit des Gemüths, vergönnte Bewegung, nicht aber für ein ernsthaftes Geschäft ankündigen müssen; so können sie sich auch nicht mit derjenigen Geschichte messen, die über ebendieselbe Begebenheit als wirkliche Nachricht aufgestellt und geglaubt wird, deren Prüfung auf ganz andern Gründen, als bloser Naturphilosophie beruht. Eben darum, und da ich hier eine blose Lustreise wage, darf ich mir wohl die Gunst versprechen, dass es mir erlaubt sei, mich einer heiligen Urkunde dazu als Karte zu

bedienen und mir zugleich einzubilden, als ob mein Zug, den ich auf den Flügeln der Einbildungskraft, obgleich nicht ohne einen durch Vernunft an Erfahrung geknüpften Leitfaden, thue, gerade dieselbe Linie treffe, die jene historisch vorgezeichnet enthält. Der Leser wird die Blätter jener Urkunde (1 MOSE Cap. II-VI) aufschlagen, und Schritt für Schritt nachsehen, ob der Weg, den die Philosophie nach Begriffen nimmt, mit dem, welchen jene angibt, zusammentreffe.

Will man nicht in Muthmassungen schwärmen, so muss der Anfang von dem gemacht werden, was keiner Ableitung aus vorhergehenden in Naturursachen durch menschliche Vernunft fähig ist, also mit der Existenz des Menschen; und zwar in seiner ausgebildeten Grösse, weil er der mütterlichen Beihülfe entbehren muss; in einem Paare, damit er seine Art fortpflanze; und auch nur einem einzigen Paare, damit nicht sofort der Krieg entspringe, wenn die Menschen einander nahe und doch einander fremd wären, oder auch damit die Natur nicht beschuldigt werde, sie habe durch die Verschiedenheit der Abstammung es an der schicklichsten Veranstaltung zur Geselligkeit, als dem grössten Zwecke der menschlichen Bestimmung, fehlen lassen; denn die Einheit der Familie, woraus alle Menschen abstammen sollten, war ohne Zweifel hiezu die beste Anordnung. Ich setze dieses Paar in einen wider den Anfall der Raubthiere gesicherten und mit allen Mitteln der Nahrung von der Natur reichlich versehenen Platz, also gleichsam in einen Garten, unter einem jederzeit milden Himmelsstriche. Und, was noch mehr ist, ich betrachte es nur, nachdem es schon einen mächtigen Schritt in der Geschicklichkeit gethan hat, sich seiner Kräfte zu bedienen, und fange also nicht von der gänzlichen Rohigkeit seiner Natur an; denn es könnten der Muthmassungen für den Leser leicht zu viel, der Wahrscheinlichkeiten aber zu wenig werden, wenn ich diese Lücke, die vermuthlich einen grossen Zeitraum begreift, auszufüllen unternehmen wollte. Der erste Mensch konnte also stehen und gehen; er konnte sprechen (1 MOSE Cap. II, v. 20), ja reden d. i. nach zusammenhängenden

*

* Der Trieb, sich mitzutheilen, muss den Menschen, der noch allein ist, gegen lebende Wesen ausser ihm, vornehmlich diejenigen, die einen Laut geben, welchen er nachahmen und der nachher zum Namen dienen kann, zuerst zur Kundmachung seiner Existenz bewogen haben. Eine ähnliche Wirkung dieses Triebes sieht man auch noch an Kindern und an gedankenlosen Leuten, die durch Schnarren, Schreien, Pfeifen, Singen und andere lärmende Unterhaltungen, (oft auch dergleichen

Begriffen sprechen (v. 23), mithin denken. Lauter Geschicklichkeiten, die er selbst alle erwerben musste, (denn wären sie anerschaffen, so wür-g den sie auch anerben, welches aber der Erfahrung widerstreitet ;) mit denen ich ihn aber jetzt schon als versehen annehme, um blos die Entwickelung des Sittlichen in seinem Thun und Lassen, welches jene Geschicklichkeit nothwendig voraussetzt, in Betracht zu ziehen.

Der Instinct, diese. Stimme Gottes, der alle Thiere gehorchen, muss den Neuling anfänglich allein leiten. Dieser erlaubte ihm einige Dinge zur Nahrung, andere verbot er ihm (III, 2. 3). Es ist aber nicht nöthig, einen besondern jetzt verlorenen Instinct zu diesem Behuf anzunehmen; es konnte blos der Sinn des Geruchs und dessen Verwandtschaft mit dem Organ des Geschmacks, dieses letzteren bekannte Sympathie aber mit den Werkzeugen der Verdauung, und also gleichsam das Vermögen der Vorempfindung der Tauglichkeit oder Untauglichkeit einer Speise zum Genusse, dergleichen man auch noch jetzt wahrnimmt, gewesen sein. Sogar darf man diesen Sinn im ersten Paare nicht schärfer, als er jetzt ist, annehmen; denn es ist bekannt genug, welcher Unterschied in der Wahrnehmungskunst zwischen den blos mit ihren Sinnen, und den zugleich mit ihren Gedanken beschäftigten, dadurch aber von ihren Empfindungen abgewandten Menschen angetroffen werde.

So lange der unerfahrene Mensch diesem Rufe der Natur gehorchte, so befand er sich gut dabei. Allein die Vernunft fing bald an, sich zu regen, und suchte durch Vergleichung des Genossenen mit dem, was ihm ein anderer Sinn, als der, woran der Instinct gebunden war, etwa der Sinn des Gesichts, als dem sonst Genossenen ähnlich vorstellte, seine Kenntniss der Nahrungsmittel über die Schranken des Instincts zu erweitern (III, 6). Dieser Versuch hätte zufälliger Weise noch gut genug ausfallen können, obgleich der Instinct nicht anrieth, wenn er nur nicht widersprach. Allein es ist eine Eigenschaft der Vernunft, dass sie Begierden mit Beihülfe der Einbildungskraft, nicht allein ohne einen darauf gerichteten Naturtrieb, sondern sogar wider denselben erkünstelni kann, welche im Anfange den Namen der Lüsternheit bekommen, wodurch aber nach und nach ein ganzer Schwarm entbehrlicher, ja sogar naturwidriger Neigungen, unter der Benennung der Ueppigkeit

Andachten,) den denkenden Theil des gemeinen Wesens stören. Denn ich sehe keinen andern Bewegungsgrund hiezu, als dass sie ihre Existenz weit und breit um sich kund machen wollen.

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