Page images
PDF
EPUB

Gelegenheit für die Prinzipien der französischen Revolution ein. Noch in der Zeit der Reaktion, da jeder, der sie nicht verurteilte, in den Geruch eines „Jakobiners“ kam, ließ sich Kant nicht abschrecken, „an den vornehmsten Tafeln der Revolution das Wort zu reden". Sie bestärkte ihn auch ganz besonders in seiner Zuversicht auf einen Fortschritt der Menschheit.

Ein Mittagsschläfchen gönnte er sich grundsäßlich nicht; er machte vielmehr bald nach dem Essen regelmäßig einen etwa einstündigen Spaziergang, in den späteren Jahren meist allein, um seinen philosophischen Gedanken ungestörter nachhängen zu können. Er ging langsam, den Kopf etwas zur Erde und zur Seite geneigt; gelegentlich sette er sich auf eine Bank, um sich Gedanken zu notieren. Beim Spazierengehen, so erzählte er, seien ihm die Hauptgedanken seiner Kritik der reinen Vernunft gekommen.

Wenn er vom Spaziergang nach Hause kam, erledigte er etwa nötige häusliche Angelegenheiten und beschäftigte sich mit eingegangenen literarischen Neuigkeiten, Zeitschriften und Zeitungen. Besonders in aufgeregten politischen Zeiten - wie in der Periode der französischen Revolution las er die | Zeitungen „heißhungrig“. Lieb war ihm auch die Lektüre von Reisebeschreibungen, naturwissenschaftlichen oder hygienischen Schriften. Um zehn Uhr abends, erst in seinen lezten Jahren um neun Uhr und früher, ging er regelmäßig zu Bett. —

Kants „kritische" Philosophie hatte zwar bald lebhafte Beachtung gefunden, aber zunächst überwogen in den literarischen Äußerungen darüber Verwunderung, Mißverstehen, Ablehnung-wenigstens unter den Philosophen „von Fach“ und den populär-philosophischen Schriftstellern. Das jüngere

Geschlecht dagegen wandte sich Kants Philosophie, zumal ihrem sittlich-religiösen Gehalt begeistert zu. Am stärksten für ihr Verständnis und ihre Verbreitung wirkten die Briefe über die Kantsche Philosophie, die der frühere Mönch Leonhard Reinhold (geboren 1758 zu Wien) im Winter 1786/87 in Wielands „Teutschem Merkur“ und 1796 umgearbeitet in Buchform erscheinen ließ. Kant selbst hat darüber in einem Aufsaß „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie" in derselben Zeitschrift 1788 (At. VIII 157 bis 184) sich in einer Weise geäußert, die zeigt, wie willkommen ihm eine solche populäre Darstellung seiner Philosophie war. Er schreibt: „Das Talent einer lichtvollen, sogar anmutigen Darstellung trockener abgezogener [das ist abstrakter] Lehren ohne Verlust ihrer Gründlichkeit ist so selten ... und gleichwohl so nüßlich, ich will nicht sagen bloß zur Empfehlung, sondern selbst zur Klarheit der Einsicht, der Verständlichkeit und damit verknüpften Überzeugung

daß

ich mich verbunden halte, demjenigen Mann, der meine Arbeiten, welchen ich diese Erleichterung nicht verschaffen konnte, auf solche Weise ergänzt, meinen Dank öffentlich abzustatten“ (183).

Ein äußeres Zeichen dafür, wie der Ruhm Kants wuchs, liegt darin, daß seit Mitte der achtziger Jahre sein Briefwechsel sich stark vermehrte. Selbst ganz Unbekannte wandten fich an ihn, und zwar nicht nur in philosophischen Fragen, sondern sogar in rein persönlichen Angelegenheiten. Auch im Ausland wurde man auf seine Philosophie aufmerksam, und die Akademien zu Petersburg und zu Siena ernannten ihn zu ihrem Mitglied.

Indessen Ablehnung und Gegnerschaft machten sich ebenfalls

bemerkbar und erstarkten rasch. In den katholischen Gebieten Deutschlands neigte man von vornherein meist dazu, in Kants Philosophie ein „gefährliches System" zu erblicken, das zum Skeptizismus führe; aber auch in Marburg wurden 1786 aus demselben Grunde einem Anhänger Kants, Professor Bering, Vorlesungen über dessen Philosophie untersagt. Solche Gegenwirkungen mußten wachsen, je mehr jene gefühlsmäßige, auf religiös-mystischen Strömungen ruhende Abwendung von der „Aufklärung“ sich ausbreitete, die im Geistesleben zur Romantik, auf dem politischen Gebiet zur Reaktion unter dem Nachfolger Friedrichs des Großen führte. Bereits im Oktober 1783 meldet ein Anhänger aus Berlin Kant: „Die Schwärmerei wandelt schon mit mächtigen Schritten heran." Auf Kants Bitte um nähere Mitteilung schreibt er ihm im März 1784, unter „allen möglichen Gestalten und Konnexionen“ treiben die Jesuiten ihr Wesen; an Geisterbannerei und Goldmacherei glaube man in den vornehmsten Berliner Kreisen; eine „sehr große Person in Potsdam“ (der künftige Thronfolger, der 1781 in den Orden der „Rosenkreuzer“ eingetreten war) ge= höre diesen Kreisen an; eine geheime Gesellschaft (eben die ,, Rosenkreuzer") arbeite der Aufklärung als vermeintliche „Atheisterei“ und „Werk des Teufels" entgegen. Möchte doch der große König (Friedrich II.) noch zwanzig Jahre leben können! Kant aber solle seine Feder für die Sache der Vernunft und der Menschlichkeit führen.

Aus diesem Zusammenhang heraus wird es auch verständlich, daß ein literarischer Streit zwischen dem Aufklärungsphilosophen Mendelssohn und dem Gefühls- und Glaubens

philosophen Friedrich Heinrich Jacobi (Düsseldorf) seit Herbst 1785 die gebildeten Kreise Deutschlands etwa zwei Jahre lang in Spannung hielt. Die Sache der Aufklärung wurde besonders geführt von Biesters „Berlinischer Monatsschrift“, die Gegenseite vertraten außer Jacobi auch Hamann und Herder. Kant, der weder mit Mendelssohn noch mit den „Jacobiten" ganz einig war, äußerte sich, zur Entscheidung des Streites aufgefordert, Oktober 1786 in der Berliner Monatsschrift in dem Aufsaß: „Was heißt sich im Denken orientieren?" Er wandte sich darin warnend an die „Männer von Geistesfähigkeiten und erweiterten Gesinnungen“ (Jacobi, Herder u. a.): sie möchten nicht durch ihre unbesonnenen Angriffe die Freiheit des Denkens gefährden. Das „einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lastern noch übrig bleibt“, denn „Schwärmerei“ und „Erleuchtung“ würden schließlich zum Aberglauben oder zur völligen Gesetlosigkeit im Denken und Wollen führen.

Der Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II. (1786) brachte zunächst keine Änderung. Ein Freund konnte im Dezember 1787 aus Berlin an Kant melden: „Noch herrscht hier dieselbe Denk- und Preßfreiheit.“ Aber am 3. Juli 1788 wurde der orthodore Theologe Johann Christoph Wöllner von dem König aus „besonderem Vertrauen“ an Stelle von Zedlih zum Justizminister und Chef des geistlichen Departements ernannt. Friedrich II. hatte einst Wöllner in einer Randbemerkung als „betrügerischen und intriganten Pfaffen, weiter nichts" charakterisiert. - Schon am 9. Juli erschien ein Religionsedikt, in dem es hieß, daß sogar Lehrer des lutherischen und kalvinischen Glaubens die Grundwahrheiten

der Heiligen Schrift zu untergraben versuchten und unter dem falschen Schein der Aufklärung in unverschämter Weise zahllose Irrtümer verbreiteten. Ein Zensuredikt vom 19. Dezember 1788 stellte alle in Preußen verfaßten Schriften unter strenge Kontrolle, um „der Zügellosigkeit der jetzigen sogenannnten Aufklärer“ und der in „Preßfrechheit ausartenden Preßfreiheit“ die nötigen Schranken zu sehen.

Im September 1791 ließ Kant in Biesters Monatsschrift einen Auffah erscheinen: „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“, in dem er deutlich auf den Gewissenszwang anspielt, den Wöllner durch ein im Dezember 1790 erlassenes „Examenschema“ auf alle Theologiekandidaten auszuüben suchte. „Wie bald", bemerkte Kant, „solche blinde und äußere Bekenntnisse, wenn sie Erwerbmittel abgeben, allmählich eine gewisse Falschheit in die Denkungsart selbst des gemeinen Wesens bringen können, ist leicht abzusehen."

Zu der religiösen gesellte sich die politische Reaktion unter dem Eindruck der Ereignisse in Paris, besonders des Prozesses und der Hinrichtung Ludwig XVI. und der Schreckens3 herrschaft der Jakobiner. Von den Verfechtern der Reaktion, die in Preußen jezt im Besiß der Macht waren, wurden nunmehr alle, die (wie auch Kant) den Grundideen der französischen Revolution zustimmten, als „Jakobiner“ und „Umstürzler" angesehen. Als Kant seine Abhandlung „Von dem Kampf des guten Prinzips mit dem bösen um die Herrschaft im Menschen" 1792 in Biesters Monatsschrift veröffentlichen wollte, verbot die Zensur den Druck. Kant ließ fie dann als zweiten Teil seines Buches Religion innerhalb

« PreviousContinue »