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6. Der kategorische Imperativ

Um nun zu einer wirklichen „Metaphysik der Sitten" zu gelangen, müssen wir das praktische Vernunftvermögen von feinen allgemeinen Bestimmungsregeln an bis dahin, wo aus ihm der Begriff der Pflicht entspringt, verfolgen und deutlich darstellen" (Gr. 412).

Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Geseßen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Geseze, das heißt nach Grundsäßen (Prinzipien) zu handeln. Dies Vermögen nennt Kant „Wille“. Da Vernunft erforderlich ist, um aus den Geseßen abzuleiten, wie zu handeln ist, so ist für ihn Wille" nichts anderes als „praktische Vernunft“.

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Ein vollkommen guter, das heißt „heiliger“ Wille würde zwar auch unter den objektiven Gesetzen des Guten stehen, sich aber durch sie nicht genötigt fühlen, da er von selbst notwendig mit dem Geseß übereinstimmte. Für ihn wären die Gesehe eigentlich keine „Gebote“ („Imperative"). Wohl aber find fie das für den Menschen, dessen Wille ja nicht nur durch die reine Achtung vor dem Gesetz, sondern auch durch die Neigung beeinflußt wird.

Alle Imperative gebieten entweder hypothetisch (das heißt: unter einer Bedingung) oder kategorisch (das heißt: unbedingt). Die hypothetischen bezeichnen Handlungen als gut zu irgendeinem möglichen oder wirklichen Zweck. Die Anweisungen zur Erreichung möglicher Zwecke können „Imperative der Geschicklichkeit“ (oder „technische“) heißen. Ob der Zweck vernünftig und gut sei, steht dabei gar nicht in Frage, sondern

nur, was man tun müsse, um ihn zu erreichen. „Die Vorschriften für den Arzt, um seinen Mann auf gründliche Weise gesund zu machen, und für den Giftmischer, um ihn sicher zu töten, sind insofern von gleichem Wert, als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen zu bewirken.“

Es gibt nun einen Zweck, den man bei allen vernünftigen, auch von Neigungen beeinflußten Wesen als wirklich voraussehen kann, das ist die Absicht auf Glückseligkeit. Die Jmperative, die zur Erreichung dieses Zieles Anweisung geben. kann man als Imperative der Klugheit oder als „pragmatische“ bezeichnen.

Die eudämonistische Moral des achtzehnten Jahrhunderts neigte ja dazu, in diesen die sittlichen Imperative zu sehen. Das zwanzigste Jahrhundert, das man mit Recht als das „technische“ bezeichnet hat, beschränkte sich sogar darauf, nur die Macht des Menschen zu steigern - irgendwelche Zwecke zu erreichen, mochten sie selbst in der Vernichtung menschlichen Glückes bestehen (wie sich vor allem in der raffinierten Steigerung der Kriegstechnik zeigte).

Schon Kant klagt, daß die Eltern seiner Zeit einseitig nur auf die technische Ausbildung ihrer Kinder Wert legten, „und diese Sorgfalt ist so groß, daß sie darüber gemeiniglich verabsäumen, ihnen das Urteil über den Wert der Dinge, die sie sich etwa zu Zwecken machen möchten, zu bilden und zu berichtigen“ (Gr. 415).

Sowohl jenes Abirren ins Eudämonistische wie das ins einseitig Technische hat Kant überwunden, indem er von den pragmatischen und technischen Imperativen die kategorischen unterscheidet als die eigentlich sittlichen, die für

unser Handeln in allererster Linie maßgebend sein müssen. Jene beiden ersten sind hypothetisch, sie gebieten Handlungen nicht schlechthin, sondern nur unter der Bedingung, daß eine andere Absicht vorliegt, zu deren Erreichung der Imperativ befolgt werden muß. Die kategorischen Imperative dagegen bezeichnen Handlungen als „an sich gut“, als „notwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen“; sie gebieten insofern unbedingt, sie stellen insofern ein Geseß von objektiver und mithin allgemein gültiger Notwendigkeit für uns auf, dem auch wider unsere Neigung Folge geleistet werden soll.

Nun erhebt sich die Frage, wie sind alle diese Imperative „möglich"? Der Sinn dieser Frage ist nicht der, wie ihre Befolgung möglich ist, sondern wie die in ihnen enthaltene Nötigung des Willens", das heißt verpflichtende Kraft gedacht" und eben damit verständlich gemacht werden kann.

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Die Beantwortung dieser Frage ist bei den technischen und pragmatischen Imperativen leicht. Wer den Zweck will, der will sofern er „Vernunft" hat auch die zu seiner Erreichung notwendigen Mittel, soweit sie in seiner Gewalt sind. Die hypothetischen Imperative sind mithin „analytisch" (herauslösend); denn im Wollen des Zwecks ist das Wollen der Mittel schon seinem Sinn nach enthalten; und diese Imperative heben das Wollen der Mittel lediglich als notwendig heraus, bringen zum Bewußtsein des Wollenden, was eigentlich schon in dem Sinn seines Wollens liegt.

Weit schwieriger ist die Frage, wie ein kategorischer Imperativ möglich, das heißt: in seiner objektiven Haltung und verpflichtenden Kraft verständlich zu machen ist. Denn er

ist nicht wie der hypothetische ein analytischer, sondern ein „synthetischer" (zusammenfügender) Saß a priori. Bei ihm wird ja nicht vorausgesetzt, daß der Wille schon irgend einen Zweck will und nur analytisch festgestellt, daß er dann vernünftigerweise auch die Mittel wollen muß; vielmehr wird bei dem kategorischen Imperativ mit dem Wollen ein Tun, das Erstreben eines Zwecks (nämlich das Willensziel: geset mäßig zu handeln) „zusammengefügt". Es heißt hier nicht: wenn du dies willst, mußt du so und so handeln (wie beim hypothetischen), sondern es heißt lediglich: du sollst so (nåmlich gesetzmäßig) handeln.

Die schwierige Frage, wie ein kategorischer Imperativ möglich sei, will Kant bis zum dritten Abschnitt zurückstellen. Zunächst ist er bemüht, dessen Sinn noch zu größerer Klarheit zu bringen.

Hypothetische Imperative gibt es so viele, als wir uns überhaupt Zwecke sehen können; der kategorische Imperativ dagegen ist, wie wir bereits sahen (vgl. Gr. 403), ein einziger, nämlich: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde1" (Gr. 421).

An mehreren Beispielen sucht Kant erneut den Sinn und die Anwendbarkeit des kategorischen Imperativs auf unser praktisches Handeln klarzustellen. Es ergeben sich ihm

1 Der Wortlaut dieser ersten Formulierung des kategorischen Imperativs ist an verschiedenen Stellen verschieden; auch dürfte der Sinn nicht immer ganz derselbe sein; vgl. mein Buch „Kants Ethik“ S. 43, A. und S. 173 ff. Über das Verhält nis der drei Formulierungen f. Gr. 436.

aus dem Imperativ zwei Kennzeichen des unfittlichen Handelns. Manche Handlungen sind derart, daß ihre Marime als allgemeines Geseß nicht ohne Selbstwiderspruch gedacht werden kann; andere sind so beschaffen, daß wir sie wenigstens nicht als allgemeines Gesetz wollen können.

Ein allgemeines Geseß, daß man lügenhafte Versprechen geben oder nicht beweisbare Deposita unterschlagen solle, würde in sich selbst widerspruchsvoll sein; denn es würde einerseits Versprechen bzw. Deposita, andererseits ein unwahrhaftiges Verhalten gebieten, das Versprechungen und das Niederlegen von Depositen zu einer finnlosen Handlung machen würde; denn deren Sinn ist doch, daß mir geglaubt, bzw. das anvertraute Gut mir zurückgegeben werde.

Bedeutsamer und auf alle Handlungen anwendbar ist das zweite Kennzeichen. Es paßt darum zwar auch auf die eben angeführten Beispiele, sofern man in sich widerspruchsvolle und insofern sinnlose Handlungen vernünftigerweise nicht wollen kann. Es paßt aber auch für andere Handlungen, auf die jenes erste Kennzeichen nicht anwendbar ist: man kann zum Beispiel ein allgemeines Geseß, daß Menschen aus Selbstsucht sich in Not gegenseitige Unterstüßung versagten, oder aus Trägheit ihre Naturanlagen unausgebildet ließen, nicht = wollen.

Man hat nun freilich mit gutem Grund die Frage aufgeworfen: warum soll ich derartiges nicht wollen können? Kant antwortet auf diese Frage in Beziehung auf das erste Beispiel: „Ein Wille, der dies beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle doch manche sich ereignen können, wo er Anderer Liebe und Teilnehmung bedarf, und wo er

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