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Aber diese Auffassung gründet sich einseitig auf die Beichtung des Inhalts der sittlichen Anschauungen; sie bietet edoch gar keine Antwort auf die Frage, wie es denn komme, daß wir so verschiedenartige Erscheinungen alle unter den einen Begriff der „Sittlichkeit“ zusammenfassen. Sie müssen doch mindestens etwas Übereinstimmendes, einen gleichbleibenden Wesenszug haben. Mit genialem Blick hat Kant diesen entdeckt und als einen „formalen“ charakterisiert. Wo immer wir oon sittlich gutem Verhalten reden, da geht es — mag sein Inhalt sein, welcher er wolle aus einem Wollen hervor, das aus reiner Achtung einer Pflicht, einem „Gesetz" gehorcht.

Wie oft solche Sittlichkeit Verwirklichung findet, darauf kommt es für unsere Frage gar nicht an; denn sie betrifft nicht die Wirklichkeit, sondern das Wesen des Sittlichen. Kants Antwort auf diese Frage aber beschreibt gleichsam die innere „Einstellung" des sittlich Handelnden, das Wesen der sittlichen Gesinnung: sie besteht darin, daß der Mensch aus reiner Achtung einem als objektiv gültig aufgefaßten Geseß Ge= horsam leistet.

Da nun dessen Inhalt und die aus seiner Befolgung erwarteten Folgen für den guten Willen nicht entscheidend sein können, so muß das, was uns „reine Achtung" abnötigt, der Gesezescharakter selbst, die „bloße Gesezmäßigkeit“ als solche sein. Will ich also sittlich handeln, so darf ich „niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Marime [das heißt: mein subjektiver Grundsatz] solle ein allgemeines Gesez werden“ (Gr. 402).

Kant erläutert diesen Sah durch ein Beispiel. Darf ich, wenn ich in Not bin, nicht ein Versprechen geben in der Ab

sicht, es nicht zu erfüllen? Es ist dabei nicht die Frage, ob das klug ist; denn dann wäre ja Neigung zu meinem Vorteil oder Furcht vor nachteiligen Folgen entscheidend; vielmehr ist der Sinn der Frage, ob dies Verhalten das richtige, das pflichtmäßige sei. Um mich darüber „auf die allerkürzeste und doch untrügliche Art zu belehren", frage ich mich: „Würde ich damit zufrieden sein, daß meine Marime (mich durch ein unwahres Versprechen aus Verlegenheit zu ziehen) als ein allgemeines Gesetz (sowohl für mich, als andere) gelten solle?“ Dabei werde ich bald inne: bestünde ein allgemeines Geses, lügenhafte Versprechen zu geben, so würde keiner mehr dem anderen Glauben schenken, Versprechen würden also sinnlos werden; „meine Marime, sobald sie zum allgemeinen Geseß gemacht würde, müßte sich selbst zerstören“ (Gr. 403).

Eine solche Betrachtung liegt ja auch dem gewöhnlichen Bewußtsein, das nie über ethische Fragen philosophiert hat, nahe. Unsere Neigungen verlocken uns immer wieder zu Handlungen, gegenüber denen von selbst uns die Frage sich aufdrängt: wie wäre es, wenn das alle täten? Zum Beispiel jemand hätte gern Feldblumen und tröstet sich: es richtet ja nicht viel Schaden an, wenn ich als Einzelner über die Wiese gehe. Aber wie wäre es, wenn alle so handelten; insbesondere wenn die Wiese dir gehörte?

Daß wir so instinktiv uns fragen, ob ein Verhalten sich auch zum allgemeinen Geseß eigne, darin verrät sich, daß uns „die Vernunft für eine allgemeine Gesetzgebung eine unmittelbare Achtung abgeneigt“.

Damit haben wir das Grundwerturteil erreicht, in dem Kant das Fundament, das Prinzip der Sittlichkeit aufdeckt.

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Zusammenfassend können wir darüber folgendes sagen: „ Wert des an sich guten Willens geht über alles." Dieser gute Wille liegt dann vor, wenn die Pflicht jedem andern Beweggrund vorgeht, das heißt wenn „aus Pflicht“ gewollt und geSandelt wird. Das aber bedeutet, daß,,aus reiner Achtung für Das praktische Gesetz" gehandelt wird.

Die Gesetzmäßigkeit des Handelns wird mithin als ein Wert geschäßt, „welcher allen Wert dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit überwiegt“ (Gr. 403).

Wenn der erste Abschnitt der „Grundlegung“ uns von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen" führen wollte, so ist nunmehr dieses Ziel erreicht: es ist das „Prinzip“, das heißt: die leßte Wertschäßung, die all unserer fittlichen Beurteilung zugrunde liegt, in allgemeiner (abstrakter) Form klargestellt. Im gewöhnlichen (vorphilosophischen) Bewußtsein wirkt sie natürlich nur in instinktiver (gefühlsmäßiger) Form, aber mit diesem Kompasse in der Hand, weiß man in allen vorkommenden [konkreten] Fällen sehr gut Bescheid, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig oder pflichtwidrig sei“. „Man bedarf also keiner Wissenschaft und Philosophie, um zu wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein“ (Gr. 404).

Hier bekundet sich wieder mit aller Deutlichkeit, wie sehr der große Theoretiker Kant von allem Intellektualismus, von aller Überschätzung des Philosophierens selbst entfernt ist. Ja, er legt sich sogar die Frage vor, ob es nicht ratsamer sei, über moralische Dinge nicht zu philosophieren und es bei dem gemeinen Vernunfturteil bewenden zu lassen“.

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Das Philosophieren darüber rechtfertigt er nicht sowoh aus dem theoretischen Grund, daß die klare Erkenntnis de Wesens der Sittlichkeit an sich wertvoll sei, sondern aus einen praktischen. „Der Mensch fühlt in sich selbst ein mächtige Gegengewicht gegen alle Gebote der Pflicht, die ihm die Ver nunft so hochachtungswürdig vorstellt, an seinen Bedürfnisse und Neigungen, deren ganze Befriedigung er unter den Namen Glückseligkeit zusammenfaßt.“ Daraus entspringt nu ein, Hang, wider jene strenge Geseße der Pflicht zu vernünfteln“, Aus diesem Hang" entspringt zum Beispiel die ganze eu dämonistische Ethik, die sich bemüht, alles sittliche Wollen un Handeln lediglich als Mittel zur Glückseligkeit hinzustellen Das aber führt zu einer Trübung und Erweichung des sitt lichen Bewußtseins. Somit ist ein Philosophieren, das desse wirkliches Prinzip klarstellt, auch in praktisch-sittlichem Sinn wertvoll.

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5. Pflicht als Begriff a priori

Die Überschrift des zweiten Abschnitts der, Grund legung“: „Übergang von der populären sittlichen Weltweishei zur Metaphysik der Sitten“ wird sich erst im Verlauf der Ei örterung erklären lassen.

In diesem Abschnitt sucht Kant zuerst darzutun, daß de Begriff der „Pflicht“ (und des darin enthaltenen „Geseßes“ tein auf Erfahrung ruhender, aus ihr abgeleiteter Begri fei. Die Erfahrung bietet uns gar keine sicheren Beispiele vo Handlungen, die nicht nur der Pflicht gemäß, sondern aud aus Pflicht" geschehen sind.

So konnten immer wieder Philosophen auftreten, die das

virkliche Vorkommen folcher Handlungen geleugnet und alle mgebliche Sittlichkeit aus mehr oder weniger verfeinerter Selbstliebe abgeleitet haben. Ja, Kant selbst legt das für eine Sinnesart höchst charakteristische Bekenntnis ab: „Ich vill aus Menschenliebe einräumen, daß noch die meisten unerer Handlungen pflichtmäßig seien; sieht man aber ihr Dichten und Trachten näher an, so stößt man allenthalben auf as liebe Selbst, was immer hervorsticht, worauf, und nicht uf das strenge Gebot der Pflicht, welches mehrmalen Selbsterleugnung erfordern würde, sich ihre Absicht stüßt. Man raucht auch eben kein Feind der Tugend, sondern nur ein altblütiger Beobachter zu sein, der den lebhaften Wunsch für Das Gute nicht sofort für dessen Wirklichkeit hält, um (vornehmlich mit zunehmenden Jahren und einer durch Erfahrung teils gewißigten, teils zum Beobachten geschärften Urteilsraft) in gewissen Augenblicken zweifelhaft zu werden, ob auch virklich in der Welt irgend wahre Tugend angetroffen werde“ Gr. 407).

Aber diese trübe Klarheit über die wirkliche Beschaffenheit der Menschen vermag Kant nicht zu erschüttern in der Überzeugung, daß die Achtung gegen das Geseß der Pflicht jar nicht davon abhänge, ob in der Erfahrungswirklichkeit dies der jenes geschehe. Ihm steht vielmehr fest, daß „die Verunft für sich selbst und unabhängig von allen Erscheinungen d. h. Erfahrungstatsachen] gebiete, was geschehen soll.“ So egt uns die Vernunft Pflichten auf, deren Erfüllung die Welt vielleicht nie gesehen hat und die der leicht als unerfüllbar ansieht, der alles auf Erfahrung gründet. Die Pflicht nämlich als Pflicht überhaupt liegt vor aller Erfahrung in der Idee

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