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Leben wertvoll gestalten können. Das wahrhaft wertvolle und damit richtige Verhalten aber nennen wir das „sittliche“ oder ,, ethische".

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In so enge und mannigfaltige Wechselbeziehung also auch Welt- und Lebensanschauung treten mögen: das philosophische Nachdenken wird nicht verkennen dürfen, daß dort Wirklichkeits-, hier Wertfragen im Mittelpunkt stehen; es wird sie darum auch verschiedenen Teilen der Philosophie zuweisen; jene der umfassendsten Wirklichkeitslehre, der Metaphysik, diese der Lehre vom wert- und sinnvollen Leben, der Ethik.

Wie unser eigenes Leben und Verhalten uns näher angeht, als die uns umgebende Welt, so werden wir es ohne weiteres nicht nur verstehen, sondern auch richtig finden, daß Kant die Probleme der Lebensanschauung noch innerlicher beschäftigten als die der Weltanschauung. Gewiß hat er um deren Beantwortung ebenfalls heiß gerungen. Auch er suchte Antwort zu finden auf die Fragen: was kann ich wissen von Ursprung und Grenzen der Welt und von dem Dasein einer Gottheit; was kann ich hoffen werde ich etwa nach dem Tode fortleben, würde ich dann den Lohn meiner Taten ernten? Aber noch tiefer bewegte ihn die Grundfrage der Lebensanschauung: was soll ich tun? Die Antwort, die er auf diese ethische Frage fand, war ihm auch entscheidend für die Lösung jener metaphysischen Probleme.

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Schon in der Untersuchung“ von 1764 war Kant bemüht, die obersten ethischen Begriffe klarzustellen und den Grund ihrer allgemeinen Geltung zu erfassen; auch in der langen Zeitspanne von 1770 bis 1781, die der Abfassung der „Kritik

er reinen Vernunft" gewidmet war, zielte sein Interesse in eßter Linie (wie manche Briefe zeigen) immer auf die ethischen Fragen, ja bereits im Jahre 1773 schreibt er, daß er sich auf deren Darstellung schon „zum voraus“ freue.

Dadurch, daß die Kritik der reinen Vernunft, in der Wesen, Umfang und Geltung des Erkennens untersucht werden, zuerst von den kritischen Werken erschienen ist und am meisten Beachtung gefunden und geschichtliche Wirkung geübt hat, ist der Anschein entstanden, als liege in ihr das Zentrum des Kantischen Systems, und als sei Kant selbst im wesentlichen ein kühler, lebensfremder wissenschaftlicher Denker. In Wahrheit ist er nicht nur dies, und nicht einmal in erster Linie dies, sondern er ist ein mit dem Leben und seinen Problemen heiß ringender Mensch, der das sittlich gute Handeln weit höher einschätzt als das Erkennen und Wissen. Dankbar gedenkt er einmal Rousseaus, daß er ihn „zurechtgebracht“, daß er ihn von der intellektualistischen Überschäßung des bloßen Denkens befreit habe. Damals sei ihm der Scheinglanz des Wissens verschwunden: „ich lernte die Menschen ehren und würde mich viel unnüßer finden, als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, daß diese Betrachtung allen übrigen einen Wert geben könne, die Rechte der Menschheit herzustellen.“

Also auch die Beschäftigung mit den ethischen Fragen, das Nachdenken über den Lebensfinn hat für ihn nicht lediglich theoretische Bedeutung, es soll ihn nicht nur zur inneren Klarheit führen; es dient vielmehr zugleich dem praktischen Zweck, die Rechte der Menschheit (die ja in seinem Zeitalter despotischer Staatsformen und kirchlicher Bevormundung so vielfach mißachtet wurden) wiederherzustellen.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß auch Leonhard Reinhold, der durch seine „Briefe über die Kantische Philosophie" (1786/87) und seine Wirksamkeit als Professor in Jena Entscheidendes für den Sieg dieser Philosophie in Deutschland geleistet hat, sie vor allem deshalb schäßte, weil sie ihm gegenüber Zweifelsucht und Skeptizismus Sicherung gewährt hatte für seine sittliche Überzeugung und weil er von ihr eine durchgreifende Erneuerung des deutschen Geisteslebens erhoffte. Wenn so ein Zeitgenosse, deffen" Briefe" Kant herrlich" fand, im Sittlichen den Schwerpunkt des Systems erblickte, so werden wir nicht irregehen, wenn wir dasselbe tun, zumal auch Schiller und Fichte von der ethischen Seite her für Kant gewonnen werden'.

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2. Sittlichkeit und Glück

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Die beste Einführung in Kants kritische Ethik gewährt seine 1785 erschienene Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (Ak. IV 385-463). Bei aller Schlichtheit, ja Popularität der Darstellung führt sie in die lehte Tiefe der Probleme hinein; freilich bietet sie für ein wirklich eindringendes Studium mehr Schwierigkeiten, als man zuerst ahnt.

Der erste Abschnitt der Grundlegung" trägt die Über.

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1 R. Reininger, Kant 1923 S. 268 und 286.

Der Ausdruck Metaphysik ist hier in einem anderen Sinne verwendet, als es heute üblich ist, und wir ihn oben gebrauchten. Es wird sich bald Gelegenheit bieten, die Bedeutung des Wortes bei Kant klarzustellen. Vgl. übrigens K. Oesterreich, Kant und die Metaphyfit 1906.

schrift „Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunft. erkenntnis zur philosophischen“. Dem entsprechend ist das Verfahren Kants dieses, daß er das gewöhnliche sittliche Bewußtsein zergliedert, um sein Wesen, das heißt das „oberste Prinzip der Moralität“ klarzustellen. Das moralische Bewußtsein ist ein unbezweifelbar vorhandenes „Faktum, das vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, vorhergeht". Es gilt also, nicht die Sittlichkeit gleichsam erst zu erfinden oder sie zu verändern, sondern den obersten Grundsah, nach dem der schlichte Mensch ohne weiteres zwischen Gut und Böse unterscheidet, zum klaren Bewußtsein zu erheben. Denn die nicht philosophierenden Menschen haben zwar ein Richtmaß ihrer moralischen Beurteilung fremden und eigenen Verhaltens, aber es macht sich nur in instinktiver Form, ihnen unbewußt, in ihrem Beurteilen geltend. Aufgabe der Moralphilosophen ist es, dieses „Richtmaß“, dieses sittliche „ Prinzip“ uns bewußt zu machen und klar zu formulieren.

Wie tief aber das Sittliche in Kant wurzelt, wie es zum innersten Bestand seiner Persönlichkeit gehört, verrät sich in seinen ethischen Schriften auch darin, daß er es nicht gleichsam von sich loslöst und zum bloßen Gegenstand rein erkennender Untersuchung macht, sondern daß er unwillkürlich zugleich als sittlicher Bekenner auftritt. Ihm ist es gleichsam undenkbar, daß jemand zur Einsicht in das Prinzip der sittlichen Beurteilung und damit in das Wesen des Sittlichen gelangen und dabei doch für seine Person unmoralisch bleiben könnte. So beginnt Kant denn die „Grundlegung" mit einem wundervollen Saze, der ebenso ein beherrschendes Werturteil des all

gemeinen sittlichen Gefühls wie eine persönliche Überzeugung Kants ausspricht: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden als allein ein guter Wille."

Daß einzig und allein der „gute Wille", das heißt der Wille zum sittlichen Guten „ohne Einschränkung“ (das ist: ausnahmslos, schlechthin, absolut) „gut“ oder wertvoll sei, sucht Kant darzutun, indem er ihn mit anderen Werten vergleicht und zeigt, daß sie alle unter Umständen auch zum Schlechten gewendet werden können. So werden innere wie äußere Gaben: Verstand, Mut, Beharrlichkeit, Macht, Reichtum, Ehre, von einem unmoralischen Menschen nicht selten in den Dienst schlechter Zwecke gestellt. Auch das Glück (im Sinne des Wohlergehens) kann den Menschen übermütig machen; ebenso wird ein unparteiischer Zuschauer „am Anblick eines ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das keinen Zug eines reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben können“. Man wird also auch das Glück nicht „ohne Einschränkung für gut“ halten dürfen. Noch weniger wird man der verbreiteten Ansicht beistimmen, daß Glück die eigentliche Bestimmung des Menschen sei. Denn wäre der Mensch lediglich dazu mit Vernunft begabt, um sich das Glück zu erringen, so hätte uns die Natur einer sehr „schwachen und trüglichen Leitung“ unterstellt; viel besser hätte sie uns dann lediglich mit Instinkt ausgestattet, mit jener rätselhaften Gabe, zweckmäßig zu handeln ohne Bewußtsein des Zweckes, die wir an den Tieren bewundern.

Indem Kant es so ablehnt, im „Glück“ den obersten Wert

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