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vollendet zu sehen; obwohl ich mir der Tunlichkeit dieser Aufgabe bewußt bin: ein tantalischer Schmerz, der indessen doch nicht hoffnungslos ist.“

Das Werk, von dem er hier spricht und an dem er in seinen leßten Lebensjahren mit Aufbietung aller seiner Kräfte arbeitete, sollte eine Lücke in seinem System schließen, es sollte den „Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik“ darstellen. Der Plan, dieses Verbindungsglied zwischen der rein apriorischen Naturphilosophie und der empirischen Naturwissenschaft herzustellen, geht — wie Äußerungen in Briefen zeigen - bis in den Anfang der neunziger Jahre zurück. Ein erster Entwurf stammt aus dem Jahr 1796; seit 1797 hat Kant regelmäßig daran gearbeitet. Später erweiterte sich der Plan: er sollte nunmehr das ganze System der reinen (das heißt: von Erfahrung unabhängigen) Vernunft umfassen und die ursprüngliche Arbeit in dieses System als ein Teil eingefügt werden. Es sollte Gott, die Welt und den Menschen als Bindeglied beider behandeln. Die Aufzeichnungen hierüber, die besonders das Gottesproblem betreffen, stammen aus der Zeit von etwa Dezember 1800 bis mindestens Ende April 1803.

Über dieses Alterswerk hat Kant selbst sehr schwankend geurteilt; gelegentlich hat er davon als von seinem wichtigsten Werk oder chef d'œuvre gesprochen; „bald glaubte er, es bedürfe nur noch der lezten Feile, bald wollte er, daß es nach seinem Tode verbrannt werden sollte".

Größere Teile sind davon erst 1882-1884 von Rudolf Reide in einer wenig verbreiteten Zeitschrift, der „AltMesser, Kant

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preußischen Monatsschrift“, und zwar in sehr mangelhafter Weise veröffentlicht worden. Eine streng wissenschaftliche Ver öffentlichung der ganzen Handschrift, die etwa tausend Druck seiten füllen würde, erscheint geboten. Die wichtigste Vor arbeit dafür durch Scheidung und Datierung der einzelnen Ent würfe hat Erich Adickes geleistet in seinem Buche „Kanti opus postumum, dargestellt und beurteilt" (Berlin 1920). G ist auf Grund genauester Prüfung der gesamten Aufzeich nungen mit Entschiedenheit und überzeugenden Nachweiser der von Kuno Fischer vertretenen Ansicht entgegengetreten alle jene Aufzeichnungen seien infolge der Altersschwäch Kants ohne Wert. Er gibt zu, daß Alterserscheinungen, zu mal in den Niederschriften der allerleßten Jahre, stark hervor getreten, besonders im Ausdruck und in der Darstellung. Abet er urteilt: „Sein bohrender Scharfsinn und sein eigene Wege wandelnder Tiefsinn sind erhalten geblieben. Natürlich auch sie nicht unverkürzt! Aber was sie an neuen Gedanken zutage fördern, bleibt doch auch jezt noch immer sehr beachtenswert" (a. a. D. Nr. 853). Es gilt dies für Kants Versuch, der Bereich der apriorischen Erkenntnis weiterzuspannen als in der Kritik der reinen Vernunft, für Erörterungen des Ding an-sich- und des Gottesproblems und für eine Umgestaltung des Übergangs von der Moral zum Gottesglauben. Gedanken," so betont Adickes, „deren Verbreitung und Ver körperung in Buchform Kant so sehr wünschte, bezeugen doch auch in dem ärmlichen Gewand, in das er sie notgedrungen kleiden mußte, noch ihre königliche Herkunft.“

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Wohl nur durch die während mehr als dreißig Jahre ge übte äußerste Regelmäßigkeit seiner Lebensweise hat es Kant

erreicht, ein so hohes Alter zu erleben. Sein kaum fünf Fuß (1,54 m) messender kleiner und überaus magerer Körper war sehr schwach, aber seine Gesichtsfarbe war noch im Alter von gesunder Röte; er bedürfte auch nie einer Brille, wenngleich das eine seiner ausdrucksvollen blauen Augen ihm in den lezten zwanzig Jahren den Dienst versagte. Der Verfall seiner Körper-und Geisteskräfte vollzog sich ganz allmählich. Einen hingebenden Freund und Helfer fand er seit 1790 an dem Geistlichen Christoph Wasianski, der in den siebziger Jahren sein Hörer gewesen war. Ihm übertrug Kant November 1801 auch die Verwaltung seiner häuslichen Angelegenheiten. Er mußte übrigens den alten Martin Lampe, der vierzig Jahre in Kants Dienst gewesen war, Ende Januar 1802 entlassen, weil er die Güte seines Herrn mißbrauchte und sich überdies dem Trunke ergab. Kant, dessen früher ausgezeichnetes Gedächtnis damals völlig versagte, konnte diese Trennung von Lampe offenbar nicht vergessen, obwohl er einen verständigen und anstelligen neuen Diener fand; denn er schrieb sich in sein Merkbüchlein: „Der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden."

Am 22. April 1803 wurde zum letztenmal Kants Geburtstag, der neunundsiebzigste, im Kreise aller seiner Tischfreunde gefeiert; aber er war von der jezt ungewohnten zahlreichen Gesellschaft wie betäubt. Als ihn am 1. August 1803 sein Schüler und Freund Jachmann besuchte, konnte ihn Kant nicht mehr erkennen. Da er immer hinfälliger wurde, zog seine einzige noch lebende Schwester, die zwar nur siebeneinhalb Jahre jünger als er, aber noch sehr rüstig war, zu ihm und pflegte ihn mit großer Geduld, Sanftmut und Zärtlichkeit. Die leßten

Monate seines Lebens waren ein langsames Erlöschen. In Dezember konnte er seinen Namen nicht mehr deutlich schreiben Er verlor sein früher scharfes Gehör und sein Sprechen wurd unverständlich. Vom 3. Februar 1804 ab aß er so gut wi nichts mehr. Als ihn an diesem Tage sein medizinische Kollege Elsner, der damals Rektor war, besuchte, wolli Kant sich nicht eher sehen, als bis sein Besucher sich nieder gelassen; er bemerkte dabei: „Das Gefühl für Humanită hat mich noch nicht verlassen." Am 12. Februar 1804 ist e mittags um elf Uhr entschlafen — wie die Todesanzeige seine Mitbürgern bekanntgab: „ohne vorhergegangene Krankheit a der eigentlichen Entkräftung vor Alter“. Erst am 28. Febru trugen Studenten den verehrten Toten feierlich zu Grabe.

Eine Persönlichkeit, deren Leben in stillem Heroismus ganz in den Dienst der Geistesarbeit gestellt war, kann ma nur würdigen, wenn man ihr Lebenswerk überschaut. Es i seine „kritische Philosophie“.

Zweites Kapitel

Kants Philosophie des Sittlichen

1. Kants sittliche Lebensanschauung als Grundlage seiner Weltanschauung

Den Begriff „Philosophie“ kann man kurz als Streben nach einheitlicher Welt- und Lebensanschauung erklären.

Man pflegt die Worte „Weltanschauung“ und „Lebensanschauung" oft als gleichbedeutend zu gebrauchen. Aber man kann in Anlehnung an den ursprünglichen Wortsinn zwischen ihnen auch unterscheiden. Man wird dann unter „Weltanschauung“ die umfassendsten Ansichten über das Weltganze, über den Gesamtbestand der Wirklichkeit verstehen. Fragen, wie die, ob ein Gott existiere, ob es Unsterblichkeit und Freiheit des Wollens gebe, gehören insofern zu den Weltanschauungsfragen.

„Lebensanschauung“ dagegen bezeichnet die Überzeugung vom Sinn des Lebens. Das Leben wie überhaupt alles Geschehen hat aber nur dann „Sinn", wenn Wertvolles darin zur Verwirklichung gelangt. So gibt uns denn eine Lebensanschauung vor allem Antwort auf die Frage, wie wir durch unser ganzes Verhalten, durch unser Tun und Lassen unser

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